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Die warmen Strahlen der Julisonne erhitzten die Atmosphäre unter unseren Strohhüten und zwangen uns wiederholt, sie vor ihr ehrerbietig zu lüften, als wir, aus einer Stettiner Droschke steigend, an Bord des gekupferten Dampfbootes Merkur gingen, dem wir uns bis Swinemünde anvertrauen wollten. Das Schiff hatte ein Zutrauen erweckendes Aussehen. Der weiße Kopf des Merkur mit dem blank vergoldeten Flügelhute sah zuversichtlich in die gelbgraue Oder hinab, gepolsterte Bänke und reinliche Feldstühle standen und lagen in regelmäßiger Ordnung auf dem Hinterdeck und die Mannschaft nahm uns zuvorkommend unsere Sachen ab. Man wolle sich nicht durch romantische Seeschreiber, wie den Capitain Marryat und den guten Smidt, vom Meere abschrecken lassen. Wer sein Passagiergeld bezahlt, hat nicht zu befürchten, wie die jungen Midshipmen, welche als junge Taugenichtse von ihren Familien an Bord geschickt werden, der bekannten Seemannsgrobheit zu verfallen. Auf einem Oderdampfboot ist Alles noch süß wie das Wasser, und doch ragt schon ein wenig von der maritimen Biederkeit in das Gebahren der Mannschaft herein. Die Paketträger der Eisenbahnen sind zartfühlende behutsame Operateure an Koffern und Schachteln gegen die hartherzigen Matrosen, die euer Gepäck in den Schiffsraum versenken. Man lernt erst die kräftige Constitution eines Koffers und 129 die zähe Opposition eines Bettsackes kennen, wenn man sieht, wie sie unter Deck wie in die Hölle versenkt werden; aber man zittert für irgend ein Kästchen weiblichen Geschlechtes mit einem französischen Hute oder für eine Pappschachtel, der das precaire Dasein eines Gibus anvertraut worden ist. So blickt ein Philosoph seinen Lieben nach, wenn sie in die Gruft versenkt werden. Der Glaube tröstet ihn, daß er sie alle wohlbehalten wiedersehen werde; der Zweifel flüstert dazwischen – es ist eine Trennung für immer! Der gefräßige Schlund der dunklen Lücke verschluckt Alles und zwei dämonisch verbrannte und mit Theer parfümirte Hände langen fortwährend aus einer räthselhaften Tiefe, wie das Verhängniß der Oderschifffahrt empor, und fordern neue Opfer. Und auf allen Gesichtern aller ankommenden Passagiere liest man immer dieselbe schmerzliche Empfindung und denselben Zweifel an einer dereinstigen Auferstehung. Die Maschine im Raume geht das nichts an. Sie brodelt, unbekümmert um die schwachmüthigen Sorgen der in's Seebad reisenden Menschheit, ihr heißes Wasser, und bringt ein Geräusch hervor, als wenn ein Cyklop vor langer Weile mit riesigen Fingern auf einem eisernen Schilde trommelte. Allmählich hat sich das Verdeck gefüllt und Stühle und Bänke sind reichlich besetzt. Schon irrt der einzige Schiffskellner mit bitteren Sicherheitsschnäpsen auf dem ersten Platze umher und präsentirt sie einigen Personen mit besonders zaghaften Gemüthern und empfindlichen Magen. Schon werden kleine Flaschen mit Porter von jungen Leuten vertilgt, denen man ansieht, daß sie für alte Weltumsegler gehalten werden wollen. Schon zittern einige nervenschwache Frauenzimmer, als die weiße Büste des Merkur eine unangenehme Verneigung gegen den ernsthaften schwarzen Wladimir, das große russische Postdampfschiff, macht, das sich zur Abreise rüstet und viel von einem wanzenartigen Gekrabbel seiner rothbefriesten Matrosen auszustehen scheint. Um die Geister noch mehr einzuschüchtern, wird jetzt die Schiffsklingel mehrmals heftig geläutet, worauf noch verschiedene 130 Personen und Obstkörbe an Bord eilen und es sich auf dem Vorderdeck bequem machen.
Endlich ist der entscheidende Moment der Abfahrt eingetreten, die Maschine stößt Laute des verbissenen Ingrimmes aus, der Merkur schießt in die Mitte des Flusses, und die verwegenen Seefahrer aus allen preußischen Provinzen und angrenzenden Landestheilen werfen noch einen wehmüthigen Blick auf das gastliche Ufer Stettins zurück, das so lieblich nach frischem Theer und bejahrten Seefischen duftet. Da erschallt von der Backbordseite ein banger Ruf – »Himmel – es ist doch Niemand in's Wasser gefallen?« – hört man die Damen schreien – ein Tau wird hinabgeworfen, die Maschine gestopft – man wirft eine Strickleiter aus – ein schäbiger Mann mit einer Clarinette klettert über die Galerie, ein dito mit einer Posaune, mehrere dito mit noch mehreren Clarinetten, Trompeten und Posaunen. Alle Besorgnisse sind zerstreut; es ist nichts Unglückweissagendes vorgefallen; der Merkur hat nur seinen täglichen Bedarf an Schiffsmusik eingenommen.
Jetzt sind sämmtliche Hindernisse beseitigt; nichts steht unserer Betrachtung der harmlosen Schönheit der Oderufer entgegen, aber die Prüfung der Passagiere verspricht ungleich ergiebiger zu werden. Fangen wir mit der polnischen Familie an, mit der polnischen Familie, die nicht eine feine großstädtische cultivirte Familie ist, sondern die Blüthe des sarmatischen Landlebens, der unverfälschte Ausdruck des alten Polens, das Napoleon charakterisirte, wenn er ihm nachrühmte, daß er dort ein fünftes Element, den D . . . k kennen gelernt habe. Vielleicht gab es noch nie einen Verein von erträglich modern gekleideten Frauenzimmern – die polnische Familie ist nämlich vollkommen herrenlos – dem der Stempel der Bedürftigkeit einer längeren Reihe von Bädern und Abwaschungen so auf die Stirn, auf die Hälse und – Finger geprägt wäre! Man erstaunt noch mehr, wenn man aus ihren lebhaften Gesprächen und Fingerzeigen erräth, daß sie mit der 131 Gegend bekannt sind, also schon mehrmals die Reise gemacht haben, denn die erdartigen Ablagerungen auf ihrer Oberfläche lassen auf eine Jahre lange ungestörte Ruhe der Niederschläge zurückschließen. Ja ein Geognost würde möglicherweise diese polnischen Frauenzimmer in die Periode der Alluvialbildung, wenn nicht noch weiter hinauf datiren. Ihre unglaublich leichte Bekleidung beunruhigt aber nicht weiter den Menschenfreund wegen möglicher Erkältungen, da sie augenscheinlich im Schutze ihrer natürlichen Erdrinde sich einer behaglichen und gesunden Temperatur erfreuen.
Eine andere Familie kommt aus dem Innern der Provinz und wahrscheinlich aus einer jener kleinen Städte, deren Namen nur von der Presse erwähnt wird, wenn sie von Gewitter, Hagelschlag oder einem Bösewicht überfallen worden, der ihre Gebüsche unsicher macht oder im Schulsaal ein Klavierconcert giebt. Wer die Geschichte Noah's aufmerksam gelesen hat, kann sich eine Vorstellung von diesem angenehmen Bunde verwandter guter Menschen machen. Sie hat, wie der Erbauer der Arche, Alles mitgenommen, sogar die räderlose Karre des jüngsten Söhnchens, die kopflose Puppe des Töchterchens und alle langen Pfeifen des Stammvaters. Forschen wir nicht weiter im Schiffsraum nach, was diese Provinzialfamilie noch weiter mitgenommen hat, sie scheint sich von nichts trennen zu können und zu Allem fähig zu sein.
Dort sitzt ein altes gemüthliches Ehepaar bei einander, zärtlich wie zwei vertrocknete Pflaumen an einem Zweige, von dem sie die Herbststürme nicht herabzuschütteln vermochten. Er scheint ihr Muth zuzusprechen; sie hört ihm zu, wie er ihr vor fünfzig Jahren etwas Anderes zugesprochen hat, was weniger für die Oeffentlichkeit war, als die Seekrankheit. Mehrere Herren verwahren sich durch Mienen absoluter Sicherheit gegen den Verdacht, eine so niedrige Krankheit zu bekommen, Andere nehmen Ballast von Beefsteaks und Karbonaden ein, um sicherer im Fahrwasser zu gehen, und noch Andere, als deren Repräsentant 132 wohl ein anscheinend wenig mehr als dreißig Pfund und einige Loth wiegender Herr mit einem feinen frostigen Strohhütchen und einem dünnen Stöckchen gelten kann, schlürfen kühlende säuerliche Getränke. Augenscheinlich bereitet sich die ganze Gesellschaft an Bord nach den besten Theorien zum Empfange jenes Ungeheuers vor, das da draußen auf der weiten Fläche zu lauern scheint, welche der Capitain »das Papenwasser« ueuut, eine erweiterte Oder oder ein verengertes Haff!
Als ob sie gegen alle düstere Ahnungen ankämpfen wollte, beginnt jetzt die Schiffsmusik ihre Bestrebungen, allein es ist schwer, sie näher zu beschreiben. Zwar lassen sich nicht alle Vermuthungen unterdrücken, daß es doch wohl Märsche und Tänze mit bekannten Namen und von beliebten Componisten seien, was diese Blech- und Holzinstrumente verarbeiten, allein auf der andern Seite sprechen triftige Gründe wieder dagegen. Die eignen Zuthaten der Schiffsmusik überwiegen nämlich in einem so hohen Maaße, daß man diese Märsche und Tänze nicht allein für ihr unbestrittenes Eigenthum, sondern auch für Schöpfungen in voller Unabhängigkeit von allen pedantischen Clauseln der Harmonielehre erklären muß. Diese Ansicht gewinnt an Bestimmtheit, nachdem man ihre Leistungen mit ihren geschriebenen Noten verglichen und sich überzeugt hat, daß sie sich eben so wenig danach richten, als die Staaten nach den Vorschriften der Religion, von der sie sich »christliche Staaten« nennen. Auch sehen diese Musiker weit »unabhängiger« aus, wie wir uns vorsichtig zur See und an einem Bord mit ihnen ausdrücken, als die vagabondirenden Talente des Festlandes, sie verhalten sich zu diesen, wie die Barbaresken des Mittelmeers zu den regelmäßigen Kapern; auch in Betracht der Collekte unterscheiden sie sich wesentlich von ihnen. Selbige wird nämlich durch eine alte, einst grün lackirte Büchse von der Größe eines jungen hoffnungsvollen Wallmörsers vollzogen und verräth bei dem herausfordernden Schütteln ihres Trägers einen eisernen Fond von Hosenknöpfen.
133 So sehr die Musik, die Meister der Töne, ihre Art, das Honorar einzukassiren, auch die Seefahrer beschäftigen, so wenig können sie die Seekrankheit entfernt halten. Ein frischer Nordwester kommt dem Merkur aus dem Haff entgegen und das alte brave Schiff, das schon von verschiedenen jugendlicheren Dampfböten zum Aerger aller Jünger Merkurs überholt worden ist, stampft ungeduldig mit seinen nassen Beinen und wehrt sich gegen den zudringlichen Wind.
»Wenn wir bei der Insel Wollin vorbei sind, kommen wir wieder in ruhiges Wasser,« soll der Capitain in der Nähe des Verschlages bemerkt haben, wo die hitzigen Getränke verkauft werden und wo jetzt eben ein starker Andrang stattfindet. Der Andrang der Geister der Tiefe ist indessen mächtiger als die Kraft der hochfahrenden spirituösen Geister; es beginnen die Opfer auf dem Altar des Poseidon!
Zuerst fällt die älteste Tochter einer liebenswürdigen Familie. Ach, nicht die Ermahnungen eines würdigen Vaters, nicht das Flehen einer zärtlichen Mutter konnten sie retten! Lang ausgestreckt auf eine Bank, wirft sie jämmerliche Blicke auf die hartherzige Menschheit – ha, wer lacht da? – ja es lachen wirklich Einige – ganz besonders der kleine Kerl mit der Tabacksnase aus Angermünde! Kaum ist diese erste Blüthe geknickt, so sieht man die Mannschaft des Schiffes mit ganz neuen weißverzinnten Blechpfannen umherschleichen und sie heimlich unter Stühle und Bänke schieben. Der Anblick dieser verdammten Blechpfannen, die Niemand für das hält, was sie sein könnten, für Beefsteakmaschinen, läßt die Empörung ausbrechen. Das alte Ehepaar wird schwer betroffen. Er hält nicht mehr ihre Hand, er hält ihren Kopf! Die Provinzialfamilie ist vollkommen zersprengt und in ihre einzelnen Mitglieder aufgelöst, und diese Mitglieder gebehrden sich wieder im Einzelnen, als sollten auch sie gewaltsam zersprengt werden. Der leicht wiegende Herr ist wie weggeblasen – hoffentlich ist er nicht durch Versehen 134 mit dem Inhalt seiner Blechpfanne über Bord gegangen. Die Menschen sind indessen nicht so schlecht, als eine alte stehende Redensart behauptet; es macht sich an Bord ein allgemeines Mitleid geltend – weil sich Keiner mehr ganz sicher fühlt. Nur mit Einem hat Niemand Mitleid, trotzdem dieser Eine gerade am härtesten vom Schicksal geschlagen worden ist. Der kleine Kerl aus Angermünde, der sein ganzes Gepäck, lauter mit »Angermünde« fett signirte Schachteln, bei sich hat, der zuerst über die Leiden der Maid gelacht hat – dieses moralische Ungeheuer ist seekrank geworden. So seekrank, daß eine Blechpfanne sich zu ihm verhält, wie eine Tasse zu dem Inhalte eines Oxhoftes, daß er sich weit über Bord hinausgelegt hat und hinausbrüllt in das Haff, wie ein am Meere gelegener Vulkan. Aber es hat Niemand mit ihm Mitleid, er ist so unpopulair, daß jedesmal, wenn er einen neuen Anlauf zu seinen Expectorationen an die Gottheiten des Haffs nimmt, die ganze, noch gesunde Gesellschaft ein höllisches Hohngelächter aufschlägt und nur ein grauer Bootsmann bei ihm bleibt und ihn bei den Beinen an Bord hält, so wie er die Gepäckstücke mit »Angermünde« überwacht. Nur eine Gruppe zeigt sich vollkommen taktfest gegen die Seekrankheit: die ganze polnische Familie, und die Verfasser von Reisehandbüchern zur See dürften sich als Mittel gegen die Seekrankheit für die Folge wohl nicht jene besondere Eigenthümlichkeit der Familie als »konservativ« entgehen lassen.
Das früher geäußerte Gutachten des Capitains zeigt seine Richtigkeit. Kaum ist die sandige und mit Fichten bewachsene Küste der Insel Wollin passirt, so hört das impertinente Schaukeln des Schiffes auf, die Passagiere richten sich einer nach dem andern wieder auf, Niemand riecht mehr an Citronenscheiben und eine enorme Menge Tassen mit schwarzem Kaffee wird herumpräsentirt. Columbus, als an jenem verhängnißvollen Morgen endlich die Küste von Amerika vor ihm aufstieg, konnte nicht vergnügter ausgesehen haben wie die Seefahrer, als endlich 135 der bescheidene Hafen von Swinemünde sie empfing und die Eingebornen des Landes, sämmtlich am Quai aufgestellt, sie mit gastlicher Neugier zu erwarten schienen. Noch einmal schnarchte die Schiffsmusik in ihre Trompeten, noch einmal röchelte die Maschine und dann legte der Merkur bei.
Die Menschen hatten nun zwar die Gefahren der Seereise überstanden, aber es fragte sich, wie dieselbe dem – Gepäck bekommen war? Als wenn in dem Schacht eines Bergwerks ein Unglück geschehen ist, drängten sich die Inhaber um die Luke, aus der nun die Gepäckstücke eben so wild gen Himmel flogen, als sie zur Hölle gefahren waren. Die weise Einrichtung des Gepäckzettels besteht nicht zur See; hier mußte Jeder sehen, wo er bleibe, wie er's treibe – und wer steht, daß er nicht falle, denn die Frauenzimmer hatten sehr spitzige Ellenbogen und arbeiteten sich ohne alle Rücksichten gegen Milz und Leber der männlichen Reisenden nach vorn durch, um ihr Theuerstes – ihre Bettsäcke wieder zu erhalten. Und nun ereignete sich das Unerwartetste, das Wunderbarste: Alles kam wohlerhalten an das Tageslicht. Wie beim Tischrücken schienen alle Gesetze der Mechanik aufgehoben zu sein, große Matrosen standen auf Pappschachteln, ohne sie zu zerquetschen, schwere Koffer quetschten Mantelsäcke und Reisetaschen, ohne daß sie barsten, und alle Hutschachteln waren am Leben geblieben. Nie feierte die Menschheit nach langer Unterdrückung ein schöneres Fest der Wiedervereinigung mit ihren heiligsten Gütern, und dieses Fest wurde an der Küste von Swinemünde gefeiert!
Der berühmte Badeort, das nasse Ziel unserer touristischen Bestrebungen, liegt hart an der Swine, dem mittleren Ausfluß der Oder, und wird gegen die Fluthen derselben durch ein Bollwerk aus Holz und Steinen, gegen die Fluth der historischen Umwälzungen aber durch seine Unbedeutendheit geschützt. Zur Beruhigung für alle diejenigen, welche vor einer etwa sogleich folgenden antiquarischen Auseinandersetzung zittern sollten, bemerken wir 136 sogleich, daß von Niederlassungen der Römer keine Spuren vorhanden sind, daß aber allerdings, um ein für alle Mal den historischen Punkt zu beseitigen, phönizische Münzen gefunden sein mögen, wenn man aus dem noch in erfreulicher Frische herrschenden numismatischen Eifer der Einwohner einen Rückschluß auf die Zustände ihrer Vorfahren wagen darf. Denn nur aus der Hoffnung, gelegentlich seltnere Stücke zu finden, läßt sich die Begierde erklären, welche sie nach allen Geldsorten der ankommenden Badegäste äußern. Außerdem giebt es in dem Orte wenig Altes, ausgenommen das – Fleisch, welches theils weit hergebracht werden muß, theils so lange aufbewahrt wird, bis es eine gewisse Weihe der Vergangenheit erhalten hat, doch machen einige öffentliche Orte von dieser Regel eine rühmliche Ausnahme. Die Einwohner selbst sind Ichthyophagen der strengsten Disciplin und kochen alle Fische grün, verstehen es aber nicht, sie nach den Regeln der Kunst zu braten, indem sie dieselben, wie die Inquisition ihre Ketzer, meistens ohne Butter dem Feuer anvertrauen, woraus jener schmerzliche Zustand derselben entsteht, den wir mit dem Ausdruck »gesengten Hauptes« bezeichnen. Jeder berühmte Ort hat seinen Nationalgeruch; Berlin duftet nach den Rinnsteinen, Venedig und Hamburg nach den Kanälen, Moskau nach Juchten, München nach Bierhefen, Scheermeißel nach Knoblauch und Swinemünde nach Theer und geräucherten Flundern. Letztere Bewohner des Meeres bilden sowohl einen wichtigen Exportartikel, als auch ein Hauptnahrungsmittel der Einwohner. Wenn sie aber alle größeren Exemplare mit abgerissenen Köpfen – der Flundern nämlich – auf Reisen zu schicken pflegen, so lieben sie es, aus den kleineren Fischen Packete von Dreien zu machen, welche aus je zwei dickeren Stücken als Einband und einem ganz dünnen Dinge als Materie bestehen. Hierin wird jeder denkende Geist unter den Neueren die unverkennbare Aehnlichkeit mit Musenalmanachen und Gedichtsammlungen erkennen. Da dieses Triumvirat von Flundern durch einen 137 mitten durchgezogenen derben Zwirns- oder Wollenfaden, der zuweilen von alten Strümpfen herzurühren scheint, miteinander verbunden sind, so sieht ein solcher Flundervorrath in der Entfernung eines Pistolenschusses, wie eine in Unordnung gerathene Bibliothek von lederbraunen Klassikern aus. Diese Speise würzen die Landeskinder durch die vortrefflichen Kartoffeln, die sie in dem noch vortrefflicheren Sande der heimischen Scholle bauen, in Betreff alles Uebrigen aber blicken sie vertrauungsvoll nach Stettin und nach dem Meere. Die Fauna der Gegend ist nicht mannigfaltig, doch pflanzen sich die vorhandenen Thiergeschlechter mit außerordentlicher Fruchtbarkeit fort. Ein Aussterben des Flohs steht nicht zu befürchten, auch herrscht ein Ueberfluß an Mücken der verschiedenartigsten Größe, welche zwischen der Natur des ausgewachsenen Maikäfers und der jungen, eben dem Schweizersahnenkäse entflohenen Fliege hin- und herschwankt. Außerdem hält sich die Saison über in der Strandgegend eine gewisse Klasse von grauen breitköpfigen Stechfliegen auf, denen die Damen, welche von diesen galanten Insecten bevorzugt werden, große rothe Beulen verdanken, die indessen nur wenige Tage anhalten und durch ihre Aufforderung zu anhaltendem Kratzen eine allen Badegästen heilsame körperliche Bewegung veranlassen. Was sind aber alle Uebelstände, der Mangel eines zarten Beefsteaks und eines fetten, kräftig duftenden Portweins, gegen die unermeßlichen Wohlthaten des Seebades und der Seeluft! –
Es war an einem Sonntage in den friedlichen Morgenstunden, wann die Konstabler die Ladenbesitzer auffordern, sofort die Läden zu schließen, die Droschken an den Kirchen langsam vorbeifahren müssen, der Briefträger bei der uckermärkischen Havannah seine Siesta hält, der greise Wüstling über den Hof in den Weinkeller schleicht, um den heimlichen Madeira zu schlürfen: als ich am Ufer des Meeres spazieren ging. Die Ufer von Heringsdorf und Misdroy lagen im hellen Sonnenschein. Um die 138 Tannenwaldung ihrer Hügel spann sich ein zarter blaugrünlicher Dunst und der dürftige Sand sah auf zwei Meilen Entfernung so golden romantisch aus, wie die italienische und deutsche menschliche Bettelarmuth in den Bergen. Aus Nordwest wehte ein frischer Wind herüber und jagte die Wellen immer höher auf den Strand, die reine Bläue der Gewässer sprach anregend zum Geiste und das Brausen der Brandung blies wie eine Trompete ganze Geschwader von guten munteren Gedanken wach. So wandelte ich im Herrn vergnügt, denn ich war ganz und gar mein eigener Herr, in der köstlichen feuchten Meereskühle, als zu meinen Füßen aus der letzten Welle die schwarzen glatten Haare eines menschlichen Hauptes auftauchten. Langsam hob das Wasser die stolze Zier der Stirn und rann dann zurück, indem sich die Haare wieder an den Schädel schmiegten, der tief im Sande vergraben schien. Himmel! was war das? Welcher unglückliche Schiffbrüchige hatte hier, fern von der trauernden Gattin und den zarten Kindlein, das nasse Bett gefunden, wo nach Klopstock's schönen Worten »Stürme das Grab ihm erhöh'n!« Oder hatte der Mord die hagern harten Hände aus dem Hinterhalte nach einem beklagenswerthen Badegaste gestreckt? Gab es außer den bekannten Verbrechern des Pitaval noch unerforschte Strandmörder? Hatte sich vielleicht ein Leander von Swinemünde um eine Hero zu Heringdorf bemüht und war ein Opfer der göttlichen Leidenschaft geworden, die selbst die Geschlechter der Fische beherrscht? Waren es endlich die sterblichen Reste eines unvorsichtigen Badegastes und hatte die Badedirection die unverzeihliche Nachlässigkeit begangen, sich weiter nicht um die fernere Carriere des Ertrunkenen zu bekümmern?
Die Scene unterbrach schmerzlich meinen Sabbathfrieden, aber die Religion und das Strafgesetzbuch legten mir strenge Pflichten auf und verboten mir jedes feige Zaudern. Die Religion sagte: Rette ihn, wenn Rettung möglich ist; das Strafgesetzbuch rief: Gehe hin und mache die Anzeige, damit man constatire, ob Kennzeichen äußerer 139 Gewalt vorhanden sind und in diesem Falle auf die Thäter fahnde! Zwischen Kirche und Staat entschied ich mich für die Erstere. Von dem Ertrunkenen oder Gemordeten ragte nur der Scheitel aus dem Sande hervor und ließ auf ein jugendlich blühendes Lebensalter schließen; der ganze übrige Körper lag tief im Sande und schien absichtlich fest verscharrt oder auch durch die Gewalt der Winde nach und nach mit Sand bedeckt. Wollte man Hülfe bringen, so mußte man zuerst den Kopf frei machen. Nach längerem Suchen fand ich endlich ein zugespitztes Stück Holz, das zu meinem Zwecke dienlich war. Mit vorsichtigen Händen begann ich den Sand an der Seite wegzuräumen, um nicht den armen Leichnam zu verletzen und vielleicht die spätere Obduction auf Irrwege zu führen, die leicht den möglichen Prozeß so verwirren konnten, als die bekannten Tätowirungen in der Ebermannschen Streitsache – da wich plötzlich das behaarte Haupt vor meinem improvisirten Spaten zurück. Erschrocken suchte ich es festzuhalten und hob auf der Spitze des Holzes – eine schöne neue Perrücke aus der See. Die Aermste war beim Baden ertrunken. Ihr junger eitler Herr ging vielleicht auf Freiersfüßen und wollte sein zartestes Geheimniß selbst nicht vor Bademeistern und schwatzhaften Badegästen enthüllen, oder gar seine Kahlköpfigkeit von dem mitbadenden Schwiegerpapa enthüllen lassen. Er war, vertrauend auf die Kunst der modernen Friseure, in das Reich Neptun's hinabgestiegen, als ihn der zornige Gott erfaßte und sich die Erstlinge seiner falschen Locken als Opfer ausbat. Thränenden Auges mag er dem falschen Kopfschmuck, der ihn zum Antinous machte, nachgeblickt haben – er mag an jenem Tage nicht an der Table d'hôte erschienen, sondern so lange bettlägerig und von unerhörten Kopfschmerzen gefoltert worden sein, bis Lohsé von Berlin einen neuen »Jüngling« geschickt hatte. Mit Pietät zog ich die Perrücke weiter auf den Sand, trug sie dann auf eine Bank und hing sie über das Geländer, um sie von Sonne und Wind trocknen zu lassen; dann ging ich von 140 dannen, in dem lohnenden Bewußtsein einer vollbrachten guten That, und forschte abermals nach dem Auswurfe der Ostsee. Mein erster Fund hatte mir Muth und Lust gemacht, die Erzeugnisse des Meeres gründlicher zu erforschen. Wer das Haar eines göttergleichen Jünglings gefunden hatte, konnte auch so glücklich sein, wenn nicht eine ganze schaumgeborne Aphrodite, so doch einzelne in Paris verfertigte Theile derselben, als Strandgut zu entdecken und sich nach dem alten Strandrecht anzueignen. Doch die Gunst des Schicksals lächelte mir nicht ferner, oder die Lockenscheitel des schönen Geschlechts saßen fester; ich fand nichts weiter, als einige von der See ausgeworfene Cigarrenenden, Tang, Gräten, todte kleine Heringe, Flundern und winzige kleine Muscheln. Der Strand der Ostsee hat nichts gemein mit dem Conchylienreichthum der kaufmännischen Schaufenster von Swinemünde, wo die köstlichen Papiernautilus, Riesenmuscheln und Korallen sauber geglättet paradiren. Der Ostseestrand ist ein Proletarier; was man nicht hineinwirft, kann er auch nicht ans Land werfen.
Als ich in meine Wohnung heimkehrte, war das Resultat meines ersten Fischzuges verschwunden. Der rechtmäßige Eigenthümer schien sich die Perrücke nicht wieder angeeignet zu haben, allein einige Fischer, die ihre Netze am Sabbath ausbesserten, lächelten so vergnügt, als ob sie einen kolossalen Stör gefangen hätten. Was hatte ich gethan? Welche Folgen konnte meine menschenfreundliche Gesinnung haben? Wenn nun die gebräunten stämmigen Männer nach Swinemünde hineingingen, der hohen Obrigkeit diese »Ergänzung« zu einem ordentlichen jungen Manne übergaben, und nun im Badeanzeiger das Signalement derselben nebst Finderlohn veröffentlicht wurde? – Erschüttert floh ich von dannen und verbarg heimgekehrt mein Haupt in einen Teller vortrefflicher Aale, bei denen ich mir zuschwur, nie wieder fürwitziger Weise den Strand zu durchforschen, sondern mich am andern und den folgenden Morgen ungetheilt den Studien im Männerbade 141 zu widmen und auch wohl geeignete Nachforschungen über die Ereignisse und Sitten der Besucherinnen des Frauenbades anzustellen.
Die Gesellschaft in einem Seebade wird nicht im Gesellschaftshause, im Salon, am Kartentisch, an der Table d'hôte erkannt; um hinter ihre Geheimnisse zu kommen, muß man wenigstens bis an die Kniee ins Wasser gehen. Die Gesellschaft des Seebades muß studirt werden, wenn sie sich Angesichts des Meeres enthüllt, wie die große Gemeinschaft der Menschen Angesichts des Moralgesetzes. Dem Wasser und dem Moralgesetze gegenüber sind alle äußeren Hüllen und Trugdekorationen vom Uebel. An der Schneegränze und am Niveau des Meeres hören alle conventionellen Schnurren auf. Die Affenschande von Rang und Ehre wohnt in den mittleren Regionen, wo der Hafer und die Disteln wachsen. Schiller, wenn er sagte: »Auf den Bergen ist Freiheit!« hätte hinzusetzen können: »und am Strande des Meeres!« Es gilt dasselbe von beiden Linien, wo die Vegetation und mit ihr die krause, verworrene, vielfach zerfaserte und zerrissene Gesinnung des Menschen aufhört! Im Wasser sein, heißt im Grabe sein, und über die letzten Grashalme hinausschreiten, ist schon ein Vorgeschmack von dem friedlichen Erloschensein, wenn die Grashalme über uns eine strenge Schneegränze gegen die unruhigen Lebendigen bilden.
Wie die Inquisition, als sie ihrer Zeit das Scepter der Welt führte, im Feuer alle Differenzen ausglich und sämmtlichen Ketzern die gottlosen Gesinnungen ausbriet, so schicken heute die Aerzte ihre sämmtlichen Patienten ins Seebad und lassen sie von dem mächtigen Elemente auswaschen, wenn sie gegen die Dogmatik des Gesundheitskatechismus gesündigt haben. Im Seebade kommen daher alle Ketzer in Sanitätsangelegenheiten zusammen. Die Stubenhocker und Bücherwürmer, die Aktenmenschen und Kriegshämorrhoidarien (denn das heutige Kriegswesen gehört offenbar schon in die Branche der sitzenden Lebensarten), die abgeblaßten Mädchen und die bleichsüchtigen 142 Knospen, die Mütter und solche, die es werden wollen, die Väter und ihre Stellvertreter: sie alle kommen im Seebade zusammen.
Die Galerie von Badezellen ist eine reichere Fundgrube für Beobachtungen, als die Foyers der größten Theater, die Kirchenstühle, die Whistpartien, die Theezirkel, die Parlamente und die Expectorationen der Presse. Ueberall reservirt sich der Mensch einen letzten Rest von einer Maske, einen schwachen Anflug von Schminke; wenn aber der letzte Strumpf gefallen ist, wenn das Hemde am Nagel hängt und der Bademantel »den Menschen an sich«, entkleidet von allen den elenden Abstractionen der Welt, wie das Leichentuch umfangen hat, dann sehen wir, was wir an einander haben, und frei von den äußeren Schranken und den »Leute machenden Kleidern«, spricht der Mensch zum Menschen: Die jetzige Generation ist sehr mager, ganz außerordentlich mager!
Nachdem alle norddeutschen Organe über die Thierschau des Längeren und Breiteren ohne alle falsche Scham gesprochen und ihre unverhüllten Meinungen über die Gestalten von Pferden, Ochsen, Schafen und Schweinen gesagt haben, glauben wir keinen Anstoß zu erwecken, wenn wir bei der seltenen Gelegenheit einer Menschenschau unser Gutachten über die verschiedenen Mästungsmethoden und Stallfütterungen abgeben. Aus dem Exterieur der heutigen Menschheit, wie sie in den mehr als fünfhundert Exemplaren eines Ostseebades an den Tag tritt, läßt sich nur auf eine mangelhafte Naturalverpflegung und sehr schlechte Abwartung schließen. Im Ganzen wird offenbar noch schlechter gefüttert, als geputzt. Die gediegenste Klasse sind augenscheinlich mehrere würdige Oekonome und Amtleute. Sie sind gut bei Fleisch, von kräftigem Muskelbau und vortrefflichem Humor zu Wasser und zu Lande. Es schmerzt uns, dasselbe nicht von den anwesenden Militairpersonen sagen zu können. Wir sprechen namentlich von den aktiven Vertheidigern des Vaterlandes, da die verdienten Pensionäre das Ihrige in Krieg und Frieden 143 in so vollem Maße gethan haben, daß sie hier nicht mehr wohl in Betracht kommen können. Wir haben wirklich nicht für möglich gehalten, daß der menschliche Körper es bis zu dieser ätherischen, elfenartigen Feinheit und Durchsichtigkeit bringen könne, welche wir nach Ablegung gewisser ausgestopfter Uniformen zu bewundern Gelegenheit hatten. Welche Gefühle von Sicherheit müssen in der Brust dieser jungen Tapfern wohnen, wenn sie sich in dem Kartätschenfeuer des Feindes sagen, welche unbedeutenden Chancen für den Erfolg des Geschützes die geringen Dimensionen ihrer Gliedmaßen bieten, und wie unangefochten eigentlich ein menschliches Gebilde aus mathematischen Linien dem Kugelhagel entgegen treten könne. Diese Glieder durchschneiden, scharf wie Ruder, die Fluthen und sind vollkommen unkenntlich, wenn sie später, durch ihre natürliche Watte vervollständigt, im Ballsaale in einer sanften griechischen Rundung prangen.
Gewisse bejahrte Rentiers verrathen zwar eine ausgezeichnete Verpflegung, allein die geringe Anstrengung hat sie schwammig werden lassen, und der Diogenes, der seine Laterne am Gestade des Meeres ausgelöscht hat, wendet sich von ihnen mit Entrüstung ab, indem er sie den Kennern der Landwirthschaft überweist.
Fast eben so mangelhaft gestaltet, als die jüngeren Vaterlandsvertheidiger, sind die mosaischen Männer, deren sich aus den umliegenden Ortschaften eine unbegreiflich große Anzahl angefunden hat. Das gesetzte Essen, das diese frommen Bekenner des alten Testaments und des Talmuds doch wenigstens einmal in der Woche zu sich nehmen, scheint auf ihr sterbliches Gerüste nicht den günstigen zu erwartenden Einfluß ausgeübt zu haben und die betrübliche Verkümmerung ihrer Gliedmaßen wirft ein neues und frappantes Licht auf jenen absonderlichen Wunsch des Shylock im Kaufmann von Venedig. Es läßt sich nämlich sehr wohl begreifen, warum der bigotte Mosaiker von der Giudecca gerade ein Pfund Fleisch von dem wahrscheinlich sehr wohl genährten und gutgestalteten 144 Antonio haben wollte. Andererseits geht aus diesem verzeihlichen Wunsche hervor, daß schon damals die Badevorkehrungen in Venedig besser waren, als sie leider gegenwärtig sind, und daß Shylock den Antonio früher gesehen und als vollwichtigen Mann gewürdigt haben mußte. Doch würde es den Shylocks von Stettin, Anklam und Greifswald leider sehr schwer werden, einen genügenden Antonio in den nördlichen Seebädern zu finden, und müßten sie ihren Wunsch dahin modificiren, daß sie sich, statt eines Pfundes Fleisch, nur die statutenmäßige Knochenbeilage ausbäten.
Von den vorhandenen Schulmeistern, Geistlichen, Beamten und sonstigen Privatgelehrten schweigen wir, da es eine Linie giebt, wo das Wort und die Typen der herkömmlichen Begriffe nicht mehr ausreichen, um Zustände zu schildern, die innerhalb des Etats des Cultusministeriums liegen, und vor allen Dingen eine schleunige Anwendung von Schinken, Eierspeisen, Rostbeefs und starken Bieren erheischen, ehe die deutsche heitere Presse so viel Stoff bei ihnen vorfinden kann, um ihre launigen Betrachtungen daran zu knüpfen. Wer aber den Ellenbogen und das Knie in seiner ausgeprägtesten Entfaltung kennen lernen will, dem würde der Badesteig ein ganzes anatomisches Museum von osteologischen Präparaten ersetzen und ihn belehren, daß auch das Knochensystem des Menschen für sich allein ein ganz erträgliches Dasein führen könne.
Wenn alle diese Menschen an das Proscenium der See hinaustreten, wo der kühle Morgen seinen Nebelvorhang aufgezogen hat, und die zahllosen neugierigen Häupter der Wellen nun auf die unglückseligen Schauspieler blicken, giebt es eine Reihe der köstlichsten dramatischen Scenen. In jedem, auch dem tapfersten Menschen tritt kurz vor dem entscheidenden Sprunge ins Wasser jener Zustand der Wasserscheu ein, den wir in unserer eigensinnigen Legislatur nur bei den armen Hunden so strafbar finden. Es ist eine Analogie des Kanonenfiebers, das selbst die ältesten Soldaten vor dem Beginn der Schlacht empfinden können, ganz wie manche alte Matrosen bei der 145 Ausfahrt aus dem Hafen Anflüge der Seekrankheit. Die meisten Armensünder gehen entschlossener die verhängnißvollen Stufen hinan, als die traurigen Badegäste die Stufen zur See hinab steigen. Nach langem Umhergaffen, Reiben und Zagen erfolgt endlich der entscheidende Sprung, und ein erstickter Aufschrei ist Alles, was im ersten Moment von dem Opfer übrig bleibt.
Zwei Freunde nehmen jedesmal gleichsam für das Leben Abschied, ehe sie sich in das Wasser stürzen. Ihre Freundschaft ist so groß, daß sie niemals dieselbe Treppe wählen, um sich in die Wellen zu werfen, gleichsam als ob sie Einer dem Andern den traurigen Anblick des Momentes entziehen wollten, wo sich, wenn auch nur für wenige Sekunden, der grüne weißgestickte Schleier der See über den Häuptern voll edler Gedanken ausbreitet. Mit welchem Entzücken sehen sich dann nach einer bangen Minute des Ausschnaufens und heftigen Prustens die herrlichen Freunde zehn Fuß weiter auf der rettenden Sandbank wieder, wo sie schon ein halbes Dutzend häßlicher Kerle finden, die sich über die Achseln nach den heranrollenden Wellen umsehen und kein Tröpfchen verloren gehen lassen wollen, wie die Chemiker, wenn sie einen Dukaten in Königswasser aufgelöst haben. Wie freudig betreten die göttlichen Dioskuren später dann das Land, in Gestalt des festen Brettes; wie malerisch hüllen sie sich in die feuchten Mäntel, wie zärtlich blicken sich ihre treuen Augen und selbst ihre treuen Hühneraugen untereinander an – nicht die Liebe Hero's und Leander's allein ist fähig, im Wasser zu sterben, auch die Freundschaft Müller's und Schultze's!
Dort schleicht Einer isolirt ins Wasser; eine rothe Badekappe macht ihn unter den vielen gelben Mützen und behaarten oder kahlen Schädeln weithin bemerkbar, wie die feurig glänzende Mohnblume unter Kuh- und Gänseblumen. Sein in die Tinten der Leberkrankheit getauchtes Gesicht blickt mürrisch in die See; noch phantasirt er, ob sie tiefer sei, als seine Hypochondrie, da schleicht von hinten ein Bube herbei, kein Freund, sondern nur ein College 146 der Schulmeisterei, und stößt ihn unbarmherzig in den zwei Fuß tiefen Abgrund, um dann hinterdrein zu springen und den Ueberraschten unterzutauchen, daß die rothe Badekappe wie ein Karfunkel aus grüner Meeresnacht aufleuchtet.
Ein fetter Herr liegt behaglich wie eine Insel der Seligen im Wasser. Sein Rücken ist so breit, daß die herangespülten Seegräser eine Art Bank auf ihm angesetzt haben und den Gegensatz bilden zu seinem Wanste, den er schon auf dem Lande zu einer Austernbank bestimmt hat. Die magern Herren verkriechen sich da, wo das Wasser am tiefsten ist, und die Knaben halten sich da auf, wo es am seichtesten ist. Sie gehen wider alle Lehren der Gesundheitslehre nur bis an die Kniee ins Wasser, und bemühen sich dann, durch die verschiedenartigen Ränke der Jugend, den Gegner zu Boden zu werfen und unterzutauchen. Wer mit trocknem Leibe aus dem Kampfe hervorgeht, wird von den Uebrigen als Sieger betrachtet. Aber nicht immer bleiben diese Seeschlachten ohne Intervention. Wenn ein großer Junge den kleinen Abraham so lange untergetaucht hat, daß er einen empfindlichen Mangel an Lebensluft verspürt und zu fürchten steht, daß der Stamm um ein hoffnungsvolles Mitglied verkürzt werde, stellt sich zur rechten Zeit der Bademeister als vermittelnde Seemacht ein, und jagt den großen Jungen aus dem Bosporus in seine Badezelle.
Sollen wir nun noch einen bei fünf Thalern Strafe verbotenen Blick nach dem Damenbade werfen? Sollen wir ergründen, ob wir unter den langsam schleichenden, in Bademänteln tief vermummten trübseligen Gestalten eine der Heldinnen der Diners und Sonntagstänze wiedererkennen? Nein – niemals! Wenn jene griechische Schönheit vor dem ganzen Hellas unbekleidet in die See stieg, so hat unsere Epoche ihre triftigen Gründe, den Bademantel niemals abzuwerfen. Sein wir nicht unbescheiden, und wenn wir selbst vor dem Schicksal des dummen Aktäon und vor der Anwesenheit jeglicher Diana vollkommen sicher sind. 147