Ernst Kossak
Historietten
Ernst Kossak

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Tag und Nacht.

1.

Platon sagt an einer Stelle, daß wir armen Sterblichen mit unserer Erkenntniß der Wahrheit nur unglücklichen Gefesselten zu vergleichen seien, die mit dem Rücken gegen das Licht in einer Höhle sitzend, von den Dingen der Welt nichts erkennen könnten, als die unbestimmten Schatten der Vorüberziehenden, wie sie von den draußen flackernden Flammen auf die Wand der düstern Höhle geworfen werden. Das poetische und tiefsinnige Urtheil des herrlichen Weisen in Ehren gehalten, glaube ich doch, daß der Mensch, nach gewissen Seiten seines Wesens hin, bestimmtere Wahrnehmungen hat, als uns der Nachfolger des Socrates glauben machen will. Das Gehör namentlich scheint mir vom Schicksal auserlesen zu sein, mit weit größerer Genauigkeit als die übrigen Sinne das Weh des Lebens in sich aufzunehmen, was augenscheinlich aus dem auf den Gesichtern der Stocktauben tief schlummernden Frieden hervorgeht. Ich will hier nicht untersuchen, was aus der Menschheit geworden wäre, wenn sie niemals hätte hören können; es genügt vollkommen zu wissen, was aus ihr geworden ist, nun sie von jeher hat hören können. Alle Bronnen des Wohles und Wehes ergießen sich durch das Ohr und ich habe mich in meiner Verzweiflung schon oft gefragt, was es doch 188 für eine unbegreifliche Grausamkeit der Natur sei, daß zwar das Auge, aber nicht das Ohr eine Nacht habe.

Niemand antwortet auf solche Fragen, die Sonne geht auf und unter, über unser Auge deckt der Schlummer einen weichen Mantel, aber des Menschen Ohr steht offen, wie ein erstürmtes Thor; es hat keine Lider, es hat keine Wimpern. Das Ohr ist wie eine südliche Straße im Fasching; alle Narren haben Erlaubniß, sich darin lustig zu machen. Um aber auf die Höhle des Plato zurückzukommen, werden wir zwar Alle von der Wahrheit ihrer Schilderung überzeugt sein, wenn wir jedoch prüfen, was wir in dieser unserer Lebenshöhle hören, so kommen wir zu dem Resultat, daß Plato sein schönes Gleichniß nur erfinden konnte, weil es überhaupt zu seiner Zeit und im ganzen Alterthum stiller in der Welt war. Kanonen und Glocken, die Einen wie die Andern die ultima ratio regum, waren noch nicht erfunden. Nürnberg war noch nicht erbaut; also hatte Denner auch noch nicht die teuflische Clarinette ersonnen.

Es gab keine Schüler von Garcia und Bordogni, um zu Hause Tonleitern und Solfeggien zu üben, die Geschichte schweigt von den Droschken zu Athen, man baute keine Treppen aus Holz und die Schuljungen trugen keine Hufeisen an den Stiefeln, sondern nur Sandalen, man lebte auf der Straße und in Hainen, deshalb behelligten Niemandes Ohr zwanzig knarrende ungeschmierte Thüren – es war jedenfalls stiller zu Platon's Zeit. Wollten die Alterthumsforscher sich einmal von ihren theoretischen Untersuchungen einige Augenblicke für diesen praktischen Stoff abmüßigen, es müßte eine schöne, eine erfreuliche Auseinandersetzung werden. Vielleicht entschließt sich einer unserer berühmten Akademiker zu einem mehrbändigen Werke über den Straßenfrieden im Alterthum.

Der moderne Mensch besitzt etwas, wovon man in der Blüthe Griechenlands vermuthlich gar keine Vorstellung gehabt hat; dieses etwas heißt Nachbarschaft. Um nun auseinanderzusetzen, wie unglücklich die heutige Welt durch 189 diesen verderblichen Zuwachs geworden ist, habe ich mich entschlossen, diejenigen Eindrücke, welche ich, in meiner Höhle von Studirstube sitzend, durch die Nachbarschaft empfange, in der Hoffnung aufzuzeichnen, daß andere nachdenkende und schreibende Menschen Aehnliches mit gleicher trauriger Bestimmtheit wahrgenommen haben.

Wenn ich mich des Morgens um sieben Uhr an meinen Schreibtisch setze, so ist es oft ganz stille, wenn ich das Geräusch einer zufällig über Nacht eingesperrten und nun nach Freiheit strebenden Brummfliege ausnehme. Da dieses Thier eben so sehr als ich nach frischer Luft lechzt, öffne ich das Fenster und genieße die noch nicht von den chemischen Ausscheidungen des Tages verfälschte Atmosphäre. Aber der Genuß des einen Sinnes wird stets mit dem Leiden eines andern bezahlt. Alsobald höre ich den ersten Milchkarren, das Klappern der Blechkannen, das Niederfallen eines Maaßes, das Fluchen des Milchmannes und wie sonst das ganze Ensemble heißen mag. Nicht lange darauf fällt der Reflex des Sonnenlichtes auf meine Wand und zugleich beginnt das Geklimper in dem nahe gelegenen Klempnerkeller. Wahrscheinlich fällt derselbe Lichtreflex auch in die Kellerhöhle meines Nachbars und er hat sich das Erscheinen desselben zum Zeichen des Arbeitsanfanges festgesetzt. Der ägyptische Memnon war aber bei Sonnenaufgang nicht pünktlicher auf seinem Flageolet, als mein blechbearbeitender Nachbar. Dieses Geräusch verläßt mich nun bis zum Sonnenuntergang nicht mehr, sondern begleitet meine Arbeiten als ihr unzertrennlicher Freund. Für gewöhnlich ist es nur so stark, daß ich mich daran gewöhnt habe, aber wenn mein Nachbar Gießkannen anfertigt, dann mußte ich schon oft in stummer Verzweiflung mein Haupt auf den Tisch legen. Wer die Gießkannen in ihrem stillen ländlichen Berufe zu beobachten Gelegenheit hatte, weiß nicht, welcher Korybantenlärm bei ihrer Geburt geherrscht hat. Die Rüstung des Achilleus kann bei ihrer Anfertigung nicht mehr Spektakel erfordert haben, als eine solche Gießkanne; eine 190 Laterne, ein Blechdeckel, eine Kaffeemaschine sind dagegen nur sanfte Instrumente. Bald nachdem mein Freund an den Erwerb seines täglichen Brotes gegangen ist, beginnt auch meine unbekannte Freundin die Präparationen zu dem Ihrigen. Wer ist meine Freundin? Eine Frauensperson, die ich nie gesehen, sondern nur gehört habe, weshalb ich mir von ihr eine Menge düsterer Bilder entwerfen mußte. Sie stößt den ganzen Tag hindurch, mit alleiniger Ausnahme der Stunden, in denen sie ißt und verdaut, unartikulirte, langgehaltene Töne aus, welche das Eigenthümliche besitzen, daß ich davon leise Schmerzen im Leibe bekomme und zugleich die ungerechtfertigte Vorstellung nicht los werde, daß auch ihr dabei etwas weh thun müsse. Wie unwahrscheinlich diese hypochondrische Ansicht ist, geht daraus hervor, daß sie nun schon Monate lang stets dieselben Töne ausstößt, ohne daß ich eine Verminderung ihrer Kraft, die doch bei schmerzlichen Nebenumständen unvermeidlich wäre, bemerken kann. Ich habe aber dieses Frauenzimmer in Verdacht, daß sie sich für das Theater ausbildet und bei irgend einem Gesanglehrer für anderthalb bis zwei Thaler die Stunde Unterricht genießt, weil sie nicht über die Anfangsgründe hinauskommt.

Zwischen acht und neun Uhr beginnt die Karavane der Schulkinder ihren Vorbeimarsch unter meinem Fenster. Sie klatschen mit Peitschen, sie johlen, sie stoßen einander gegen Hausthüren, schlagen mit Schiefertafeln auf kameradschaftliche Köpfe, necken die Milchhunde und schimpfen sich aus. Da sie in die Schule gehen, verzeihe ich ihnen viel; aber ich beklage doch noch mehr ihre Schulmeister. Sind nun die größeren Kinder nach dem Laut des Gesetzes untergebracht, so treten die kleineren Kinder mit ihrem Spektakel in die Welt der Erscheinung. Um halb zehn Uhr höre ich, wie ein kleines Mädchen, ein wahrer Wechselbalg unter Heulen und Zetern von ihrer Mama die Treppe hinaufgeführt wird. Dieses kleine Monstrum belustigt sich den Tag über mit Erklettern von Tritten, 191 Waschgefäßen, Handwägen und Ecksteinen. Auf dem Gipfel angelangt, fällt es stets herunter, ohne sich aber jemals Schaden zu thun. Nichts desto weniger verfehlt es nie, ein durchdringendes Geschrei auszustoßen. Nach einer mäßigen Berechnung schreit dieses Geschöpf an jedem Tage zwei bis drei und eine halbe Stunde. Ein anderes Kind männlichen Geschlechtes aus der Nachbarschaft hat triftigere Gründe, Schmerzenslaute auszustoßen. Wenn dieser Knabe nicht eine besondere Organisation besitzt, so muß im Allgemeinen das menschliche Fell eine größere Widerstandskraft haben, als die Philanthropen für gewöhnlich anzunehmen geneigt sind; aber auch die Frauen müssen eine bedeutendere Muskelkraft und Ausdauer besitzen, als sie selber einzuräumen pflegen. Wie das Vormittagsdasein dieses Sohnes nichts ist, als ein unausgesetztes Umwerfen von Stühlen und Fußbänken, oder ein schwindelfreies Hinaushängen von drei Vierteln seiner Persönlichkeit zu einem Fenster des dritten Stockes nebst lang herausgestreckter Zunge; so ist das gleichzeitige Dasein seiner Mutter nur ein unterbrochenes Walken seiner Haut mit klatschenden Instrumenten. Da man im Sommer bei offenen Fenstern lebt, so entgeht mir kein Ton dieser kontrapunktisch behandelten Melodien einer siebenjährigen Knabenstimme. Nun entwickeln allmählich die ambulanten Gewerbe ihre Stimmen, die Bötticher lassen sich mit ihrem eintönigen Klippsignal vernehmen, ebenso die Scheerenschleifer mit ihrem melancholischen Laut und widrigen metallischen Zirpen, die verschiedenen Obstsorten werden ausgerufen, dann Klammern, dann bietet ein wehmüthig wieherndes Weib Schaafmilch aus und dazwischen kommt mir der Hahn in dem nahen Hofe mit seinem regenkündenden Krähen, wie eine holde Stimme aus der fernen wohlklingenden Natur vor. Das Entsetzlichste steht mir gegen Mittag bevor: der Wagen mit den Eisenstangen, die er regelmäßig um diese Stunde in ein nahes Geschäft bringt. Ueber diesem ehernen Zusammenschmettern zerreißen alle Fibern der Gehirnmasse und die 192 Gedanken fliegen auseinander wie ein Volk von Rebhühnern, wenn darunter geknallt wird. Ach, es giebt nur eine Polizei gegen öffentliche Beleidigungen des Auges; das Ohr ist vogelfrei, ein excommunicirter Sinn, ein armer Tropf, den jeder Elende verhöhnen, jeder Mächtigere knechten kann. Alle Philosophie der Welt wird das menschliche Ohr gegen diese Eisenstangen nicht zu stählen vermögen!

Gegen Mittag tritt, nachdem noch der Lärm der heimkehrenden Schulkinder überwunden ist, eine auffallende Verminderung des nachbarlichen Spektakels ein; die Nahrung beschäftigt die Menschen und auch Nachmittags lähmt die Verdauung ihre Neigung zu Geräusch. Einige rasselnde Wagen, ein vorübertrabender Reiter fallen nicht mehr in's Gewicht. Die Erfahrung hat indessen festgestellt, daß diese Erholungspause im Völkerleben nur einer abermaligen ungeheuren Aufwallung vorangeht. Von vier Uhr Nachmittags an bis in die sinkende Nacht wird die Reihe der ohrenzerreißenden, nerventödtenden Geräusche nicht mehr unterbrochen. Es war eine spielende Redensart des Dichters, wenn er sagte: »Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht – vor dem freien Manne erzittre nicht!« Vor dem Schuljungen erzittre – zittre um vier Uhr – wenn er die Kette Zumpt's und Buttmann's gebrochen hat! zittre Byzantium, wenn diese Bande herausgelassen wird! zittre dreimal – neunmal, wenn eine Stadtschule geöffnet wird! Eine halbe Stunde lang ist die ganze Straße mit diesem grimmen Volk bedeckt, dann verschwinden sie, die Tornister, die Bücher, die Tafeln werden in den Winkel geschleudert, das Vesperbrod verschlungen und dann betritt ein Jeder von ihnen mit dem berühmten historischen Motto: »Die Straße gehört mir!« sein Eigenthum. Gute Nacht, Schularbeit – gute Nacht aber auch, meine Arbeit! was für große Stimmen können kleine Knaben haben!

Jetzt erhebt die Freundin vom Theater auch wieder ihre Stimme, der Klempner schlägt darauf los, bei dem 193 schönen Wetter wird jede leer vorüberfahrende Droschke angeschrieen, der Packwagen von der Eisenbahn ist mit einigen sechzig Centnern angekommen und ladet mehrere krachende Kisten ab, und eine Fuhre mit Mauergerüsten wird zum Ueberfluß herangefahren. Der Skandal steht im Zenith; ärger kann es nicht werden. Zum Glück wird von einem talentvollen Knaben ein alter Trunkenbold in der Seitengasse entdeckt. Um diesen Herrn gruppirt sich bis zum Einbruch der Nacht die künftige Generation. Es gelingt mir wirklich etwas Fassung zu erringen. Ich zünde die Lampe an und nehme meine Bücher vor, abgehärtet gegen das Klavier, das über meinem Haupte mit seinen rostigen Zähnen klappert; es wird stiller – es wird sogar einen Augenblick ganz stille – der Wächter schließt die Häuser – eine Liebende spricht zum Fenster hinaus mit »Ihm« – der Vater schreckt sie hinein – sollte es jetzt wohl ruhig bleiben, nun der Mond leise herauskommt und die Stirnen der Häuser versilbert? Nein – ich habe seine Flöte vergessen, die unselige Flöte der Mitternacht, des Schneidergesellen oft abgebildete, oft gehörte und verwünschte asthmatische Flöte – zwölf Uhr und noch nicht das Letzte, was sich die Nachbarschaft erzählt? Da kommt ja wohl ein kolossaler Wagen? Oh, daß wir uns nicht allein die Ohren, sondern auch die Nasen zuhalten müssen!

2.

Mein Schlafzimmer geht auf einen kleinen Hof mit dahinterliegendem Garten hinaus. Eine ziemlich hohe Mauer trennt diese freundliche Stelle von einem mit hohen und schönen Lindenbäumen besetzten Platze, der zu einem 194 zweideutigen Vergnügungslokale gehört. Im Winter, Frühjahr und Herbst hört man nur wenig von dem bacchantischen Jubel, die schrille Trompetenmusik, der heisere Ruf des Maitre du Plaisir und der Lärm der Tanzenden werden durch die Entfernung, die Mauern, die hohen erleuchteten Fenster des Pavillons gedämpft. Im Sommer thun sich seine Pforten auf und die Odalisken mit ihren gläubigen Verehrern verlassen den Kiosk, um sich unter den Linden abzukühlen.

An einem der gewitterschwülen Spätabende im Anfange des Juli hatte ich bis in die Nacht hinein gearbeitet. Die offenen Fenster meines nach der Straße hinaus gelegenen Zimmers ließen keine anderen Laute zu mir herein, als den hohlen Klang der schweren Wächtertritte und das leise und unheimliche Flüstern der Nachtlüfte; es war Schlafenszeit. Ich stand vom Schreibtisch auf und begab mich in die hinteren Zimmer. Aber der Schlaf, der treuste Freund des Menschen, wollte von mir nichts wissen; er flieht alle diejenigen, welche ihn wegen der Erbärmlichkeiten des Lebens vernachlässigen. Lange saß ich auf meinem Lager, beschäftigt mit den peinigenden Gedanken, welchen der Mensch um die Zeit der Nacht verfällt, wo seine Urtheilskraft ruht, als der Lärm in dem angrenzenden Garten nach und nach meine Aufmerksamkeit fesselte. Schon oft hatte ich diesen Spektakel gehört und mich an ihn, wie der Müller an das Rauschen des Baches und das Klappern der Mühle gewöhnt, obgleich der Besitzer des Lokals, als der eigentliche Müller, den glänzendsten Vortheil von dem Rauschen der Lust und dem Klappern der hohlen Bubenköpfe zog – aber diesmal überstieg der Lärm das Maaß des Gewöhnlichen. Die elektrische Spannung der Luft, die den Schlummer von meinen Augen scheuchte, schien die obscöne Gesellschaft aufzustacheln; es zuckte und fuhr in dem Garten auf und ab, wie die leichten Körper unter dem Conductor der Elektrisirmaschine. Noch niemals habe ich Achtung gegeben auf dieses Spiel der Maden in der verwesenden Gesellschaft; jetzt spürte 195 ich allmählig, wie die rohen, scharfen und schneidenden Laute Eindrücke in meiner Phantasie hinterließen und wie diese Gestalten zu der bestialischen Musik schuf. Ganz in gleicher Art pflegen wir, wenn in ruhigen Abendstunden der Wind die Klänge wohlgestimmter Instrumente über Feld und Wald in unseren ländlichen Aufenthalt weht, den Ort, woher der Schall kommt, mit lieblich gestalteten fröhlichen Menschen zu bevölkern oder an dem Licht eines strahlenden Sternes emporzuklettern bis zu dem poetisch ausgemalten Aufenthalte glücklicher organisirter Creaturen. Alles, was uns allein durch das Ohr zukommt, ohne daß wir die mechanischen oder organischen Tonwerkzeuge sehen, hinterläßt einen tieferen Eindruck im Gemüthe, weshalb wohl die Tauben, die nichts Gutes und nichts Böses hören, so friedfertige und stille Gesichter haben, wie die – Todten.

Das Fenster meines Schlafzimmers stand weit offen, aus dem hell erleuchteten Garten fielen durch die stark belaubten Aeste kleine grelle Streiflichter auf die Wand an meinem Bette; ich richtete mich auf und lauschte. Niemand wird es tadelnswerth finden, wenn auch einmal die Geheimnisse des wirklichen Lebens belauscht werden, wie die allabendlichen Intriguen auf den Brettern. Zuerst vernahm ich eine tiefe Männerstimme, zu der ich mir einen dicken Burschen mit aufgerissener Weste und feistem Stierhalse dachte, einen Burschen vom Lande, der sein Erbtheil in der Stadt durchbringt. Es war eine Stimme, die wie ein Hafendamm auf einem sicheren Pfahlwerke, so auf einem Rost zahlloser ausgetrunkener Biertonnen ruht. Alle reicheren musikalischen Fasern waren von diesem Organe längst heruntergerieben; man hörte nichts als ein starkes und doch leidenschaftsloses Brüllen. Der Löwe und Tiger, die das Motiv eines ersehnten Fraßes haben, brüllen weit edler und klangvoller. Der dicke Bursche brüllte wie der Sturm durch ein weites Stadtthor. Mit ihm correspondirte eine tiefe Frauenstimme, die zu einer alten Prostituirten gehören mußte. Alles, was in jugendlichen Jahren 196 in diesem Organ zu Gellendes und Kreischendes gewesen sein mochte, war gewiß mit dem Fleische längst den Weg alles Fleisches gegangen; es war nichts als eine dicke, trübe Stimmhefe übrig geblieben. Wenn das Gebrüll des Burschen etwas Festes und Abstoßendes besaß, so hatte die tiefe Stimme dieses Geschöpfes nicht die geringste Bestimmtheit; sie glich dem häßlichen Klappern eines hohlen Kürbisses voller Chausseesteine, wie ihn die Straßenjungen anzufertigen pflegen. Auf diesen beiden garstigen und scheußlichen Organen ruhte das ganze Stimmenconcert in dem Tanzgarten, wie eine Sinfonie auf Violoncell und Contrabaß. Aber die übrigen Instrumente paßten vortrefflich zu dem Charakter des Grundbasses; es war ein Ensemble, in seiner Art so vortrefflich und abgerundet, wie die Aufführungen des Pariser Conservatoriums, der Berliner Kapelle und des Domchors, nur daß die unsterblichen Meister der Töne davor ihre Häupter verhüllt und sich in ihren Gräbern umgekehrt hätten.

Die Mittelstimmen bestanden aus ordinären Organen menschlicher Bratschen, die überall sonst im Leben, also auch hier auf dem Tummelplatz der Liederlichkeit nur die Füllstimmen ausführen. Zuweilen klang dieser oder jener schärfer accentuirte Ton oder irgend ein seltenerer Provinzialismus hervor; aber im Allgemeinen schienen sich auch die Schreier den kräftiger begabten Naturen zu subordiniren. Etwas höher als diese zweiten Tenöre der nächtlichen Serenade der Liederlichkeit lagen die Knabenstimmen, denn das geübte Ohr eines alten Musikers unterschied mit Bestimmtheit eine Menge derselben in dem wüthenden Charivari. Diese Stimmen lagen alle auf der Grenze der Mutation, gehörten also Buben an, die, an der Schwelle der Mannbarkeit stehend, hier die ersten Eindrücke des Umgangs mit dem schönen Geschlechte empfingen. Aufgeregt durch hitzige Getränke und Tanz, schrieen diese Buben in einem wüsten Chorus durcheinander, der wie der Ruf der Eulen und Nachtdämonen im Freischütz stets aus der Tiefe in irgend einen lächerlichen und hohen Ton 197 überschlug. Aus einzelnen, zu meinem Fenster heraufklingenden, galanten Redensarten und elenden Theaterpossen entlehnten Bonmots erkannte ich Mitglieder aus der ehrsamen Zunft der Ladenburschen und Kaufmannslehrlinge, Leute, die ihren Charakter, wenn sie den Mund öffnen, so wenig verbergen können, als die Schwalbe ihren Flug, der Iltis seinen Geruch und der Esel sein Geschrei. Sie schienen eine herrschende Majorität zu bilden, die nur zuweilen auf die Inspirationen jenes dicken Burschen vom Lande hörte, der ihr Parteihaupt, Chorführer, Obernarr und Vorgaukler zu sein schien. Ich malte mir lebhaft den Gedanken aus, alle Principale dieser Buben an meinem Fenster versammelt zu sehen, wie ein Jeder von ihnen sich bemüht, die Stimme seines saubern Pflänzchens herauszuhören und das monatliche Salair desselben mit den Kosten einer solchen Berliner Ballnacht und gewissen unbegreiflichen Deficits bei der Inventur zu vergleichen. Ich dachte ferner an die armen Gymnasiasten, welche, durch strenge Gesetze überwacht, weder harmlose Conditoreien noch Billardstuben besuchen dürfen, und wunderte mich über die Freiheit solcher Eleven des Kaufmannsstandes, die am andern Morgen wieder von Neuem die Hände in die Kasse ihres Herrn tauchen und die Woche über sein Detailgeschäft besorgen. Mir schien in dem Augenblicke, als wenn in der Ueberwachung der Jugend und der privilegirten Nichtsnutzigkeit solcher Unzuchtslokale noch »Einiges« für den Gesetzgeber zu thun sei!

Die Sopranstimmen fesselten die Aufmerksamkeit am meisten. Sie gehörten mit wenigen Ausnahmen dem zartesten Mädchenalter an. Ihr helles, schallendes Gelächter verrieth, daß alle Scherze und Reden wesentlich an ihren Beifall gerichtet seien, aber das zeitweilige Aufkreischen einer einzelnen Stimme und das präcise Einfallen des ganzen Lachchorus bewies auch, daß es drunten in dem verlorenen Paradiese nicht immer bei Redensarten blieb. Eine zarte, klare Kinderstimme, die sich in den Ausbrüchen einer jubelnden Heiterkeit besonders hervorthat, flößte mir 198 eine geheimnißvolle Theilnahme und Rührung ein. Sie besaß noch die ganze Frische der weiblichen Jugend, die liebliche Klangfarbe der unschuldigen Seele; diese Stimme hat den Sturz des Engels überlebt. Mit solcher Stimme konnte eine Tochter für ihren Vater beten; mit ihr konnte sie für ihn bei mildthätigen Seelen betteln und auf Erhörung rechnen, mit diesem Organe mußten die einfachen Gesänge des deutschen Volkes gesungen werden, wenn harte Herzen erweicht werden sollten, diese reine, süße Stimme war dazu geschaffen, die Sprache der Liebe zu reden und zu singen. Dort unten klang sie wie der lockende Ruf der Nachtigall, wenn ihn das Raubgevögel im nahen Gemäuer überkrächzt. Es lag Etwas in ihr, was einer Fürbitte für die gesammte verworfene Gesellschaft glich, ein Rest Sittlichkeit und Hoffnung, wie man ihn in irgend einem vergessenen Winkel des Verbrechergemüthes findet. Ehe man die holden Laute dieser Mädchenstimme gehört hatte, nahm man ein Aergerniß an dem Volke, nachher jammerte es Einen nur noch. Daß jedoch eine solche weichere Stimmung nicht anhalten sollte, dafür sorgten die nächtlichen Ruhestörer in vollem Maaße.

Wenn sie eine Viertelstunde den kleinen Park durchtobt hatten, rief sie die Fanfare einer verblasenen Trompete wieder zum Tanz in den Saal. Dann verstummte der Lärm, der Ballsaal nahm seine Gäste wieder auf und das Scharren der Füße zeigte an, daß die Orgie wieder begonnen hatte. Dieser Wechsel von Salon- und Gartenvergnügen wiederholte sich bis zwei Uhr Morgens mehrmals hintereinander; dann schien eine allgemeine Erschöpfung einzutreten, Gelächter und Geschrei wurden schwächer, die meisten Paare schienen sich schon früher entfernt zu haben, und zuletzt verstummte auch die elende Trompetenmusik; es blieb nichts übrig als die stille Nacht und ein bleich aufleuchtendes Morgensignal am östlichen Horizont.

Es war unmöglich einzuschlafen, der Höllenlärm klang noch in den Gehörnerven nach, wie die überladene Musik mancher neueren Opern, man setzt auch im Schweigen die 199 begonnenen Reflexionen weiter fort. Mir leuchtete ein, daß unsere Civilisation kein Recht hat, über die Kriegstänze der Karaiben, die nächtlichen Ausschweifungen der Negersclaven, die Thranschwelgereien der Grönländer und die Bacchanale der Indier den Stab zu brechen. Die authentischen Berichte der gelehrten Reisenden schildern diese Festlichkeiten nicht wilder und schmutziger, als das, was ich so eben erlebt hatte. Denn ich muß hinzusetzen, daß ich mich hier nur auf leichte Umrisse beschränkt und weislich gehütet habe, die brennenden Farben des Dialogs zu copiren, von dem einzelne kurze, aber sehr inhaltschwere Aphorismen zu meinem Lager emporschallten. Die Gesellschaft im Garten trug nicht das geringste Bedenken, sich einer Menge Ausdrücke zu bedienen, welche das Wörterbuch der deutschen Sprache gar nicht aufweist, oder die selbst von den unternehmendsten Schriftstellern nie anders als durch verschämte Punkte angedeutet werden. Dem Charakter der naiven Wilden getreu, dachte ferner die besagte Urgesellschaft inmitten der Civilisation nicht an die etwaigen Zuhörer ihrer Unterhaltungen über geschlechtliche Verhältnisse. Ein Vater von heranwachsenden Töchtern, ein Ehemann, oder die Vorsteherin einer weiblichen Erziehungs-Anstalt mußten sich nach meiner Meinung ernstlich besinnen, ob sie in einer Gegend wohnen bleiben sollten, wo man in jeder warmen Sommernacht das Schandlexikon der Menschheit und Sprache geflissentlich aufschlägt, wo man nach den Aussagen glaubwürdiger Zeugen gelegentlich schon das Messer auf einander gezückt hat, wo die Lemuren der modernen Sittlichkeit ihre Reigentänze aufführen. Gegen giftige Dünste kann man sich durch Verschließen der Fenster schützen, gegen giftige Töne müßte man das Mittel anwenden, mit dem Odysseus seine Gefährten vor dem Gesange der Sirenen schützte. Auch wird ein Grenzbewohner dieser idyllischen Nachtlandschaft sich nicht mehr wundern, wenn die jungen Leute im eifrigen Dienste der paphischen Göttin, für den rauheren Dienst des Kriegsgottes immer untauglicher werden und die 200 Kreis-Ersatzcommission nachgerade der Meinung ist, daß die Residenz im nächsten Jahre ihren gesetzlichen Verpflichtungen wohl nicht mehr werde genügen können. – Da bricht aber der Morgen an, der Hausknecht des Klostergartens löscht die letzte Laterne aus, der erste Hahn kräht die Dämmerung an, der Himmel erröthet vor Scham – es ist Schlafenszeit! 201

 


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