Ernst Kossak
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Ernst Kossak

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Aus dem Knabenleben.

Berlin hat durch seinen Ueberfluß an minorennen Taugenichtsen, verdorbenen Schuljungen und talentvollen Vagabunden eine gewisse Berühmtheit erlangt. Nicht nur der Berliner Gassenjunge darf auf seinen Ruf stolz sein; sehr viele Söhne wohlhabender Eltern sind ganz dazu geartet, ihm diesen traurigen Lorbeer streitig zu machen. Schon frühzeitig entwickelt der Knabe von Berlin, wie wir zum Unterschiede von dem professionellen Straßenjungen ihn nennen wollen, eine besondere Neigung, hinter die Schule zu gehen. Die Conditoreien, die Schaufenster der Läden und die freien Plätze mit ihrem lebendigen Volks- und Handelstreiben erscheinen seinem beweglichen Sinne ungleich anziehender als die trockenen Regeln der lateinischen Declinationen, die Hauptsätze der Geometrie und die unerquicklichen Jahreszahlen der alten Geschichte. Ohne den Faust zu kennen, hält er aus Instinkt die Theorie für zu grau, um über ihr des Lebens grüngoldenen Baum unbestiegen wachsen zu lassen. Noch nicht trocken hinter den Ohren, wirft er sich schon in den Strudel der städtischen Ereignisse, und genießt das Leben in seinen Aepfeln, Bonbons und Chokoladenplätzchen. Vier Stunden Vormittags und zwei am Nachmittage scheinen ihm nicht zu lange für die Spaziergänge und Beobachtungen eines angehenden Philosophen für die Welt. Die Menge der Stadtviertel erleichtert seine Unternehmungen, und die 79 einzige Vorsicht, die er zu beobachten nöthig hat, besteht nur darin, daß er auf seinen Streifereien den engeren Bezirk seines angestammten Gymnasiums vermeidet. Lange kann er sein Treiben fortsetzen, ohne entdeckt zu werden, denn er ahmt als ein Talent in den bildenden Künsten, die Unterschrift seines Vaters nach und unterschreibt selber die eigenen Entschuldigungszettel. Inzwischen leiden doch seine Schularbeiten entsetzlich unter diesem genialen Wanderleben, und die halbjährige Censur erreicht endlich einen Grad von Schlechtigkeit, daß selbst dem nachsichtigen Papa der Verstand stille steht.

Väter, die sich allabendlich mit ihren Söhnen beschäftigen, ihre Arbeiten durchsehen und ihren Eifer anspornen, gehören schon zu den Berliner Sehenswürdigkeiten. Auch der Vater, dessen Sohn wir hier portraitiren, nimmt sich seines Sprößlings nicht häufiger an, als die Universitätsprofessoren ihrer Studenten, d. h. halbjährlich bei Unterschrift der Quittungsbögen; er liest nur die Censur und quittirt durch seinen Namen den richtigen Empfang der Nachrichten über die jüngste wissenschaftliche Vergangenheit des jungen Herrn. Ob die Censur ein wenig besser oder schlechter war, kümmert ihn im Ganzen wenig, da er von seinen eigenen Schuljahren nicht die vortheilhafteste Meinung hegt, und doch ein geachteter, ja, was ihm wichtiger scheint, ein reicher Mann geworden ist. Diese Censur jedoch fesselt seine Aufmerksamkeit gleich durch ihre Einleitung. Sie spricht unverholen großes Bedauern darüber aus, daß ein so fähiger Knabe durch häufige Krankheit an dem Besuche der Schule wöchentlich mehrmals verhindert worden ist! Der Vater traut kaum seinen Augen, da er die Zahl der Versäumnisse aus »Krankheitsrücksichten« mit dem ihm wohlbekannten fabelhaften »Appetit« des jungen Schulschwänzers vergleicht. Er liest weiter und staunt immer mehr. Sein Sohn zeichnet sich durch einen tief in ihm liegenden Abscheu vor den alten Sprachen aus, ohne der Mathematik deshalb gewissenhafter Rechnung zu tragen. Wenn seine Leistungen in der Muttersprache 80 dagegen bedeutend genannt werden können, so sind darunter dennoch nicht die schriftlichen Ausarbeitungen zu verstehen, sondern nur die lehhaften mündlichen Unterhandlungen mit seinen Nebenmännern während des Unterrichtes und die scharfen Lakonismen gegen die Lehrer, welche ihn zur Rede zu stellen pflegen. Er ist deshalb wiederholt mit entehrenden Schulstrafen belegt worden, ohne daß diese auf ihn einen sichtbaren Eindruck hinterlassen hätten. Als Philosoph steht er hoch über dem verschrobenen modernen Ehrbegriff.

Der erschütterte rathlose Vater eilt zum Director des Gymnasiums, dem Manne der Erfahrung, der Geduld, der seufzenden Eltern und Vormünder; er will Licht und erhält statt desselben einen Sack voll Dunkel. Aber der menschenfreundliche Director weidet sich nur wenige Minuten an seinen Leiden; mit einigen Zügen meisterhafter Analyse entwirrt er das Schreckensgewebe bübischer Faulheit und Tücke. Von den Fürsten, Hofleuten und Völkern mag es wahr sein, daß sie aus der Geschichte nichts lernen; von den Gymnasial-Directoren kann man so etwas nicht behaupten. Sie halten die Welt besser zusammen, als man nach dem ersten oberflächlichen Anblick glauben sollte, und sie kennen diese Welt. Aus den Gemüthern und Geistern der Jungen sammeln sie ihre Erfahrungen, und was sind denn von einem allgemein menschlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, alle geschichtlichen Persönlichkeiten anders als großgewordene Jungen? finden sich nicht schon alle Pfiffe und Kniffe der Historie in den sechs Abtheilungen der Gymnasien? studirt nicht die leichtsinnige Jugend ebenso vergebens die kostbaren Schriften des Alterthums, wie ihre Eltern die Lehren der neueren Weltbegebenheiten? Wenn Rabbi Akiba sagt: »Alles schon dagewesen!« so meint er nur: auf der Schule. Deshalb liegt vor den Augen eines tüchtigen Directors ein solcher aufsätziger, fauler, gaunerischer berliner Junge da, wie ein anatomisches Präparat auf dem Tische der Charité.

»Ich sehe Ihren Kummer, mein Herr,« spricht der 81 weise Mann, »hier muß rasch Einhalt gethan werden, ehe es zu spät ist. Die Schule hat gegen den Knaben ihre Pflicht erfüllt, so weit dies möglich war, aber das Haus hat die Schule nicht genügend unterstützt. Sie haben es an der häuslichen Ueberwachung fehlen lassen. Der Knabe muß in eine strenge Pension gethan werden.«

Wie nach einem trübseligen Regentage die Sonne im letzten Moment noch eine schmale Spalte in dem dunklen Wolkenschirm findet und mit einem wundervollen verklärenden Lichte die arme verstimmt daliegende Erde anblinzelt, daß sie wieder wie die Heimath des vernünftigen Menschen aussieht, so verbreitet das einzige Wort »Pension« über das Antlitz des unglücklichen Vaters einen verjüngenden Rosenschimmer.

»Ich bin kein Freund von Pensionen,« fährt der Director fort, »wenn sie von leichtsinnigen Eltern nur dazu benutzt werden, um sich gutgearteter Kinder zu entledigen, die keine andere Fehler haben, als daß sie eben neugierige, unruhige und laute Wesen sind; aber ich statuire Ausnahmen. Wenn Eltern auf dem Lande wohnen . . . . .«

Der Vater macht ein Gesicht, als wollte er sagen, daß dieses nicht sein Fall sei, und öffnet schon den Mund, aber der Director sieht ihn mit großem, Sterbliche prüfenden Auge an, einem Auge, in dem die vollständige Bedeutung der Strafbarkeit liegt, einen docirenden Schulmann zu unterbrechen, und der Vater ist auf der Stelle reuig und gebessert.

»Wenn Eltern auf dem Lande wohnen,« betont der Director mit ernster Miene, »dürfen sie ihre Kinder in eine städtische Pension geben!«

Er könnte hinzusetzen: »wenn Eltern so wenig Häuslichkeit besitzen, daß sie mitten in Berlin so gut wie in der Prairie wohnen,« oder: »wenn Eltern Söhne haben, die statt in die Schule, auf das Land gehen,« aber er sagt weniger pikant, wie es sich für einen ernsten Pädagogen ziemt: »wenn Eltern ferner sich vermöge ihrer Geschäfte oder ihres Gesundheitszustandes so wenig um ihre 82 Kinder kümmern können, daß diese bei lebhaftem Temperament in Gefahr stehen, ein Opfer der Versuchungen der großen Stadt zu werden, so ist es ihnen nicht nur erlaubt, sondern sie sind verpflichtet, ihre Kinder in Pension zu thun.«

»Können Sie mir eine gute Pension für meinen Eugen empfehlen?« fragt der Vater sehr erleichtert.

»Eine gute und eine strenge Pension. Ihr Eugen kann erst wieder gut behandelt werden, wenn er eine Zeitlang strenge behandelt worden ist. Der Doctor Schlagentzwei ist mein alter Freund und Universitätsgenosse; er könnte Ihren Eugen in sein Haus nehmen.«

Der Vater scheint innerlich bei dem ominösen Namen des Doctors einige Scrupel elterlicher Zärtlichkeit zu empfinden, allein er hat schon so viel Respekt vor dem Director, daß er sie nicht laut werden läßt. Dieser bemerkt sehr wohl den Gemüthsvorgang und setzt hinzu: »Doctor Schlagentzwei beherbergt in seinem Hause jährlich wenigstens ein Dutzend meiner Gymnasiasten und leitet selbst ihre häuslichen Arbeiten. Die Abiturienten aus seiner Pension pflegen im Examen stets am besten zu bestehen.«

Da hieraus erhellt, daß Knaben, welche es bis zum Abiturienten-Examen bringen und gut bestehen, nicht vorher als Opfer eines allerdings verhängnißvollen Namens gefallen sein können, beruhigt sich der Vater und überläßt dem Director das Weitere.

»Ich möchte vorläufig mit Doctor Schlagentzwei sprechen,« bemerkt dieser, »da wir jetzt am Anfange eines neuen Cursus stehen, werden wahrscheinlich in seinem Hause einige Veränderungen vor sich gehen und er kann für Ihren Eugen bei dieser guten Gelegenheit gleich Platz machen. Haben Sie unterdessen die Güte, dem Knaben die Veränderung anzuzeigen.«

Mit schwerem Herzen, auf dem alle Unterlassungssünden eines gewissenlosen Vaters lasten, begiebt sich der schwache Mann nach Hause und zeigt dem unternehmenden 83 Knaben an, daß er noch in den Ferien »Pensionair« werden solle. »Wo?« fragt lakonisch Eugen, dem gewisse Pensionen oder Freistätten junger Grafen vorschweben. »Beim Doctor Schlagentzwei,« sagt der Vater kleinlaut mit abgewandtem Gesicht und verläßt das Zimmer. Kaum hat er den Rücken gekehrt, so schleicht Eugen in das Zimmer der Mama und stiehlt seine Sparbüchse. Dann steckt er sein Terzerol in die Tasche, nimmt das Glas mit den beiden Laubfröschen unter den Arm und geht aus. Eugen hat beschlossen, mit dem Abendzuge nach Potsdam zu reisen und von da aus sich für die englische Fremdenlegion anwerben zu lassen.

Nur in einer Richtung ist es schwer, Berlin mit der Eisenbahn zu verlassen, wenn man keine Legitimation besitzt, aber da Potsdam nicht in dieser Richtung liegt, so beachtet Niemand Eugen und er langt mit Einbruch der Nacht glücklich unter den architektonischen Schöpfungen Friedrichs des Großen an. Die Fahrt in der kühlen Abendluft hat ihn ein wenig verstimmt, er spürt Appetit und erinnert sich des häuslichen Soupers, bei dem er wahrscheinlich in diesem Augenblick vermißt wird. Empfindsamkeit ist nicht die Sache Eugens; er hat nur die einzige Sorge, etwas Gutes zu Abend zu essen und behaglich zu schlafen. Von einer Vergnügungspartie mit seinen Eltern erinnert er sich, in der Nähe des Schlosses in einem Hôtel sehr gut gespeist und zwei Apfelsinen bei Seite gebracht zu haben. Hier beschließt Eugen einzukehren, und seine ursprüngliche gute Laune kehrt beim Anblick der hellerleuchteten Fenster sofort wieder. Festen Fußes kehrt er ein, überzeugt sich beim Schimmer des Lichtes im Flur, daß die Laubfrösche auf der Fahrt keinen Schaden genommen haben und läßt sich behaglich an den gedeckten Tisch nieder. Nachdem er ein Beafsteack und ein Viertel Rothwein mit einer für seine Jahre frühreifen Standhaftigkeit verzehrt hat, begehrt er sein Nachtlager. Man führt ihn artig drei Treppen hoch in ein Hinterzimmer, setzt zwei Lichter unter den Spiegel 84 und fragt, wann »Herr Eugen« morgen frühe den Kaffee befehle.

»Kennen Sie mich denn?« fragt der entsetzte Knabe den Kellner. »Ganz gewiß. Der Herr Inspector haben uns ausdrücklich auf die Seele gebunden, auf Herrn Eugen recht Acht zu geben und ihn nicht eher fortzulassen, als bis der Herr Inspector ihn selber gesprochen haben.« Nach diesen Worten verläßt der Kellner das Zimmer und dreht den Schlüssel zwei Mal um. Eugen beschließt zu sterben, er hat die Wahl zwischen einem kühnen Sprunge zum Fenster hinaus und einem Pistolenschuß. Er öffnet das Fenster und überzeugt sich zu seinem Entsetzen, daß selbiges nicht auf die Straße, sondern auf einen nach schmutziger Wäsche duftenden Kasten in eine wohlverrammelte Kammer führt, er zieht die Pistole und erinnert sich zu spät, daß man zum Erschießen Pulver und Blei brauche. Eugen beschließt also, zu leben, und statt die Pistole abzubrennen, brennt er die letzte väterliche Cigarre an, die ihm vom jüngsten Beutezuge übrig geblieben ist. »Kann dieser Inspector nicht ein Freund des elterlichen Hauses sein, der ihm die Merkwürdigkeiten Potsdams zeigen will? Nichts weiter, die Sache ist einfach: legen wir uns auf das Ohr.« Eugen hat in der Klasse niemals aufgemerkt, auch nicht, als die Geheimnisse des electromagnetischen Telegraphen erklärt worden sind, deßhalb combinirt er nicht, daß er beim Ausreißen von seinem Vater bemerkt, aber nicht mehr eingeholt worden sei, daß der Vater nach Abfahrt des Zuges dem wachthabenden Lieutenant den Namen des Flüchtlings genannt und nach Potsdam telegraphirt habe, man möge dort auf Eugen ein scharfes Auge richten, kein Aufsehen erregen, ihn aber so fest machen, daß er am andern Morgen mit leichter Mühe nach Berlin zurücktransportirt werden könne. Die Polizei hat Alles mit ihrer bekannten Virtuosität ausgeführt. Mit dem ersten Fußtritt auf den Potsdamer Perron war Engen, ohne es zu ahnen, Arrestant.

Als Eugen am andern Morgen die Augen aufschlägt, 85 sieht er einen freundlichen alten Herrn neben seinem Bette sitzen und eine Prise nehmen. »Sie sind der Herr Inspector?« fragte Eugen, etwas empört über die malitiöse Gelassenheit des alten Herrn. »Ja Kleiner, ich bin der Polizeiinspector, und wenn Du mein Sohn wärst, würde ich Dich hier im Bette durchfuchteln, daß Du vierzehn Tage liegen bleiben solltest. Jetzt ziehe die Kleider an und komm mit, Du mußt nach Berlin zurück.« »Aber ich will nicht nach Berlin, ich will nicht in die Pension, ich will nach Sebastopol.« »Du sollst auch nach Sebastopol kommen, Kleiner,« schmunzelt der alte Herr, »aber auf der Landkarte, mein Sohn, wie es sich für Dich paßt, jetzt mach' rasch.« Der Inspector sieht dabei so unternehmend aus, daß Eugen es für gerathen hält, keinen weitern Widerstand zu leisten, sondern sich als politischer Märtyrer in sein Schicksal zu fügen. »Nun trinke Deinen Kaffee und iß ein Milchbrod – es ist ein kalter Morgen.« Auch das thut Eugen, und nun geht es nach dem Bahnhofe, wo der Herr Inspector ihn einem ganz unscheinbaren Manne mit sehr kurzen dicken Fingern übergiebt, welche der Unscheinbare um Eugen's linkes Handgelenk legt und erst auf dem Berliner Bahnhofe wieder losläßt. Hier steht der Vater und ein Herr in einem kaffeebraunen abgeschabten Rocke, dessen Haupt ein abgestoßener Hut und eine Art mit grau durchschossenes früher goldenes Vließ von Haaren bedeckt.

»Dies ist der Missethäter, Herr Doctor,« sagt Eugen's Vater und empfängt seinen Knaben aus des Unscheinbaren Händen, welche dieser sofort zum Trinkgelde krümmt.

»Ich habe sie schon schlimmer gehabt,« lispelt gleichgültig Doctor Schlagentzwei und kehrt Eugen ein wenig bei den Schultern seitwärts, als wenn er sich durch Ocularinspection überzeugen wollte, ob alle Prügel, die er ihm zugedacht, auch auf seinem Rücken Platz haben würden, »zwei waren bis Hamburg gekommen, zu Fuß, und mit einem lebendigen Meerschweinchen, aber wir bekamen sie doch noch, sie hatten an den beiden letzten Tagen nur 86 von Mohrrüben gelebt.« Alles das erzählte der Doctor ganz tonlos, ganz in tiefe Gedanken verloren, man sieht ihm ordentlich an, daß Hamburg, die Jungen, das Meerschweinchen und die Mohrrüben vor seinem innern Auge schweben. Eugen schaudert; er schaudert noch mehr, als sein Vater scheidend sagt: »Jetzt wirst Du mit dem Herrn Doctor nach Hause gehen; es ist Alles besorgt, ich werde mich nach Deiner Aufführung erkundigen.« Es wäre nun allerdings dem jungen Flüchtlinge sehr gleichgültig, ob der schwache und vielleicht überrumpelte Vater dergleichen thäte, aber dieser Doctor schaut weit wißbegieriger nach der Aufführung von Knaben aus, als Eugen lieb ist. Der Vater verschwindet und der Doctor geht gelassen voran, als ob es gar keinen Eugen in der Welt gebe. Keine Besorgniß vor Ausreißen, kein argwöhnisches Umblicken, kein Festhalten – der ganze Mann klassische unerschütterliche Ruhe, philologisches Vorsichhinschauen, ein antiker Charakter. Mit gesenkten Ohren schleicht Eugen hinter dem entsetzlichen Menschen her; aller Muth ist von ihm gewichen. Er war zu eisernem Widerstand entschlossen, er wollte sich auf die unveräußerlichen Rechte der Menschen stützen, aber er war nicht darauf vorbereitet, vollständig ignorirt als der Galgenvögel Kleinsten Einer betrachtet zu werden. Der Doctor wohnt ganz in der Nähe, in den neuen Straßen vor dem Potsdamer Thore; er besitzt dort ein eigenes, aus gebesserten Jungen aufgebautes Haus, das er nie ohne stille Lust betrachtet. Kein Portier bewacht argwöhnisch einen verschlossenen Flur; es ist ein vergnügliches, Zutrauen erweckendes Haus, durchaus eingerichtet, zu kommen und zu gehen, wie Jeder will. Sie schreiten über einen gepflasterten Hof, auf dem moderne Cochinchina-Hühner ihr Wesen treiben, und betreten ein zweistöckiges Hintergebäude, auf dessen Flur man die Aussicht auf einen neu angelegten allerliebsten Garten genießt.

»Ich werde Dich jetzt meiner Frau vorstellen,« sagt der Doctor und steigt rechts einige Stufen in ein 87 Souterrain hinab, aus dem ein kräftiger Bouillongeruch quillt. Eine derbe Frau mit harten Zügen, die Frau Doctorin selber, dirigirt dort zwei Mägde, die in großen Töpfen rühren.

»Hier ist Eugen, liebes Kind, Du bist wohl so gut, ihm sein Bett im Schlafsaal anzuweisen, ich muß in die Stadt gehen.« Ohne Rachsucht, ohne Leidenschaft, läßt der Doctor wieder den alten Hut über sein von den Zähnen der Zeit aber nicht von denen des Kammes ruinirtes Haupthaar fallen und entfernt sich.

»Nun Eugen, ich hoffe, es wird Dir bei uns gefallen,« sagt die Frau Doctorin, »Du mußt nur hübsch artig sein, dann wird Alles gut werden.«

Sie geht mit einem großen Schlüsselbunde voran und öffnet eine Treppe hoch ein weites vierfenstriges, nach dem inneren Hofe gelegenes Zimmer, einen Schlafsaal für acht bis zehn Knaben.

»Hier ist Dein Bett und in der oberen Schieblade der Kommode kannst Du Deine Bücher und Wäsche verwahren; die beiden Kleiderschränke gehören Euch allen gemeinschaftlich, packe jetzt Deine Kiste aus und dann finde Dich zum Essen ein, wenn Du die Glocke läuten hörst.«

Sie läßt Eugen allein, der sich in die Neuheit seiner Lage so gut als möglich zu finden sucht. Im elterlichen Hause besaß er ein eigenes Zimmer mit eleganten Möbeln, einen feinen Schreibtisch, ein Sopha, ja einen kleinen Lehnstuhl; hier findet er nichts als eine eiserne Bettstelle zwischen einer Menge ähnlicher, eine demüthige birkene Kommode und einen vielerfahrenen abgestumpften Stiefelknecht. Das Lokal macht auf ihn den Eindruck eines Gefängnisses, trotzdem alle Thüren offen stehen und die kühnsten Reisepläne in ferne Welttheile ungestört ausgeführt werden könnten. Nicht einmal die gestern gestohlene Sparbüchse mit einigen zwanzig Thalern haben die arglosen Menschen Eugen abgenommen. Eugen kennt indessen noch nicht das menschliche Gemüth; er steht unter dem Einfluß einer mächtigen Idee und wird sich nicht klar darüber. In der 88 Ruhe des Doctors, in der soliden Wirthschaftlichkeit seiner Frau, in der spartanisch kurzen Redeweise Beider, in der Einfachheit des Haushaltes schlummert ein Geist der Strenge, den verwegen herauszufordern, nicht räthlich sein möchte. Eugen reflectirt nicht weiter, sondern stopft seine Bücher wie Kraut und Rüben in die Kommode, läßt den Schlüssel stecken und eilt hinaus, um den Garten zu besichtigen. An der Thür begegnet ihm wieder die Frau Doctorin.

»Bist Du mit Deinem Einpacken fertig, Eugen?« fragt die resolute Frau und geht an die Kommode. Aber kaum hat sie die Schieblade herausgezogen, als sie auch schon ruft: »Nein mein Kind, mit dieser Unordnung wirst Du bei uns nicht durchkommen – gleich noch einmal gepackt – die Großen nach unten – die Kleinen nach oben – nein diese Kinder – wie kann man sich in den Kraut zurecht finden.«

Eugen kehrt langsam um, wirft die Lippen auf und geht mit sichtlicher Ermüdung an das Geschäft. So etwas hat ihm noch Niemand zugemuthet: zu Hause hieß das schon eine musterhafte Ordnung, und er erhielt ein Zweigroschenstück zur Belohnung. Unter Assistenz der Penelope vollbringt er jedoch das lästige Werk und wird diesmal in Gnaden entlassen. Er eilt nach dem Garten; der Garten ist verschlossen und mit einem Vorhängeschloß versehen. Er sieht sich im Hofe um, ob die Wassertonne offen ist, um mit einem Stock hineinzuschlagen; die Tonne ist mit einem Deckel verschlossen. Ringsum Todtenstille, nur aus den oberen Gemächern des zweiten Stockes ertönt ein monotones Summen; Eugen athmet schwer auf – da erschallt die rettende Tischglocke – er eilt ins Haus. Beim Eintritt in den Speisesaal fühlt sich Eugen überrascht, eine große, wenn auch nicht glänzende Tischgesellschaft versammelt zu finden. Man weist ihm einen Platz an, dem gegenüber ein schweres silbernes Serviettenband, das Geschenk eines gebesserten Goldschmiedsohnes, den Sitz des Dr. Schlagentzwei anzeigt, und Eugen sieht sich, bis 89 die Suppe die ungetheilte Aufmerksamkeit von ihm abzieht, den forschenden Blicken von zwanzig bis dreißig Knaben jedes Alters ausgesetzt. Wir wollen die jungen Herren ihre vortreffliche Bouillon essen lassen und uns so stellen, als bemerken wir nicht das prüfende Gesicht des Doctors, der als ein großer praktischer Philosoph die Eßmethode unseres Eugen studirt, um daraus einen Schluß auf seine Schnelligkeit im Arbeiten zu ziehen; jetzt beschäftigt uns nur die Knabengesellschaft.

Dr. Schlagentzwei hat einen Ruf als Erzieher, Knabenzurichter, Bubenbesserer, Abiturienteneinpeitscher, einen Ruf, der mit dem Gesichte nach dem Nordpol gekehrt, mit der Linken den Rhein, mit der Rechten die chinesische Mauer berührt. So weit die Zunge ungezogener Schlingel ausgestreckt wird, kennt man auch den Dr. Schlagentzwei. Ein betrübter Vater preist ihn dem Andern an, ein sorgenvoller Onkel tröstet mit ihm einen fünfzig Meilen weiter entfernten Onkel, nicht Flüsse, Gebirge und Seen halten den pädagogischen Ruhm des Dr. Schlagentzwei in Berlin auf; aus allen Weltgegenden bringt man die Kindlein zu ihm. Der Friedenscongreß hat wohl schwerlich eine ethnographisch bunter tätowirte Physiognomie besessen, als die Tischgesellschaft der Eleven des Dr. Schlagentzwei. Alle wissenschaftlich festgestellten Racen können darin ihre jugendlichen Vertreter nachweisen, und Alle vertragen sich wie die Thiere im Paradiese, ehe sie als muthmaßliche Complicen Adams und der Schlange hinausgetrieben und mit einander verfeindet wurden; Dank der Energie des unsterblichen Doctors. Merkwürdiger Weise stellen die Berliner das stärkste Contingent. Nicht die russischen und polnischen Provinzen, nicht Ungarn und Galizien, nicht die Türkei und Aegypten liefern solche Ausbeute, wie die Stadt am Fuße des Kreuzberges. Die Zöglinge aus der Fremde pflegen nur die Fehler der Naturkinder, der Indianer, höchstens der Kannibalen zu haben, die kleinen Berliner sind mit allen Gebrechen der Civilisation beladen. Der Unterschied ist, daß Jene vielleicht – unter 90 Umständen – wer kann es mit Bestimmtheit in Abrede stellen – etwas Menschenfleisch zu essen verstehen; diese aber mit Entschlossenheit alles Menschenfleisch von den Knochen ihrer Eltern und Vormünder langsam, lothweise und teuflisch raffinirt herunterärgern. Gegen alle diese kleinen Angewohnheiten ist der Dr. Schlagentzwei gut; die Natur hat ihn ganz besonders als Corrector ihrer Fehler angestellt.

Der Doctor besitzt die beneidenswerthe Eigenschaft, daß er einen Menschen ansehen kann, ohne daß dieser die geringste Ahnung davon hat. Scheinbar theilnahmlos oder in seinen Teller vertieft, faßt der Doctor dennoch die ganze Tischgesellschaft, wie ein Feldherr seine kämpfende Armee ins Auge. Keiner ist davor sicher, entdeckt zu werden, wenn er die geringste Unregelmäßigkeit begeht. »Jan, reiße Dein Suppenfleisch nicht mit den Vorderpfoten auseinander,« sagt der Doctor ohne aufzublicken zu einem kleinen Ausländer, dem Sohne eines Holländers und einer Eingebornen von Borneo, den sein Vater zur Abrichtung und darauf folgenden Erziehung nach Berlin gebracht hat. Der arme Jan ist erst seit zwei Monaten mit so künstlichen Geräthschaften, wie Löffel, Messer, Gabeln, Taschentücher u. dgl. m. bekannt geworden und lebt noch immer so ungenirt, wie seine haarigen Vorbilder auf den Palmen der heimathlichen Insel. Sein olivenfarbiges Fell hat in Folge der Verlegenheit ein schmutzig feuerheerdrothes Colorit angenommen.

»Georg, Du wirst wohlthun, Deinen Teller nicht mit den Fingern auszuwischen,« murmelt der Doctor tonlos, aber bei der Universalstille rings umher doch hörbar, einem kleinen Pausback aus Weißrußland zu, der nach Berlin gebracht worden ist, weil alle Künste deutscher Hauslehrer an ihm fehlgeschlagen sind.

»Komm einmal her, Arthur!« so ruft er, wenn möglich noch leiser, einen hübschen jungen Berliner, welcher seine Nachbaren rechts und links mit den Beinen gestoßen hat. Arthur erscheint hinter dem Stuhle des Doctors mit 91 so rothen Backen, als wenn er die mit Bestimmtheit erwarteten Ohrfeigen schon einkassirt hätte. Aber der Doctor ist weit davon entfernt, ihm »ein Leid zu thun«; er speist von dem eben aufgetragenen Pudding, demselben, den die Mägde unter Oberaufsicht der Frau Doctorin mit Vehemenz eingerührt haben, so ruhig, als gäbe es keinen Arthur auf Erden. Dieser ist offenbar tief gebeugt über eine so empörende Vernachlässigung. Lieber nähme er eine, auch zwei Ohrfeigen, und würde zum Pudding an seinen Platz zurückgeschickt. Nichts von alledem; ohne Theilnahme an den irdischen Genüssen seiner Commilitonen muß er am Horizont des Tisches stehen bleiben und der Pudding mit der Kirschensauce geht an seinem Munde vorüber, wie die Wolke am Vollmonde. Der Doctor weiß zu strafen. Nachdem auch nicht so viel von dem Pudding übrig geblieben ist, um die Jüngste der Fliegen zu sättigen, sagt er mit äußerster Bonhommie: »Du kannst Dich wieder setzen, lieber Arthur!« Er sagt »lieber Arthur«– ein Anderer, ein schlechter Pädagog hätte wahrscheinlich »Schlingel« gesagt, aber nein, der Doctor Schlagentzwei weiß, daß eine Entziehungskur, namentlich bei Pudding, vollkommen gegen ein Uebermaaß von muthwilliger Lebenskraft ausreicht, ohne daß es nöthig wäre, obenein die menschliche Würde zu demüthigen. Die Tafel wird aufgehoben und Eugen entfernt sich mit seinen Genossen auf den Spielplatz, bis die Glocke wieder an die Arbeit ruft. Er ist mit dem Essen durchaus zufrieden gewesen, ja er hat zu Hause an Wochentagen nie so gut gespeist. Die Gerichte waren vortrefflich und die Portionen überreichlich; er fühlt, daß die reale Seite seiner künftigen Existenz gesichert ist, und läßt sich, ohne noch den leisesten Gedanken an die Flucht aus dem Vaterhause und seine schmähliche Wiederergreifung zu hegen, in allerlei heitere Spiele ein. Da erschallt die Glocke und die ganze Gesellschaft stäubt auseinander. Eugen bleibt allein, und zwar etwas rathlos, auf dem Hofe zurück; er soll nicht lange zwischen Thür und Angel schweben. Das Fenster der zweiten Etage 92 öffnet sich, der Kopf des Doctors, diesmal ohne Hut und nur von dem verschlissenen Heiligenschein seiner fuchsigen Haare umgeben, erscheint und ruft: »Eugen!« Der kleine Flüchtling beeilt sich, dem Befehl des gestrengen Herrn nachzukommen; der Doctor hat angefangen, ihm ein wenig zu imponiren.

Eugen findet ihn in einem kleinen einfenstrigen Zimmer, dessen ganzes Mobiliar in einem winzigen Stehpult aus Kienenholz, einem mit Wachstuch überzogenen Tisch, wenigen Stühlen und einem kleinen Bücherregal mit einem Dutzend Schulbücher besteht. »Bringe mir einmal Deine Hefte, Eugen,« sagt der Doctor und stochert mit einer alten Feder in seinen Zähnen. Eugen steigt mit schwerem Herzen in den Schlafsaal hinab und holt seine Hefte. Die Erinnerung an diese erfüllt ihn immer, wie die meisten großen Männer der Gegenwart das, was von ihnen in den Annalen der Geschichte verzeichnet steht, mit Herzklopfen und Bangigkeit. Seine Hefte sind schändliche Schmierereien, nichts als Sudelarbeiten, höchstens von einigem Werth durch ganz besondere Federzeichnungen von den Köpfen seiner Lehrer mit langen Nasen und Ohren. Eugen legt mit zitternden Händen diese Documente einer jahrelangen Faulheit auf das Stehpult und stellt sich außer Schußweite auf. »Also das sind Deine Hefte, Eugen?« fragt der Doctor und besieht das von Tinte pichende Packet, an dem eine Menge grauen Zwirnes niederhängt, »da wirst Du Dir wohl neue machen müssen.« Zugleich ergreift der furchtbare Pädagog ein Heft nach dem andern und reißt sie alle mit einem Ruck mitten durch, gleichviel ob sie vier, fünf, sechs oder mehr Bogen stark sind. August der Starke, König von Polen, obgleich er ein Hufeisen aufbiegen und einen Thaler, wie ein Rosenblatt zusammenrollen konnte, hätte ihm mit Verwunderung zugesehen. Aber als nun die ganze Literatur auf einem Haufen liegt, geschieht etwas Unerhörtes, der Doctor rafft, wie empört über so viele Liederlichkeit und Schmutzerei den ganzen Berg von Fetzen zusammen und wirft ihn 93 Eugen an den Kopf, so daß dieser über und über damit bedeckt ist. Dann aber verfällt der Doctor wieder in seine frühere Ruhe und geht einige Male gelassen durch das Zimmer, indem er wieder kaltblütig in seinem Gebiß stochert. Eugen ist vernichtet. Alles, was sich um ihn zuträgt, ist so sonderbar, weicht so auffallend von dem ab, was er erwartet hatte, daß er sich vollkommen aus seinem frivolen Ideenkreise herausgerissen fühlt. Verleitet durch den verhängnißvollen Namen seines philologischen Principales, war er auf Schläge gefaßt gewesen, welche verdient zu haben, ihm eine leise Stimme in seinem Gewissen zuflüsterte und nun straft man ihn, wie in der Hölle des Dante, an dem, womit er gesündigt hat. Er würde weinen, wenn ein kleiner Berliner überhaupt so leicht Thränen vergösse; er beißt dafür die Zähne zusammen. »Jetzt entferne Dich in den Arbeitssaal und melde Dich bei Herrn Dr. Optativus.« So herrscht ihn der Doctor an und Eugen begiebt sich zu dem philologischen Alter Ego seines Chefs. Der Arbeitssaal ist ein großer öder Raum, in der Mitte besetzt mit fünf bis sechs Reihen Bänke und einem erhöhten Katheder, seine Wände sind mit groben Landkarten decorirt und einigen kleinen Gesimsen, auf denen schlecht ausgestopfte Thiere stehen, Beiträge dankbarer Eleven, von der Decke hängt eine eiserne dreiarmige Lampe zur Beleuchtung mit Gasäther herab. In diesem Arbeitssaal sitzen sämmtliche Berliner Pensionaire und fertigen unter Oberaufsicht des Dr. Optativus ihre Ferienarbeiten für die verschiedenen Gymnasialklassen an. Dieser Mann belegt Eugen mit Beschlag, setzt ihn an die scharfe Ecke neben das Katheder und instruirt den Knaben. Dr. Optativus kennt die Geheimnisse des Lehrplanes und der Aufgaben aller Klassen des Gymnasiums, welches die Pensionaire besuchen. Sein lächerliches Aussehen – er gleicht einem Kaliban von natürlichem Sohne des Lexikons und der Grammatik – hat ihn aus allen Lehranstalten entfernt; nur eine philologische Besserungsanstalt konnte sich noch seiner bedienen. Er bildet die 94 Ergänzung zum Gymnasium, den wirklichen Geh. Rath aller Declinationen, Conjugationen, Exercitia, Extemporalia und mathematischen Aufgaben. Er lebt so in den Lehrkursen und kennt die Manieren aller Lehrer so genau, daß er durch einen Zaubermantel an die Stelle eines Jeden von ihnen versetzt, streng logisch und grammatikalisch in dem abgebrochenen Satze seines Vorgängers fortfahren würde. Dr. Optativus ist ein Schatz für Dr. Schlagentzwei, er verhält sich zu dem großen Meister, wie die Executivbehörde zu ihrer Regierung. Den Dr. Schlagentzwei fürchten die Pensionaire, den Dr. Optativus hassen sie; beliebt ist Keiner von Beiden.

Eugen wacht am ersten Morgen seines Pensionslebens von dem gellenden Ton einer Glocke auf, welche sich wie eine metallene Klatschschwester in das Gesammttreiben der Pension des Dr. Schlagentzwei mischt. Unser Berliner Prinz war zu Hause daran gewöhnt, auf die mahnende Stimme des weckenden Vaters durch einen verstärkten und verbesserten Morgenschlaf in zweiter Auflage zu antworten, aber er bemerkt rings um sich her beim ersten Glockenton ein solches Aufspringen seiner Saalgenossen, eine solche Jagd nach den Waschschüsseln, Zahnbürsten und Kämmen, daß er den weisen Mann zu spielen beschließt und gleichfalls rasch aufsteht. Wie wohl er daran gethan, geht aus dem Gesicht des Dr. Schlagentzwei hervor, das durch die Thürritze sieht, oder vielmehr den Hutkopf, mit dem es zu so früher Tageszeit schon bedeckt ist, prüfend durchsteckt. Der Hutkopf, auf den etwas von der Scharfsichtigkeit seines Trägers übergegangen zu sein scheint, zieht sich, offenbar von der Sachlage befriedigt, zurück und die Knabengesellschaft eilt auf einen zweiten Ruf der Glocke an das Frühstück. Gleich nach diesem beginnt wieder die grammatikalische Arbeit mit dem Dr. Optativus an der Spitze. Dieser unvergleichliche Mann sieht so sehr nach »gestern« aus, daß er offenbar in seinen Kleidern und zwar zwischen den Blättern der Zumptschen Grammatik bivouakirt haben muß. Eine andere Erklärung seines ungeschwächten 95 Exterieurs ist durchaus nicht zulässig. Mit dem Gleichmuth unsterblicher Götter verbessert er sofort wieder grammatikalische Schnitzer, corrigirt Rechenfehler und zerreißt flüchtig geschriebene Hefte. Eugen kommt auf den Gedanken, daß diese Anstalt eine Plantage für weiße Knaben sein müsse. Da die Schulzeit aber nahe ist und heute nach den Ferien der Unterricht zum ersten Male wieder beginnt, eilt er mit leichterem Herzen »auf den Stall«, wie die Berliner Gymnasiasten den Musentempel klassischer Bildung zu nennen lieben. Er hofft, sich durch einige Widersetzlichkeit gegen den Ordinarius der Klasse von dem Pensionszwange zu erholen.

Als daher die Reihe an ihn kommt, die Verse des Ovid zu übersetzen, gelingt es seinem improvisatorischen Talent leicht, durch eine komische Wendung das Gelächter der ganzen Klasse hervorzuzaubern. Sonst pflegte die Folge eines solchen Intermezzo's die augenblickliche Degradation in eine niedrigere Klasse zu sein, wo Eugen eine bis zwei Stunden zubringen mußte; heut schweigt der Lehrer und ruft ohne Weiteres Eugens Nachbar auf. »Sonderbar!« denkt unser junge Ritter, »sollte man seit meinem Ausreißen mich fürchten?« Er fängt laute Unterhaltungen mit den Nachbarn aus den vorderen und hinteren Bänken an – keine Einwendung des Ordinarius! Die Stunde verfließt und Eugen ist ungestraft geblieben.

In sehr glücklichem Humor langt er Mittags zwölf Uhr in der Pensionsanstalt an. Aus natürlicher Dankbarkeit wirft er mit dem Ovid, der ihm heute so gute Gelegenheit zur Entfaltung seiner Energie gegeben hat, nach einer eingewanderten Katze auf dem Flur, und begiebt sich in den Schlafsaal an das hölzerne Reservoir seiner Bücher. Noch sind nicht zwei Minuten verflossen, als der kleine Asiate die Thür öffnet und Eugen auf das Zimmer des Doctors beordert. Der winzige Mensch von den heißen Inseln sieht sehr verlegen aus; mit dem Instinkt eines Naturkindes wittert er etwas in der Atmosphäre, das Sturm bedeutet. Dies befremdet Eugen, aber er 96 betritt festen Fußes das Allerheiligste der Pension. Der Doctor geht auf und ab, und hat den Hut abgenommen. Wenn dies bei hohen Bergen gutes Wetter bedeutet, so verkündet es bei berühmten Pädagogen Sturm und Hagel.

»Was hast Du heute in der Klasse gewagt?« ruft der Schreckliche und Eugen tritt vor dem vernichtenden Blick und der Grabesstimme einen Schritt zurück. »Was soll der Ordinarius von meiner Erziehung denken? wirst Du einziger Junge mein Haus in Verruf bringen?«

Kaum hat der Doctor diese kurze Anrede gehalten, als sich auch schon aus seinen Händen mit mysteriöser Geschwindigkeit, die nur in atmosphärischen Processen ihres Gleichen hat, ein Rohrstöckchen entwickelt und in einem rasend schnellen Zeitmaaß auf Eugens Rücken zu hüpfen beginnt. Eugen stößt einen wilden Racheschrei aus und sucht eine Deckung hinter dem Tisch in der Mitte des Zimmers, aber – unbegreiflich – ganz unerklärlich – obgleich der Doctor ruhig stehen bleibt, reicht er doch überall hin, wo Eugen sich zu decken sucht. Der Baumeister des Hauses muß mit Rücksicht auf solche Vorkommnisse mit dem Stöckchen das Maaß zu diesem Zimmer genommen haben. Zugleich wird der Doctor, wie die Temperatur während eines Donnerwetters, immer kühler und gelassener, je länger er fuchtelt. Wenn Prügel irgend wie mit Regenwasser verglichen werden dürfen, so hat Eugen keinen trockenen Faden am Leibe. Der Doctor scheint es darauf angelegt zu haben, Eugen gewissenhafter zu behandeln, als die Alten den Achill, dem doch noch immer eine verwundbare Stelle an der Ferse blieb; er ist mit seinem Styx »in fester Form« überall hingelangt.

Wir nehmen Anstand, die Gefühle eines Berliner Knaben aus gutem Hause zu schildern, der zum ersten Male in seinem Leben eine correcte Tracht Prügel erhalten hat. Von diesem Augenblick an beginnt in Eugen's Dasein eine ganz neue Zeitrechnung; der Knabe hat auch die Nachtseite der Naturwissenschaft kennen gelernt.

Seine Gefährten betrachten ihn, als er sich wieder bei 97 ihnen einstellt, mit der Ehrfurcht, die den Gemüthern der Sterblichen jedes große Unglück einzuflößen pflegt, und dann auch wieder mit der Genugthuung, abermals einen Genossen des gleichen Mißgeschicks zu besitzen. Wäre Eugen schon tiefer in die Sitten des Hauses eingedrungen, er wüßte, daß jeder jugendliche Bewohner desselben einmal eine solche Tracht doch erhalten muß. Wie der wahre Dichter die Weihe des Leidens, so genießt hier jeder Ankömmling seine Tracht und wird erst dadurch eingebürgert. Ehe er den schnellen Rohrstock des Doctors nicht gekostet, heimelt Keinen das Haus an. In dem Stäbchen liegt etwas Magisches; es bannt die Zöglinge, stimmt ihre Sitten milder, beflügelt ihren Gang, schärft ihr Gedächtniß, beschleunigt ihre Federn und besänftigt ihre Rede, auch wenn sie nie wieder mit ihm in Berührung kommen.

Der Knabe von Berlin bessert sich sichtlich. Seine Hefte nehmen die Gestalt menschlicher Aufzeichnungen wieder an und gleichen nicht wie früher zufällig zusammengewürfelten Naturbildungen aus Papier, Tinte und grauem Zwirn. Er widerspricht den Lehrern nicht mehr, da ihm jetzt die wunderbare Wechselbeziehung zwischen Schule und Haus aufgegangen ist. Auch wandelt er nicht mehr hinter die Schule, vielmehr betrachtet er diese schon als einen Zufluchtsort gegen die Arbeitsstunde in der Pension, wie die Strafgefangenen sich an den Wegeverbesserungen im Freien, wo sie nur von Soldaten bewacht werden, von der Arbeit unter den Augen der Aufseher in der Anstalt erholen. Selbst in seiner Klavierstunde überkommt ihn etwas von musikalischem Genius; er übt, während er früher nur lose Streiche gegen seinen armen Lehrer verübt hat. Wenn sein Leben sich auch weiterhin in ähnlicher Consequenz der Tugend und Folgsamkeit entwickelt, muß Eugen einst eine Zierde des Staates, vielleicht gar ein Geh. Rath werden. Man denkt bei ihm zu Hause bereits an eine solche Carriere, und aus Erkenntlichkeit beschließt der Vater, dem Doctor Schlagentzwei, dem Regenerator seines Jungen, um Weihnachten eine »nachhaltige« Freude zu machen.

98 Die Geburtstage eines Pensionsvorstehers und seiner Gemahlin, namentlich aber das Weihnachtsfest, sind die Solitaire im Kranze des Jahres. Damit soll nicht behauptet werden, daß die Eltern der Berliner Pensionaire nicht auch zu anderen Zeiten ihre Erkenntlichkeit zu beweisen suchten. Das Bewußtsein, einen Taugenichts ohne Aufwand von eigener Mühe und Sorge gebessert zu sehen, ist wirklich Rehböcke, Hasen, Baumkuchen, Körbe mit Wein und Früchten werth. Um Weihnachten darf man einer Pension in höherem Style nicht mit Victualien kommen; unter Krystall, Porzellan und Silber wagt man ihr nichts anzubieten. Die Servante der Frau Dr. Schlagentzwei, in der die wackere Dame noch nach guter alter Sitte ihr Silber aufbewahrt, will von Dankbarkeits-Zuckerkörben, Freundschafts-Fruchtschaalen und Rührungs-Tassen mit goldenen Theelöffeln fast aus ihren Fugen gehen. Eugens Vater hält es unter seiner Würde, etwas in die Wirthschaft zu schenken: er fragt seinen jetzt wieder hoffnungsvollen Sohn, was dem Doctor wohl Freude machen würde? Der Knabe hat Anfangs nicht üble Lust, seinen Erzeuger ein wenig zum Besten zu haben und einige sehr merkwürdige Geschenke vorzuschlagen, als da sind: zwei goldene Laubfrösche in einer Punschbowle (ein Symbol der in Potsdam hinterlassenen armen Creaturen) oder einen ächten Rohrstock mit einem Smaragdknopf zum Durchwalken kleiner Knaben, oder auch einen neuen – Hut, allein er entschlägt sich der spaßhaften Gedanken und bringt eine goldene Tabacksdose in Vorschlag. Der Doctor nimmt nämlich zuweilen heimliche Prisen zur Wiederherstellung des nervösen Gleichgewichts oder zur Erweckung schwungvoller pädagogischer Inspiration – er nimmt sie – horribile dictu – wie der Doctor von schnöden Aufsätzen zu sagen pflegt, aus einer leidigen Papierdüte; was könnte ihm angenehmer sein, als ein goldener Behälter für seinen ausgetrockneten Chausséestaub!

Die Dose wird am heiligen Abend, begleitet von einer gestammelten Rede, übergeben und mit Herablassung 99 angenommen; fast gleichzeitig erhält der Director ein hübsches Oelgemälde, angeblich den Gewinn aus der Verloosung des Kunstvereins. Wenn je eine schlimme Sache zum Besten gewandt worden ist, so sind darunter die Angelegenheiten Eugens zu verstehen. Der Rohrstock in der Stube des Dr. Schlagentzwei ist für ihn jetzt ebensowenig vorhanden, als der vergiftete Pfeil irgend eines Indianers in Südamerika, er darf auf seiner Kommode im Schlafsaal ein Glas mit Eidechsen und Salamandern halten, ja er wird selbst nicht angeschnauzt, als er einmal die Hausordnung übertritt und nach zehn Uhr an einem Sonntage nach Hause kommt. Alle Parteien sind versöhnt, nur ein Mann wandelt ewig unbeachtet und unbeschenkt im Arbeitssaal umher, der Homunculus der Grammatik, der schweinslederne Dr. Optativus. Keine Dose, keinen Löffel, keine Sahnenkanne, nur alle Weihnachten eine Sandtorte und zwei Flaschen holzsauren Medoc von dem Schlagentzwei'schen Ehepaar, sonst bringen sie ihm nichts ein – die gebesserten Knaben von Berlin. 100

 


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