Ernst Kossak
Historietten
Ernst Kossak

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2. Er bleibt spät auf.

In einer hiesigen berühmten Weinhandlung befindet sich ein langes dunkles Hinterzimmer mit zwei Gasflammen; ein großes ungastliches Sopha mit einer Rückenlehne, so hart und heilkräftig wie ein orthopädisches Gradsitzungswerkzeug, zieht sich hinter einem mit Wachstuch bezogenen Tische als zweite Parallele an der Wand entlang, und zwei Senfnäpfe, deren jeder rechts und links ein Pfeffer- und Salzfäßchen vertraulich am Arme hält, vervollständigen die Ausstattung des Gemaches. Die Kunst hat nichts für den Schmuck der Wände gethan, so wenig als für das Bild des General Wrangel, der auf einer bunt colorirten Lithographie, in der Stellung, ohne welche nie gestattet ist, einen Feldherrn und sein Roß abzubilden, für Schleswig-Holstein in die Schranken galoppirt. Dennoch ruht eine geheime Magie in dem anscheinend so ärmlichen Raume. Am Tage nie betreten, es sei denn zu 161 vertraulichen Conferenzen des Wirthes mit einem Weinreisenden, kann er am Abend, namentlich nach dem Theater, kaum die Zahl seiner Gäste fassen. Dann scheint die Atmosphäre des Zimmers, dem Durste der Kommenden nach zu schließen, salziger als die Küstenluft der Nordsee oder des adriatischen Meeres zu sein. Man trinkt wie das Kameel nach einem achttägigen Wüstenmarsch an der Quelle der Oase, aber man ißt verhältnißmäßig nur wenig, wie überall, wo große Trinker den Appetit zu verscheuchen pflegen.

Nach elf Uhr lichtet sich die Versammlung, Jünglinge mit den ersten Anflügen des Podagra's, fahnenflüchtige Ehemänner mit nicht stichhaltigen Vorwänden zum Längerbleiben, regelmäßig und richtig gehende Junggesellen und zufällig Einsprechende nehmen sämmtlich um diese Stunde den Thürdrücker und den Hut in die Hand.

Um halb zwölf Uhr tritt ein alter Herr von gemessenem Anstande in das Zimmer, der Kellner nimmt ihm den braunen Sackpaletot mit lebenssattem Fuchspelzkragen ab, der alte Herr geht, die Hände langsam reibend, zwei Mal an der ganzen Länge des Tisches, die Gäste musternd, auf und ab, und setzt sich dann in die dem Ofen zunächst gelegene Ecke des Sopha's. Diese Ecke wird von gewöhnlichen Gästen ihrer Temperatur wegen vermieden; sie hält die richtige Mitte zwischen einem Brütofen und einem Bäckerherde. Auf diesem Platze richtet sich der Herr ein, nachdem er mit dem Feuerhaken die eiserne Ofenthür geöffnet und die Coaksstücke symmetrisch geordnet hat, dann sagt er mit entschlossenem Tone: »August, ein Achtel!«

Alle diese Eigenschaften und Vorbereitungen würden aber die Aufmerksamkeit eines anwesenden Neulings der Weinstube nicht hinreichend spannen, wenn nicht die Nase des alten Herrn dabei wäre. Wie ein plötzlich am Firmament auftauchender Komet die Augen sämmtlicher Astronomen von den regelmäßigen Stammgästen des Himmels abzuziehen pflegt, so auch die Nase Aller Blicke von den 162 uninteressanteren Personen und Gliedmaaßen der Anwesenden. In tyrischen Purpur getaucht, erhebt sich ein gewaltiger Berggipfel einsam aus abendröthlicher Beleuchtung, ewiger Schnupftaback bedeckt seinen Gipfel und eine Warze mit struppigen schwarzen Haaren deutet die äußerste Grenze der Bartvegetation an. Sieben Vorberge von jungen Nasen verkünden, daß die Thätigkeit dieses vulkanischen Bodens noch nicht ruhe und jeder Augenblick die ursprüngliche Gestalt des pittoresken Landschaftsbildes verändern könne. Alle übrigen Partieen des Gesichtes treten vor solcher Nase zurück; wie der Karfunkelstein der romantischen Schule überglüht sie der Menschen Logik und Besonnenheit. Der Artigste vergißt die Paragraphen des Meisters Alberti und starrt unverwandten Blickes das koboldartige Gebilde an, und der Unartigste untersteht sich, laut zu lachen. In Deutschland gab es nur noch eine derartige Nase und diese gehörte einem sehr genialen Tonsetzer in Dessau.

»August, ein Achtel!«

Noch sind nicht fünf Minuten verflossen, als dieser zweite Ruf erschallt, und der alte Herr mit solcher Gelassenheit seine Beine nach dem glimmenden Ofen ausstreckt, als wollte er die Gesellschaft noch um Mitternacht mit frischen Eisbeinen bewirthen.

»August, ein Achtel!«

Ist es die Hitze des Ofens oder die innere Trockenheit des Temperaments, zum dritten Male in zehn Minuten wird August in Thätigkeit gesetzt. Im Mittelalter gab es großartige, aber uncultivirte Trinker, welche ohne Schwierigkeit das mit Wein gefüllte Spülfaß austranken, das neunzehnte Jahrhundert hat den Achteltrinker gezeugt, denn das Geschlecht derer von Schweinichen ist unsterblich.

»August, ein Achtel!«

Die anwesende Gesellschaft wird durch das Achtelspiel gefesselt, sie versammelt sich in der Nähe des Ofens um den alten Herrn, wie die Kindlein um die 163 märchenerzählende Großmutter, und nun ist der alte Herr in seinem Elemente.

»August, ein Achtel!«

Seine treuherzigen Augen beleben sich, er erzählt einige kleine Stadtgeschichten von Ehemännern unter dem eisernen Joche des Pantoffels, die sich nicht unterstehen dürfen, nach zehn Uhr nach Hause zu kommen, er lobt den Genuß des Weines bei nächtlicher Stille, er regt die Gesellschaft so lebhaft an, daß diese mit großem Geräusch Champagner bestellt, daß der Wirth selbst mit wohlgefälligem Schmunzeln erscheint und mit dem alten Herrn vertrauliche Blicke wechselt. Aber eingeladen, am Genusse des brausenden Sektes Theil zu nehmen, sagt er nur:

»August, ein Achtel!«

Nun kommen die Mordgeschichten, Geschichten, die schon hundert Mal erzählt, nach zwölf Uhr und bei der Flasche ewig neu sind, Geschichten, die wie die erzählenden Mordkerle eine unverwüstliche Lebenskraft haben. Solche Geschichten lassen sich jedoch nicht mit trockenem Munde erzählen, und da mit vorrückender Nacht das Glas immer kleiner und der Durst immer größer zu werden scheint, heißt es wieder:

»August, ein Achtel!«

Was ist der Mensch? Der Schatten eines Rauches – eine Spanne Leben und rings Schlaf – eine unaufgelöste Dissonanz – eine Schneeflocke am ersten Mai – ein Schwefelholz im Ofen bei achtzehn Grad Reaumur – der Mensch ist ein Blatt, das welk wird, wenn seine Zeit gekommen ist, abfällt und hinausgetragen werden muß in die Todtenkammer – also trugen sie den Jüngling hinaus, in der Blüthe seiner Jahre, den Jüngling, den die zärtliche Mutter am Abend noch nüchtern gesehen hatte, und der am Morgen schreien wird, wie der Hirsch nach frischem Wasser, so nach dem sauren Hering – der alte Herr kann nur mitleidig die Achseln zucken über den Jünglinge fällenden Champagner.

»August, ein Achtel!«

164 Wie befindet sich der Jüngling? »Hoffnungslos vor der Hand,« lautet die Antwort. Eine Nachtdroschke ist das Einzige, dessen er für heute noch auf Erden bedarf oder für morgen? O, es giebt Zeiten, wo der Mensch noch im Gestern lebt und der morgende Tag schon angefangen hat – oder sollte des alten Herrn Zeitrechnung vielleicht um zwölf Uhr Mittags beginnen und er erst um diese Stunde seinem Tage den Namen geben?

»August, ein Achtel!«

Das sind Dinge, um darüber den Verstand zu verlieren, gewichtige Daseinsfragen, sich überschlagende Kategorieen, ernsthafte Arbeiten für Philosophen, aber nicht für eine Gesellschaft, die nun einmal fröhlich beisammen ist und nicht weiß, wie sie den angebrochenen Abend zubringen soll. Einer wagt es, ein kleines Spiel vorzuschlagen, da widersetzt sich der Alte von der Nase mit Macht. Das sei der alten Deutschen Erbfehler gewesen, daß sie bei dem guten Trunke auch das schlechte Spiel getrieben; besser sei es, das Geld an die Gottheit des Bacchus, als an sterbliche Menschen zu verlieren, darum:

»August, ein Achtel!«

Wer steht da am Büffet im Nebenzimmer? in der Urväter Mantel gehüllt, des Auerochsen Horn um die Schultern hängend, in der Hand den gewaltigen Spieß, am Gürtel die Schlüssel der Stadt – ein siegreicher König der Nacht? – nein, der Nachtwächter. Das späte Licht und die Kälte der frühen Stunde haben ihn hineingelockt, er wünscht den Herren einen schönen guten Morgen, und der Alte von der Nase sagt: »August, geben Sie dem Nachtwächter auf meine Rechnung ein Achtel.«

»August, mir auch ein Achtel!«

Der Nachtwächter trinkt stehend auf die Gesundheit der Anwesenden, stößt mit der Großnase an und fragt, ob einer von den Herren wünsche, nach Hause gebracht zu werden, es habe stark geregnet und sei ein wenig glatt? Die Gesellschaft hat den Regen so wenig gehört, als Hüon und Rezia bei Wieland den Seesturm; sie ist daher 165 einigermaßen überrascht. Einige gehen schon tief, wie holländische Kauffartheischiffe mit Ballast, Andere empfinden den schrecklichen Rückschlag des Weines und verfallen in ein leises Frösteln – man beschließt aufzubrechen. Die Zeche wird bezahlt, die nächtliche Toilette gemacht; man taumelt hinaus und stellt sich unter den Oberbefehl des Nachtwächters, der die Führung der Avantgarde mit den Worten übernimmt: »Aufgepaßt, meine Herren, der Rinnstein kommt.« Halt! wird plötzlich der Arrieregarde nachgerufen. August bringt verschiedenes Vergessene, wie Tabacksdosen, Cigarrentaschen und Foulards. Der Wein bewirkt ja, wie der Trunk aus Lethe, Vergessenheit der irdischen Dinge.

Einer nur bleibt zurück, der Alte von der Nase. Langsam steht er auf, zieht den Paletot an, setzt sich wieder, legt die Beine lang auf das harte Sopha, seufzt und sagt: »August, ein Achtel!«

August hört ihn nicht gleich, weil er in sämmtlichen angrenzenden Zimmern die Gasflammen auslöscht, die Zeitungen auf einen Haufen packt und die Stühle unter den Tisch rückt. Der Alte ruft also mit stärkerer Stimme: »August, ein Achtel!«

August bringt das Achtel, aber nicht mehr mit der früheren Spannkraft. Es schlägt drei Uhr und der arme Mensch kann sich kaum noch auf den Beinen erhalten. Seine Augen sind trübe, er magert von Stunde zu Stunde sichtlich ab, noch eine Stunde und er gleicht dem Portrait des Suppenpeter in seinem letzten Stadium.

»August, noch ein Achtel!«

»Aber, mein Gott, es hat ja schon drei geschlagen –«

»August, gieb mir noch ein Achtel – August, Du bist mein Freund!«

»Meinetwegen, das ist aber das Letzte; denken Sie, wenn Jeder so lange aufbleiben wollte, wie Sie, was sollte dann aus uns armen Kellnern werden, die den ganzen Abend und die Nacht durch auf den Beinen bleiben sollen und am Tage noch ihr eigenes Geschäft haben?«

166 Der Alte von der Nase hat das Achtel ausgetrunken. – »August, gieb mir noch ein Achtel!« – August verläßt. das Zimmer und sagt halblaut: »Es ist nicht auszuhalten, alle Woche einmal die Wirthschaft mit ihm – er bekommt keinen Tropfen mehr!« Zugleich stellt er sich neben das Büffet und zählt auf einer kleinen schwarzen Tafel gewisse ureinfache Zeichen, welche die Zahl der genossenen Achtel auf die leichtest faßliche Weise ausdrücken. Er kommt wieder und sagt tonlos: »Vierzehn.« Nun wird Rothnase ernsthaft böse: »Vierzehn? nur vierzehn? so wenig habe ich noch in meinem Leben nicht an einem Abend getrunken. Hätte ich nicht schon vorher in der Leipzigerstraße zwanzig Achtel getrunken, Ihr solltet mich nicht so schnell loswerden. So seid Ihr Alle, Ihr seid undankbares Volk. Alle Woche komme ich nur einmal her, damit Euch das Spätaufbleiben nicht schadet, und wenn die Reihe an Euch ist, seid ihr niederträchtig gegen mich und wollt mich in die kalte Nacht hinausstoßen – August, noch ein Achtel – August, wenn Du ein Mensch bist, erbarme Dich – komm, gieb mir einen Kuß – sei mein Freund, August!«

Der Kellner ist unerbittlich. Er zündet den Wachsstock bei der letzten Gasflamme an und löscht diese selbst aus. Ein unheimliches Halbdunkel zerstört alle eitlen Hoffnungen auf das letzte Achtel. Der Alte setzt den Hut auf und spricht: »August, ich werde das nächste Mal bezahlen;« er bezahlt nämlich stets seinen Wein erst acht Tage später. Die Hausthür wird geöffnet, fällt hinter dem Alten in's Schloß – da klopft er noch einmal an.

»Was vergessen?« – »Ja, August, ich habe vergessen, Dir gute Nacht zu sagen, bleibe mein Freund, August, hörst Du – gute Nacht! 167

 


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