Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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27. Der letzte Entschluß.

Am dritten Tage, es war Montag, fuhren sie die Leiche nach Brandeis, um sie auf dem dortigen »guten Ort« dem Staub der Erde zu übergeben. Rebb Schlome hatte anfangs daran gedacht, sie nach der Heimatgemeinde zu bringen, war aber aus Gründen, die er nicht dartat, von diesem Entschlusse abgekommen. Vielleicht wollte er dem Unglück seines Hauses gerade dort nicht einen Grabstein setzen, woher er ausgezogen. Selbst in der tiefsten Zerknirschung, zerschmettert von der Wucht des hereinbrechenden Verhängnisses, vergißt das menschliche Herz nicht, was man seine Ehre nennen könnte. Nachime hatte übrigens auf diesen Entschluß ihres Mannes keine Macht ausüben können, sie lag krank zu Bette, sie war eigentlich nicht bewußtlos, aber man hütete sich, mit ihr darüber zu reden. Seit zwei Tagen war kein Wort über ihre Lippen gekommen, sie fragte nach niemanden und begehrte keinen zu sehen. Nur durch Gebärden deutete sie an, daß sie Tille um sich haben wolle, nur das Kind litt sie an ihrem Bett.

Als der Wagen mit der Leiche am frühen Morgen zum Tore hinausfuhr, wußte sie es nicht; sie lag eben im tiefen Schlafe. Nur das Kind hörte das Rollen des Wagens und wußte, wen sie in diesem Augenblicke forttrugen. Aber, um die Mutter nicht zu wecken, wagte Tille nicht einmal, an das Fenster zu treten; still und bitterlich weinte sie vor sich hin.

Wojtech selbst lenkte die Pferde; Rebb Schlome und Anschel gingen hinterdrein; sie wollten den fast zwei Stunden betragenden Weg nach Brandeis zu Fuß zurücklegen. Als sie an dem Hause des Richters vorüberkamen, ließ Wojtech die Pferde schneller gehen; das Haus war lautlos und grabstill, es hatte auch seine Tote. Man raunt sich im Dorfe zu, das schöne Mädchen hat sich ein Leid angetan. Sie sagen: aus Liebe! . . . Anschel verhüllte sein Antlitz; erst weit hinter dem Dorfe wagte er aufzuschauen. Während des langen Weges wurde fast kein Wort zwischen Sohn und Vater gesprochen; es hatte jeder genug an seiner eigenen Gedankenlast zu tragen.

Nur als sie auf die Brandeiser lange Brücke kamen, unter der die Elbe mächtig dahinrauscht, brach Rebb Schlome das bisher behauptete Stillschweigen. »Jetzt erinner' ich mich,« rief er, »ich hab' dir für heute aufgetragen gehabt, wegen der Assekuranz nach Brandeis zu gehen. Da sind wir nun in Brandeis, aber wir bringen eine schöne Assekuranz auf den guten Ort! Gott steh einem jeden vor so einer bei!«

»Darf ich dir etwas sagen, Vater,« meinte Anschel nach einer geraumen Weile.

»Red!« sagte Rebb Schlome.

Anschel hub die Augen zu seinem Vater auf. »Was will man,« sprach er, »wenn man sein Haus oder seine Scheuer verassekuriert? Man will sich sichern, um ganz ruhig zu sein. So kommt's mir auch mit unserm Elieh vor. Mir scheint, der ist in eine gute Assekuranz gegangen.«

»Wie meinst du das?« rief Rebb Schlome fast heftig.

»Ich glaub' nur,« beeilte sich Anschel rasch zu sagen, »unser Elieh ist gut aufgehoben.«

Rebb Schlome schüttelte zu dieser Bemerkung den Kopf; er entgegnete nichts darauf. Ihm dünkte wahrscheinlich dieser trübe Gedanke aus dem Munde eines kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings viel zu unnatürlich. Aber der Gedanke hätte anders gelautet, wenn Anschel sprechen und von demjenigen hätte sprechen dürfen, hinter dessen Leiche er einherschritt.

Die Beerdigung hielt sie indessen länger auf, als sie erwartet hatten. Es mußte erst der Sarg gezimmert und die Grabstelle von der Gemeinde erkauft werden, auch waren die »Tachrichim« (Sterbekleider) nicht verfertigt. Es währte einige Stunden, bis sich die »heilige Bruderschaft« im Synagogenhofe versammelte; es war nahe am Mittag. Zwei lange, ungehobelte Bretter wurden zersägt und daraus die einfach rohe Ruhestätte zusammengesetzt, in der Elieh dem Schoße der Erde anvertraut werden sollte. Jeder von der »Bruderschaft« legte Hand an dieses Werk und tat einige Sägestriche in das Brett, je nachdem ihn der Aufruf des Schuldieners traf, der Namen auf Namen von einem Zettel herablas. Andere hatten indessen die üblichen Waschungen mit dem Toten vorgenommen und die weißen Sterbekleider ihm angetan, die in der Eile von den »frommen« Frauen verfertigt waren.

Als der Sarg auf den Wagen gehoben und nun jener schauerlich ernste Psalm: »Im Schirm des Höchsten ruhend, in der Allmacht Schatten weilend, bete ich zu Gott,« von allen Anwesenden angestimmt wurde, da brach Rebb Schlome, der bis dahin eine Art künstlicher Fassung behauptet hatte, in lautes und heftiges Weinen aus.

»Elieh, mein Kind!« hörte man ihn ein über das andere Mal rufen, »bin ich vielleicht an deinem Tod schuld?« Aber die in der Weise von Responsorien vorgetragenen Psalmverse übertönten diese Selbstanklage, nur Anschel und die ihm Naheschreitenden vernahmen sie, ihnen griff sie gewaltig an die Seele.

So bewegte sich der Zug durch die ganze »Gasse« zum »guten Ort« hinaus; er vergrößerte sich zusehends. Wo einer müßig vor einem Hause stand, schloß er sich an. Es galt, dem Toten, den niemand gekannt hatte, die letzte Ehre antun. Man wußte nur, daß ein junges Leben aufgehört hatte; Frauen und Mädchen, die in den Türen ihrer »Gewölber« standen, weinten ihm nach – und hatten ihn doch nicht gekannt.

Als man auf dem »guten Ort« angekommen war, bemerkte Rebb Schlome sogleich, daß Eliehs Grab nahe an der Umfriedungsmauer, an einem Orte, der von den übrigen Ruhestätten beinahe seitab lag, war gegraben worden. Sonderbar! Diese Vernachlässigung seines Kindes brachte ihn so auf, daß er kaum den zornigen Ausdruck unterdrücken konnte.

»Warum legt man mein Kind nicht weiter hinein,« wandte er sich zu einem der neben ihm Gehenden, »warum verunehrt man mich? Ich hab' doch das Grab um schweres Geld von euch erkauft, und jetzt legt ihr mein Kind an einen Ort, als wenn es sich, Gott behüte, etwas zuleid getan hätte?«

Man bemerkte ihm, daß der Tote ein Fremder in der Gemeinde sei, der darin keine »Freundschaft« besitze. Niemand hätte es zugegeben, daß man ihn neben eine »Freundschaft« lege, zu der man einst selber gelegt zu werden hoffe. Man fragte ihn, ob er sich nicht selbst dagegen wehren würde, wollte man ihm in seiner Heimatgemeinde einen Fremden an die Seite der »Freundschaft« legen?

Dagegen vermochte Rebb Schlome nichts einzuwenden; die Leute waren in ihrem Recht, und er selbst hätte nicht anders gehandelt. Dennoch tat ihm dieses Abseitelegen seines Kindes in innerster Seele weh, es war ihm, als sei es ausgeschlossen aus dem Kreise der zu ihm Gehörigen, als hätte er an ihm gehandelt, wie ein Fremder, nicht wie ein Vater.

»Wenn sie das wüßte, wo ihr Kind liegt!« sagte er mit einem schweren Seufzer halblaut vor sich hin.

Dann aber sich aufraffend, beinahe mit heiterer Miene, wandte er sich zu Anschel und sprach festen und entschiedenen Tones:

»Du, das sag ich dir und das behalt in deinem Gedächtnis, und vergiß es nicht. Wenn ich einmal da hinunter soll, so führst du mich nirgends anders hin, als auf den Brandeiser ›guten Ort‹, und da neben meinem Elieh läßt du mir mein Grab machen. Das Kind soll nicht allein liegen und sagen, man hat wie ein Fremder an ihm gehandelt. Wirst du's nicht vergessen?«

Anschel schüttelte verneinend den Kopf.

Dieses Gebot schien den starken Mann für die tieftraurigen Förmlichkeiten der eigentlichen Beerdigung gewissermaßen gestählt zu haben; er ließ sie mit einem Gefühle fast ruhiger Teilnahmlosigkeit an sich vorübergehen. Nachdem unter den Kopf des Toten noch ein Kissen, mit frischer Erde gefüllt, und auf dessen Augen die Scherben eines zerbrochenen Topfes gelegt waren, damit die Erdschollen nicht zu sehr das feinste, fast seelenhafte Gefäß des Menschen drücken mögen, das im Leben so viel Schönes geschaut, trat einer aus der frommen Brüderschaft an den Toten heran und bat ihn im Namen der »Nachbarschaft, der fernen Anverwandten, der Freunde und der gesamten Gemeinde« um Vergebung, wenn sie ihn jemals beleidigt hätten, wobei er ihm noch zuletzt verkündete, daß diese alle keine »Gemeinschaft« mehr mit ihm hätten und haben wollten. Dann trat Rebb Schlome heran und bat sein Kind laut und weittönend um Verzeihung; seine Stimme zitterte nicht. Anschel dagegen vermochte vor tiefinnerster Regung nur unverständlich die übliche Bitte an den Toten zu richten. Hatte er denn seinen Bruder beleidigt? War Elieh von ihm gekränkt worden? . . .

Rebb Schlome zuckte auch nicht, als die Schollen auf den Sarg niederrollten; er schien nur von dem einen Gedanken beherrscht, hier einmal neben seinem Kind ausruhen zu können. Jeder der Anwesenden tat einige Spatenstiche in die lockere Erde und warf die Scholle auf den Sarg, bis dieser vollständig bedeckt war. In geschäftiger Eile war das ganze Werk getan worden; es hatte wenige Minuten gedauert. Der Schuldiener verrichtete hierauf noch die drei allerletzten Spatenstiche und ebnete mit der Schaufel die Seiten des Grabes.

»Bis jetzt,« sagte ein Knabe, der dem Beerdigungsauftritte beiwohnte, leise zu seinem Kameraden, »bis jetzt hat der Tote alles gehört und gesehen, und darum beeilt man sich auch so sehr, damit er in Ruhe kömmt. Wie man aber die dritte und letzte Schaufel Erde hinabwirft, da vergeht ihm Hören und Sehen, und er weiß nichts mehr von sich.«

»Wirklich?« meinte der Kamerad mit ungläubiger Miene.

»Du kannst es mir glauben,« beteuerte der andere, »meine Babe hat mir's erzählt, und die weiß das alles. Soll ich dir auch sagen, warum jetzt die Leute Gras abreißen und es hinter sich werfen und dabei sagen: ›Sie sprießen hervor aus der Erde, wie das Gras?‹ . . . Das weiß ich auch.«

»Nun?«

»Man soll nicht glauben,« erklärte der Knabe, »daß die Menschen aussterben werden! Sie bleiben, bestehen und wachsen fort, wie das Gras; man mäht es ab, und doch kommt es nach einiger Zeit wieder . . .«

Trotz allem, was um ihn her vorging, hatte Rebb Schlome dieses leise geführte Gespräch der beiden Knaben nicht überhört; es ergriff ihn eigentümlich. Daß das Grasausreißen diese Bedeutung hatte, daran hatte er nie gedacht. Wie zum Danke lächelte er dem sinnigen Erklärer zu. Welche Hoffnung, welch stärkender Duft stieg nicht aus dieser einfachen Deutung, die er erst am Grabe seines eigenen Kindes empfangen sollte! Menschen sterben und vergehen, das ist ihr Los; selbst über des Kindes junges, noch wenig erschlossenes Dasein schreitet die eherne Notwendigkeit hinweg; aber die übrig bleiben, wollen wachsen wie das Gras, wollen leben, sich wiegen und bescheinen lassen im Sonnenlichte; denn sie haben die »Gemeinschaft« mit dem Toten aufgegeben. Jetzt erst verstand Rebb Schlome die frühere Bitte an die Leiche vollständig; der Mensch wollte leben bleiben wie das Gras!

Nachdem der Schuldiener noch mit einem stumpfen Messer in die Röcke der beiden Trauernden die »Keriah« oder den Riß geschnitten hatte, trug Rebb Schlome mit vernehmlicher Stimme das übliche Gebet für die Toten vor, worauf alle den »guten Ort« verließen. Rebb Schlome warf noch einen letzten Blick nach dem einsamen, abseit liegenden Grabe seines Kindes.

Dachte er dabei an »sie« oder an Elieh, der fern von aller Freundschaft in einer fremden Gemeinde ruhen mußte – weil er es gewollt hatte?

In einer Stube des Leichenhofes mußten die zwei Trauernden noch eine Stunde lang auf niedrigen Schemeln sitzen; es war dies der Beginn der siebentägigen Trauer um den Toten. Man hatte ihnen Speise und Trank geschickt; aber sie genossen davon nur so viel, als das »Gesetz« vorschreibt.

Es war spät am Nachmittage, als sie zum Heimgang bereit waren. Sie suchten den Knecht auf, der in einem Wirtshause am »Ring« die Pferde eingestellt hatte. Als Wojtech sie eintreten sah, rief er laut jammernd:

»Jetzt müssen wir ohne ihn nach Hause fahren!«

Er winkte dann, während er zur Stube hinausging, um die Rosse anzuspannen, auf eine geheimnisvolle Weise Anschel zu sich. Im Hofe draußen zog er ihn in einen unbeachteten Winkel und sprach da zu ihm:

»Ihr habt ja vergessen, ihm etwas mit ins Grab zu geben.«

»Was?« fragte Anschel verwundert. »Man gibt bei uns nichts ins Grab.«

»Und dieses?« meinte der Knecht ernst und zog aus seiner Brust das messingene Kreuz hervor, das sie bei Elieh gefunden hatten.

Anschel glaubte, der Knecht wolle ihn höhnen; eine zornige Regung stieg in ihm auf; aber sie schwand sogleich, als er in Wojtechs gramvolles Antlitz geblickt hatte.

»Das geht nicht, Wojtech,« sagte er sanft, »besonders das geht nicht. Vergißt du, wer mein Bruder gewesen ist?«

»Sie hat es ihm aber doch gegeben,« meinte der Knecht kopfschüttelnd. »Er hätte es gewiß nicht von sich gelassen, hätte er länger gelebt.«

»Sprich nichts davon,« bat Anschel, ». . . es hat ja doch nicht sein dürfen. Soll man einem Toten noch die Sünde mitgeben ins Grab, daß er niemals zur Ruhe kömmt?«

»Die Sünde?« meinte Wojtech mit einem trüben Lächeln.

»Und was für eine!« rief Anschel schaudernd und wandte sich von dem Knechte ab.

»Was soll ich aber damit tun?« fragte der Knecht nach einer Weile.

»Ich weiß nicht,« entgegnete Anschel zögernd.

»Willst du es bei dir behalten?«

»Ich?« rief Anschel, über diese neue Zumutung des Knechtes mehr erstaunt als entsetzt. Dann aber, als fühlte er, er könne ihn durch den Ton dieses Ausrufes bitter gekränkt haben, setzte er sogleich hinzu: »Warum behältst denn du es nicht, Wojtech? Will dir's denn einer wegnehmen?«

»Du willst es mir also lassen?« rief der Knecht freudig, »und ich kann es behalten? Daran hab' ich nicht gedacht, daß ich noch etwas von dem armen, hochwürdigen Herrn behalte.«

»Behalt's, so lange du willst,« sagte Anschel, »und reden wir nicht weiter davon!«

Anschel sah dabei den Knecht mit einem viel bedeutsamen Blicke an, und reichte ihm, wie zur beiderseitigen Bekräftigung, die Hand hin.

»Ich versteh' dich,« sagte der Knecht kurz und schlug ohne Zögern in die dargebotene Hand ein.

Weiter ward kein Wort gesprochen; der Bund war geschlossen und Anschels Seele von einem schwarzen Schatten befreit.

Die Heimfahrt wurde nun angetreten. Als sie wieder auf die Brandeiser lange Elbbrücke kamen, blieb Rebb Schlome, der erst hinter der Stadt den Wagen benutzen wollte, plötzlich vor Anschel stehen; er fuhr sich über die Stirne, wie einer, der sich selbst auf einem vergessenen Gedanken ertappt hat. Es war auf der nämlichen Stelle, an der er vor einigen Stunden von der Assekuranz mit Anschel gesprochen hatte.

»Willst du was, Vater?« fragte Anschel.

»Nein, nein,« entgegnete Rebb Schlome heftig und sah dabei den Sohn scharf an. »Es hat Zeit . . . es hat stark Zeit. Man kann ja so nicht wissen . . .«

Anschel hörte es diesem Tone an, daß er nicht weiter fragen dürfe. Daß es der Assekuranz galt, darüber schien ihm kein Zweifel obzuwalten. Aber was sollten die letzten Worte bedeuten, »man könne so nicht wissen, und dann sei es umsonst?« Von welchem zerrissenen Gedankennetze war dies ein Bruchstück? Wer stand ihm jetzt dafür, daß sie nicht bald ein anderes Tote bestatten würden, die Leiche ihres Feldes!

»Man kann ja so nicht wissen,« riefen verzweiflungsvolle Stimmen in ihm, »und dann ist alles umsonst hinausgeworfen,« antworteten sie sich selbst.

Es dunkelte bereits, als sie in das heimatliche Dorf einfuhren. Am ersten Hause stieg Rebb Schlome vom Wagen und gebot Anschel ein Gleiches zu tun. Wojtech sollte hinter ihnen zurückbleiben und ja nicht früher ins Tor einfahren, als bis er sie ins Haus treten gesehen habe. Selbst dieser kleine Umstand fiel beengend auf Anschels Herz. Warum wollte der Vater nicht, wie jeder Bauer, der »Roß und Wagen« besitzt, in sein Haus hineinfahren? Wollte er schon heute nicht mehr als Bauer erscheinen? – Mit trüben Ahnungen in der Seele schritt Anschel an der Seite seines Vaters durch den dunkelnden Abend; um ihn war finstere, sternlose Nacht. So erreichten sie das Haus.

Das Tor war diesmal geschlossen; auf ein leises Pochen ward es von einem Knechte geöffnet. Im Hofe kam ihnen Tille entgegen.

»Die Mutter!« rief Rebb Schlome hastig und hielt inne. »Was macht die Mutter?«

»Sie ist aufgestanden und sitzt ›Schiwe‹,« sagte das Kind traurig.

»Warum ist sie noch nicht zu Bette?« rief Rebb Schlome heftig.

»Sie will es nicht anders,« sagte Tille. »Gleich, wie ihr fortgegangen war't, ist sie aufgewacht und hat nach euch gefragt. Ich hab' es ihr nicht gleich eingestehen wollen, da meinte sie: ›Glaubst du, ich weiß nicht, daß heute Montag ist? Heut' fängt ja die Schiwe an.‹ Dann ist sie aufgestanden und hat sich angekleidet und auf den Fußschemel gesetzt. Sie ist seitdem nicht aufgestanden; manchmal weint sie, manchmal sieht sie in den Sidur (Gebetbuch). Vor einer Stunde hat sie das erste Wort an mich gerichtet seit dem frühen Morgen. ›Kommt denn dein Vater noch nicht zurück?‹ hat sie mich gefragt. Von unserm Elieh war keine Rede.«

Aufhorchend hatte Rebb Schlome den Bericht des Kindes vernommen; seine Brust arbeitete heftig; über seine sonst so gehärteten Gesichtszüge ging ein Zucken, als ob er weinen wollte. Vielleicht, damit die Kinder nicht Augenzeugen dieses innerlich tobenden Kampfes seien. hatte er den Kopf von ihnen weggewendet; so stand er eine Weile da. Dann, als sei er einig in sich geworden mit einem Entschlusse, den niederzuringen alle Seelengewalt aufgeboten werden mußte, ging er festen Schrittes auf das Haus zu. An der Tür, die in die Wohnstube führte, blieb er stehen; zögerte einzutreten. Leise drückte er auf die Klinke und trat ein.

Da saß Nachime auf einem niedrigen Fußschemel, matt beleuchtet von dem Totenlichte, das zu Eliehs Andenken angezündet worden war. Sie hatte den Eintretenden nicht bemerkt, denn sie saß gegen das Fenster zu. Aber der kühlere Luftzug, der mit Rebb Schlome gleichzeitig eingedrungen war, mochte sie berührt haben; sie blickte um sich.

»Guten Abend, Nachimeleben,« sagte der gebeugte Mann mit seinem weichsten Tone. »Wie geht es dir?«

Da wollte sie, wie von einer unsichtbaren Federkraft emporgetrieben, vom Schemel sich erheben; aber sie sank zurück; mit beiden Händen verhüllte sie sich ihr Angesicht und begann bitterlich zu weinen.

»Verzeih mir, Nachime . . . verzeih, was ich dir angetan habe,« rief Rebb Schlome, »ich leid' ja nicht weniger als du.«

Da hörte sie mit einem Male zu weinen auf, die Hände sanken langsam von ihren Augen herab; mit erstaunten, fast irren Blicken schaute sie um sich. Dann erhob sie sich, sie schien die nötige Kraft gewonnen zu haben. Mit einer einzigen hastigen Bewegung war sie an ihren Mann herangetreten und faßte ihn an der Hand, auf die sie sich niederbeugte, als ob sie darauf einen Kuß der Demut drücken wollte.

»Was willst du mit mir jetzt tun, Schlome?« rief sie in schneidenden Lauten.

»Allmächtiger Gott,« schrie dieser entsetzt, »das sagst du mir, Nachime?«

»Ich kann nicht reden,« stöhnte sie, »ich kann nicht reden, ich glaub', es sprengt mir mein Herz ab.«

»Wein dich aus, Nachime,« sagte Rebb Schlome, »wein dich aus, das wird dich erleichtern.«

Er hob sie zu sich auf und umschloß sie mit beiden Armen. So hielten sich die Ehegatten eine geraume Weile umschlungen; Nachime weinte laut an der Brust ihres Mannes; sie schien sich nicht Einhalt tun zu können. Mehrmals versuchte sie zu sprechen, aber sie vermochte nur Unverständliches zu wimmern. Es war ein Scheidepunkt ihres Lebens eingetreten. Die beiden Kinder standen an der Tür und wagten nicht durch irgend einen Laut in die Weihe dieses Augenblickes einzugreifen.

»Warum jagst du mich nicht auf und davon?« rief sie endlich, »so ein schlecht Weib, wie ich bin, behandelst du so gut?«

»Schweig,« rief dagegen Rebb Schlome, »und demütig' dich nicht vor mir. Das bricht mir ja das Herz ab, daß ich dich nicht erkannt habe, wie du das beste und bravste Weib auf Gottes Erdboden bist.«

Da riß sie sich von ihm los; es war nicht anders, als ob sie einer mit feurigen Werkzeugen von ihrem Manne getrennt hätte.

»Schlome,« rief sie mit drohend aufgehobenem Finger, »versündig' dich nicht, daß du jetzt lügst. Ich war ein schlecht Weib, schlechter als ihr alle denken könnt. Wär' denn alles so gekommen, wie es gekommen ist. wenn ich anders gewesen wäre?«

»Und von mir redst du gar nicht, Nachime,« sagte Rebb Schlome wehmütig, »ich bin ein unschuldig Kind? Ich, der ich dich gezwungen habe, der Gewaltnik? Von mir redst du gar nicht?«

»Bist du nicht der Mann und ich das Weib?« rief Nachime schneidend. »Glaub auch nicht,« setzte sie darauf weniger herbe hinzu, »glaub nicht, daß ich wegen unserem Elieh so weine, ich wein' um mich selbst. Das Kind hat uns Gott genommen . . . wir hätten es wahrscheinlich nicht erhalten können . . . und wer gestorben ist, dem ist wohl. Aber ich bin nicht gestorben, ich lebe; ich muß jeden Augenblick denken: ich hätte sterben können, auf einmal, mitten in der Nacht. Mit aller Schlechtigkeit wär' ich aus der Welt gegangen, nicht wie unser Elieh, fromm und gut! Soll ich da nicht weinen um mich? Der Tod meines Kindes hat mir erst die Augen geöffnet, jetzt seh' ich erst, was ich längst hätte sehen sollen.«

»Mach dich nicht schlecht, Nachime,« bat, die Hände zur Bitte gefaltet, Rebb Schlome. »Du hast dir nichts vorzuwerfen! Jedes deiner Worte geht mir wie ein Messer durch das Herz.«

Aber Nachime hörte entweder nur sich, oder fand in diesen Selbstanklagen gleichsam eine neue Kraft, um sich aufrecht zu erhalten.

»Nachime nennt man mich,« fuhr sie fort, »ich weiß, das heißt: Trost! und kein Weib sollt' einen andern Namen haben. Ich aber war euch ein schöner Trost! Gott der Lebendige soll jedes Judenkind vor so einer Nachime behüten. Statt euch zu trösten in euern Nöten, hab' ich euch gekränkt; statt euch jeden Bissen zu versüßen, hab' ich ihn euch verbittert. Wie ein gut Weib hätt' ich dich immer fragen sollen: Schlome, schmeckt's dir? Bist du müde? Hab' ich das und jenes gut gemacht? Bist du damit zufrieden? Niemals während der ganzen Zeit hast du das kleinste gute Wort von mir gehört; mich hab' ich am liebsten gehört. Was mir meine Schlechtigkeit eingegeben hat, das hab' ich in mir behalten, etwas Gutes hab' ich mir nicht einreden lassen; davor hat es mir gegraut, wie vor Gift. Wer von allen in meinem ganzen Hause kann sagen, ich hätt' ihn nicht einmal gekränkt? Dich aber, Schlome, hab' ich geflissentlich beleidigt, hab' dich herabgesetzt vor deinen eigenen Kindern, hab' dir das kleine Unrecht, das du an mir begangen hast, mit tausend Prozent zurückgezahlt. Und da soll einer kommen und sagen: So was tut nur ein gut Weib.«

»Klein nennst du das Unrecht, Nachime . . .?« unterbrach Rebb Schlome den Strom dieser bittern Selbstanklagen. »Lebendiger Gott, wie vergrößerst du mich, und wie verkleinerst du dich.«

»Warum?« eiferte Nachime, und ihre Aufregung stieg von Wort zu Wort, »du hättest mich fragen sollen, ob ich eine Bäuerin werden will? Du hättest dir bei mir einen Rat holen sollen? Wozu bin ich dein Weib? Daß ich einen andern Weg gehe und du einen andern? Daß, wenn du sagst: Ich will nach rechts, ich lieber nach links möchte? Du hast ja recht gehabt, daß du mich nicht gefragt hast.«

»Ich habe nicht recht gehabt, Nachime,« sagte Rebb Schlome mit ernster Entschiedenheit, »das wirst du mir nicht einreden können. Schon, daß ich deinen Willen habe zwingen wollen, ist mein großes Unrecht. Weil du fünfundzwanzig Jahre zu allem ›ja‹ gesagt hast, was ich getan habe, meint' ich, du wirst es auch diesmal sagen. Darauf hatte ich spekuliert, ich sag' dir das jetzt frei heraus. Aber du hast dich dagegen gestemmt und gewehrt wie eine Löwin; zum ersten Male in den fünfundzwanzig Jahren hast du ›nein‹ gesagt. Gott im siebenten Himmel ist mein Zeuge, wie oft mein Herz gezittert hat unter dem ›nein‹, wie gerne ich oft mit dir darüber gesprochen hätte.«

»Meinst du, ich hab' es dir nicht angesehen?« rief Nachime, milder geworden durch die Rede ihres Mannes. »Das eigene Kind ist ja vor mir zurückgeschreckt; wie hätt' dir das Blut im Leib nicht gefrieren sollen, wenn du mich nur angesehen hast? Daher ist auch alles Unglück, alles Weh gekommen. Das Kind hat sterben müssen. Ihr habt in den heiligen Schabbes hinein arbeiten müssen, und ich habe nichts dazu sagen dürfen. Hätte Gott das zugegeben, wenn er dir, wenn er mir das rechte Wort und zu der rechten Zeit auf die Lippen gelegt hätte?«

»Nachime, Nachime, hör um Gottes willen auf,« bat wieder Rebb Schlome, »das Haar auf dem Kopfe steht mir ja auf vor Schauder, wenn du so fortredest.«

»Laß mich alles vom Herzen herunterreden, Schlome,« sagte Nachime dagegen, »es tut mir wohl . . . Hab Geduld mit mir; ich hab' ja schon so lange mich mit dir nicht ausgeredet. Du kannst nichts dafür.«

»Tu mir den einzigen Gefallen, Nachime,« rief wieder Rebb Schlome mit vor tiefster Rührung zitternder Stimme, »und höre auf. Ich könnt' ja sonst wirklich meinen, wenn ich dich so fortreden lasse: ich habe recht und du hast unrecht. Und zuletzt, wo ist der Mensch, der eine so feine Wage hat? Wo es auf eine so feine Wage ankommen soll, da haben entweder wir beide ganz recht, oder beide haben unrecht.«

»Glaubst du, Schlome?« sagte Nachime, die diese Worte lauschend, als kämen sie ihr aus Himmelshöhen zu, in sich aufgenommen zu haben schien, und ein trübes, ungläubig fragendes Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Ich glaub' es,« sagte Rebb Schlome feierlich, »so wahr, als uns Gott helfen soll!«

Nachimes Wesen erzitterte unter dem Eindrucke dieser Worte; sie hob die feuchten Augen zu ihrem Manne auf, sie sah fast furchtsam auf.

»Und was willst du mit mir tun, Schlome?« sagte sie demütig und wankte ihm entgegen, mehr als sie ging.

»Leben wollen wir miteinander, Nachime,« rief Rebb Schlome mit überwallendem Herzen, »leben und uns unseres Lebens freuen! Gott und die Menschen sollen wieder Freude an uns finden, die Sonne soll wieder scheinen, und . . .«

»Ich hab's nicht verdient, Schlome,« rief sie weinend, »ich nicht.«

Der hochstämmige Mann zuckte schmerzlich zusammen nach diesem letzten demütigen Geständnisse. Sprachlos reichte er ihr die Hand, auf die sie sich wieder neigte. Er aber umschloß sie fest und innig; Nachime lag als Versöhnte, Reuige, an der Brust ihres Mannes.

Bis dahin hatten die beiden Kinder nichts getan, was die sich wiederfindenden Eltern auf sie aufmerksam gemacht hätte. Es war ein namenloses Gefühl, das sie an der Tür lauschend gebannt hielt. Selbst jetzt, als sich vor ihren Augen das wunderbare Schauspiel begab, wie Vater und Mutter in echter und wahrer Wiedervereinigung sich begegneten, als sie sahen und hörten, wie Seele an Seele pochte und eine der andern den Willkommenruf entgegentönte, traten sie nur näher, um sich am Glücke ihrer Eltern, an dem warmen Strahle nach so langer Nacht zu sonnen, nicht um ihnen Glück zu wünschen. Denn, das sagte beiden ein gemeinsames Gefühl, daß es Kindern nicht zukomme, Freude zu offenbaren, wenn der Zwiespalt zwischen den Eltern geschlossen ward; so wenig, als sie der Versuchung nachgegeben hatten, sich mitten in ihren Streit zu stellen und mahnend abzuwehren.

Als endlich die Wiedervereinigten voneinander ließen, sah Nachime fast verschämt aus; eine leichte Röte hatte die Wangen überflogen, die trotz des dunkelnden Abends sichtbar war . . .

»Weißt du, wie du mir vorkommst, Nachime?« rief Rebb Schlome mit leuchtenden Blicken. »Gerad' wie vor fünfundzwanzig Jahren, wo alle Jungen in der ›Gasse‹ grün und gelb geworden sind vor lauter Neid, daß ich ihnen meine kleine Nachime vom Mund weg hab' genommen und hab' keinen um Erlaubnis gefragt.«

»Und weißt du, wie du mir vorkommst?« sagte immer höher erglühend Nachime, »auch gerade wie vor fünfundzwanzig Jahren, wo wir miteinander, du mein Bräutigam, ich deine Braut, an einem Schabbes über ein Feld gegangen sind. Da hast du mir etwas zugeschworen.«

»Ich?« rief Rebb Schlome erstaunt.

»Du denkst es nicht mehr, aber ich denke es, Schlome, und werde es nicht vergessen bis ans Ende meines Lebens. Unsere Kinder wissen, wie und wo es mir eingefallen ist. Die werden dir sagen können, wie es mir um mein Herz war. Aber daß ich daran denken gekonnt, das mag dir beweisen . . .«

»Daß du immer meine Nachime warst,« ergänzte Rebb Schlome. »Red nichts weiter davon.«

Dann setzten sich beide nebeneinander auf die niedern Fußschemel zur Trauer um Elieh, die Kinder ihnen gegenüber. Aber von dem, der fern von ihnen auf dem Brandeiser »guten Ort« lag, war nicht die Rede. In lieblichen Gesprächen verging der Abend, kam die Nacht heran, und sie glänzte sternbesäet durch die Fenster. Oft berührten sich die Hände der Eheleute und lagen dann minutenlang ineinander; dann schwiegen sie und blickten einander mit Augen des Verständnisses an, wie es seit fünfundzwanzig Jahren nie so innig unter ihnen gewaltet. So kam die Zeit des Schlafengehens.

Ist das auch eines der Geheimnisse Gottes, daß der Tod bindet und lang' Getrenntes wieder aneinander fügt? daß, was scheinbar Verderben und Untergang in seinem Schoße trägt, zugleich aus geheimsten Tiefen den Quell des Lebens nach oben drängt? Hier saßen Menschen, die am Morgen ein Liebes und Teures dem Staube der Erde zurückgegeben hatten – der Abend war gekommen, die Sonne,. die denselben Morgen beleuchtet, war kaum niedergesunken, und sie sprachen von Liebe und Leben, von Auferstehung ihrer Seelen nach der bangen Nacht traurigen Verkennens.

Sollte der verwitterte Fels allein in das Geheimnis Gottes eingeweiht sein, wie aus Schutt und Fäulnis eine Blume erblühen kann? Ist das menschliche Herz nicht noch ein tieferes Geheimnis des großen Weltgeistes?


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