Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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7. Anschel geht in die Schule.

Folgen wir Anschel auf seinem ersten Feld- und Lerngange!

Noch erfüllt von Freude an den vermeintlichen Sieg, den er über seinen Vater davongetragen, ging er mit hochaufgerichtetem Haupte durch die Dorfgasse. Sein Gesicht strahlte von innerer Bewegung. Vielleicht, daß in diesem aufwärts gewandten Blicke, auf diesem glänzenden Antlitze ein Gedanke lebte, der im Weiterschreiten immer weiter und höher die Fittiche ausspannte, und dieser Gedanke lautete:

»Ihr alle, die ihr mir da nachschaut, seid gelernte Bauern. Einer hat's dem andere gezeigt, wie man es macht; der Vater hat's seinem Sohn, und der wieder dem seinen ›gelehrt‹, wie man ackert und säet. Mir hat's noch keiner gezeigt; ich komm' aus einem ›Gewölb‹, wo ich etwas andres hab' zu tun gehabt. Aber ich geh' jetzt ›lernen‹!«

Anschel war zum Dorfe hinausgekommen, ohne sich auch ein einziges Mal umgesehen zu haben. Es war ihm, als müßte er so in einem fort wandern, als hätte er nur vorwärts, nie rückwärts zu schauen. Plötzlich blieb er stehen. Im großen Umkreise lagen die Felder der Bauern vor ihm, zwar noch nicht im goldenen Gewande des Segens rauschend, aber mit dunklen Gestalten darauf. So weit sein Auge trug, gewahrte er Emsigkeit und Arbeit; die schwarzen aufgewühlten Schollen schienen lebendig geworden, wie in den alten Sagen belebte Wesen aus ihrem Schoße hervorgebracht zu haben.

Warum machte ihn dieser Anblick so betreten? Warum drückte er ihn nieder, statt ihn noch freudiger zu stimmen? Lagen die Felder seines Vaters nicht auch mitten darunter, ging er nicht eben hin unter diese wimmelnden Gestalten, um auch zu arbeiten am Pflug und an der Egge? Das alles flog wohl gedankenschnell durch Anschels Kopf, aber daneben hatte sich eine Empfindung aufgetan, als ob all das, was er mit seinen Augen umspannte, alle die Felder, Wiesen und Wälder sein Eigentum wären, als wäre er ganz allein da, ohne die geringste Mithilfe irgend einer Menschenseele, um sie zu bearbeiten. Er meinte nicht anders, als ob all die wimmelnden Gestalten nur da wären, um ihm zuzusehen, und er allein müßte das verrichten, wozu er jetzt so viele Kräfte verwendet sah. Und dazu sollten seine Kräfte ausreichen? Nie, nie in seinem Leben, klang es schauerlich in ihm, würde er imstande sein, auch nur ein einziges Feld zu bestellen.

Anschel besaß eines jener ernsten Gemüter, dem jede Aufgabe sogleich in ihrer ganzen Breite und Weite erscheint. Solche Gemüter sind gleichsam mit schwerlastenden Händen versehen. – Die Last, die von anderen federleicht emporgehoben wird, sinkt mit ihnen zu Boden. Es kommt dies daher, daß sie nicht nur die Last, sondern sich selbst mit ihrer gesamten Wucht emporheben wollen.

Als diese dunkle Empfindung sich wieder beschwichtigt hatte, fiel eine andre ihm schwer aufs Herz. So viele sah er arbeiten und sich emsig abmühen, keiner hatte es ihnen geheißen; sie waren alle da, hatten nicht erst gewartet, bis sie vielleicht ein mürrischer Knecht, dem der Müßiggang zu beschwerlich geworden, an ihre Pflicht gemahnte. Nur sie allein seien wie im Traume herumgegangen, hätten gemeint, weil es regne, müßten sie warten und warten, bis die Sonne herausträte, und wenn ihr Knecht nicht gewesen, so gingen sie noch herum, traurig und müßig, und keinem sei es eingefallen, sich selbst zu mahnen und anzuhalten zur Arbeit.

Dieser Gedanke hing zu innig mit den innern Leiden seines Hauses zusammen, als daß sich nicht in rascher, unabsehbarer Folge noch andere von trauriger Natur daran geschlossen hätten. Die Mutter trat ihm vor das innere Auge; er fühlte ihr ganzes Weh an seine Seele pochen, wie um Einlaß bittend, daß er es begreife und ihr helfe.

»Warum verstört sie sich und uns das Leben?« sprach es in ihm, »warum gibt sie sich nicht zufrieden? Hat sie's denn in der ›Kille‹ (Gemeinde) besser gehabt? Da hat sie müssen von früh morgen bis spät in die Nacht im ›Gewölb‹ stehen, hat im ›größten‹ Winter auf die Märkte fahren, Not und Kälte ausstehen müssen, ohne daß man oft die Kosten herausbrachte. Und das wär' ihr lieber, als ihr jetziges Leben? . . . Der Vater will ja nicht, daß sie arbeitet wie eine Bäuerin; sie kann sich ja ausruhen so viel sie will. Und wenn sie sich alle Tage Jontef (Feiertag) macht, wer wird ihr etwas sagen? Sie braucht nichts an sich zu sparen, und wenn sie sich jeden Morgen zu ihrem Kaffee Küchel backt, meint sie denn, der Vater wird sich drüber ärgern? Gerad ›konträr!‹ Er sieht es gern, wenn sie sich einen guten Tag macht und ein zufrieden Gesicht zeigt. Will er denn, daß sie sich's abspart am eigenen Leib, damit ein paar Kreuzer mehr in der Schublad' liegen?«

Es wird niemanden befremden, wenn selbst Anschel in der Stimmung, die ihn aufs Feld hinausgedrängt hatte, das nagende Leid seiner Mutter so verkannte, daß er fast einen Verrat an dem nur ihm geoffenbarten Schmerze beging, den er durch ein »gutes Leben« zu heilen meinte. Es erging ihm in diesem Punkte nicht anders, als es Tausenden ergeht. Weil er nur nach Verwirklichung eines Gedankens rang, erschien ihm das Weh seiner Mutter fast als ein Hindernis! Kinder sind in dieser Hinsicht oft nicht besser, als das wildfremdeste Gemüt.

Unter solcherlei Gedanken hatte Anschel seinen Feldgang fortgesetzt, aber sie hatten ihre Schwingen verloren. Die Erinnerung an das häusliche Leid war zu mächtig, und die alte Verzagtheit machte wieder ihr Recht geltend. So war mit einem Male das ganze Bild, das sich ihm darbot, der weite Umkreis mit seinen Feldern, Wiesen und Wäldern vor ihm in den Boden gesunken. Nichts sah und hörte er mehr, als jenen unheimlichen Geist, der mit ihnen aufs Dorf gekommen, sich niedergelassen zu haben schien mitten unter ihnen! Und mit unwiderstehlicher Gewalt drängten sich ihm die Worte seines Vaters auf, die er erst vor wenigen Minuten von ihm gehört hatte: »Du wirst sehen, sie wird nicht anders werden.«

»Wenn die Mutter nicht anders wird,« so setzten diese trüben Gedanken ihr Zerstörungswerk in ihm fort, »wozu nütze es dann, sich abzumühen? Es würde doch keiner eine rechte Freude davon genießen. Müßte sich nicht der Bissen, den man in den Mund nimmt, unter solchen Umständen in brennendes Gift verwandeln? Wäre es nicht besser, der Vater verkaufte, wenn auch mit Schaden, Haus und Hof, und sie zögen davon, als bis es zu spät sei? Die Mutter könne man doch nicht beiseite schieben, sie werde immer mit ihrer Sehnsucht nach dem verlassenen ›Geschäfte‹ kommen, ihnen stets das Dorf vorwerfen, und daß man sie unglücklich gemacht habe! Schon jetzt könne er ihr nicht mehr in das blasse Angesicht sehen . . . wenn sie sich's nun zu Herzen nähme und krank würde und davon, Gott sei Schützer und Beschirmer! den Tod hätte, wer das vor sich selbst verteidigen, wer das ertragen könnte!«

Eine tiefe Hoffnungslosigkeit hatte Anschels Gemüt überfallen; er hatte sich in eine Stimmung hineingesonnen, die ihm fast keinen Ausweg mehr ließ.

»Ob's bei ›ihnen‹,« dachte er noch, indem sein trüber Blick fast bewußtlos über die Gestalten auf den Feldern hinschweifte, »ob's auch bei ›ihnen‹ so ist? Ob's ihnen auch so schwer wird, wie uns, weil wir Juden sind? Und warum es so ist? und warum ein Jude nicht sollt' ein Bauer werden können?«

Bis hierher dachte Anschel; nun sank er in ein wirres gedankenloses Sinnen, auch die Gestalt, die Gesichtszüge jenes Mädchens, das ihm in der ersten Nacht entgegengetreten war, verwebten sich damit. Zum Glücke ward er durch einen Zuruf, der von einem zur Seite liegenden Felde kam, unterbrochen. Ohne es zu gewahren, war er in die Furchen eines frischgepflügten Ackers getreten.

»He, Bürschchen,« rief ihm eine bekannte Stimme zu, »warum schaust du nicht auf deinen Weg? Trittst ja auf dein eigenes Feld!«

Sein Feld! Es wäre unmöglich zu sagen, von welch gewaltiger Kraft diese wenigen Worte auf Anschels wie mit einem Schlage von allen bösen Dünsten und Wettern befreite Seele wirkten. Er stand wirklich auf eigenem Grund und Boden, und derjenige, der es ihm zugerufen, war ihr Knecht Wojtech!

»Ist das wirklich mein . . . ist das unser Feld?« fragte Anschel fast atemlos und ließ die zweifelnden Blicke über den Knecht und den Pflug und über die Pferde gleiten.

»Ich bin ja da,« sagte der Knecht mürrisch, »aber geh nur erst aus dem Acker heraus.«

Anschel überhörte diese Ermahnung. Festgebannt, die Augen weit offen, mit hochaufatmender Brust, stand er da. Welche Stimmen, die wir nicht vernehmen, welch Jauchzen, das unausgesprochen verklingt, mögen in diesem Gemüte rauschen und wogen, und es hört sich nur selbst und der Weltgeist, zu dem sie als Opfer emporsteigen!

»So geh doch aus dem Acker,« sagte der Knecht noch einmal. »Wenn man schon selbst nicht arbeiten will, so muß man nicht noch fremde Arbeit zugrunde richten.«

Erst dieser rauhe Zuruf brachte Anschel zu rechter Besinnung. Mit einem Sprunge war er aus der gepflügten Furche heraus und stand nun auf dem etwas höher gelegenen Feldrain. Von da ließ er seine Blicke wieder und immer wieder über die schwarze Erdmasse gleiten, in die Wojtechs Pflug nur erst wenige Furchen geschnitten hatte – . . . Das Feld seines Vaters, sein Feld! . . .

Der Knecht schien sich nun nicht weiter um den Sohn seines Herrn zu kümmern; es genügte ihm, daß Anschel seiner Ermahnung Folge geleistet hatte. Mit einem belebenden Zurufe an die Rosse fuhr er in seiner Arbeit fort; das scharfe Eisen schnitt wieder ein, und die angefangene Furche zog sich bald so weit, daß der Knecht schon am entgegengesetzten Ende des Feldes stand, als Anschel ihm noch immer nachschaute.

Dieses Pflügen war für ihn heute ein neues, fast nicht gekanntes Schauspiel. Er hatte es oft gesehen, aber wie man den Baum auf der Straße, den Wanderer, der vorüberkommt, sich ansieht, ohne sie dem Gedächtnisse einzuschärfen. Wenn er mit seinen Eltern zu Markte gefahren war, hatte er oft Bauern an ihren Pflügen gesehen, hatte dieselben wimmelnden Gestalten bemerkt, die jetzt dem weiten Umkreis einen so belebten Ausdruck gaben, aber sie waren an ihm vorübergeglitten, wie wirre Traumfiguren. Was gingen sie ihn an? Er fuhr zu Markte, er sollte in einer Bude stehen und die Kunden locken und bedienen. Heute sah er zum ersten Male, da er zugegen sein konnte, wie solch ein Pflug scharf und schneidend die Erde aufwühlte; zum ersten Male roch er den Duft, der frisch und sinnestärkend aus der Scholle aufstieg; er sah, wie man dabei umging; er konnte ungestört jedem Zuge und Handgriff, jeder Bewegung folgen und sah eine Furche vor seinen eigenen Augen entstehen, sah sie beginnen, wachsen und zu Ende ziehen. Das alles war ihm früher entgangen. Hätte er denn im »Gewölb« oder »auf dem Markt« dazu Zeit gehabt?

Dann bewunderte er den Knecht, wie er so geschickt dabei verfuhr, war erstaunt über dessen Kraft, wenn er an einer unebenen Stelle den schweren Pflug aufhob, als wäre es ein »leichtes Federl«, und ihn wieder einsetzte in die Erde, daß er noch einmal so scharf in dieselbe eingriff; über die Folgsamkeit der Tiere, die ohne Zügel, bloß durch die ermahnenden Zurufe Wojtechs gelenkt wurden, und die dennoch die gerade Linie einhielten.

»Möchtest du's auch können?« drängte es sich ihm als ein unabweisbarer Wunsch auf.

Jetzt war Wojtech wieder bei ihm angekommen; Anschel mußte die Stelle, worauf er stand, verlassen, damit der Knecht mit Pflug und Rossen umwenden konnte. Da hielt Wojtech plötzlich inne; ohne den Sohn des Hauses anzusehen, fragte er mit demselben mürrischen Tone, der ihm eigen zu sein schien:

»Hast du mir was zu sagen von deinem Vater, Bürschchen?«

Anschel überhörte den Spott, der in der kleinlichen Bezeichnung seines Alters lag; ihm genügte es in seiner erhobenen Stimmung, daß ihn der Knecht überhaupt einer Anrede gewürdigt hatte.

»Der Vater hat mir nichts aufgetragen für dich,« entgegnete er schüchtern, als ob Wojtech eine ihm übergeordnete Person wäre, die ihm eine abschlägige Antwort erteilen könnte.

Der Knecht schien diese Worte langsam in Bedacht ziehen zu wollen. Er zog aus der Brusttasche eine Pfeife samt der schweinsledernen Blase mit Tabak hervor, stopfte sie und begann zu rauchen. Anschel schaute mit einem Gefühle banger Erwartung diesem Beginnen zu; ja, er war erschrocken, als der Knecht, weil der Tabak auf den ersten Zug keinen Rauch gab, mit einer grimmigen Bewegung neuen Zündschwamm auf den Feuerstein legte, und nun so heftig mit dem Stahle daran schlug, als hätte er ein störriges Pferd unter der Hand, das gebändigt werden mußte.

Endlich gelang der Versuch. Nachdem Wojtech einige Züge getan und überzeugt schien, daß die Pfeife »gehe«, schob er die Schweinsblase wieder in die Tasche zurück, tat noch einmal einen kräftigen Zug, daß der Rauch wie eine leichte Wolke über die Furchen sich lagerte, und schickte sich an, wieder Hand anzulegen an den Pflug und die Pferde. Anschel bemerkte das mit neuem Schrecken; hatte Wojtech kein Wort für ihn? Das mürrische Wesen des Knechtes schien ihm nichts Gutes zu versprechen; – aller Mut, alle Freudigkeit war von ihm gewichen.

Wojtech hatte in der Tat mit einem kräftigen Rucke dem Pfluge eine neue Wendung gegeben und stand im Begriffe, die frische Furche zu beginnen. Da, mit einem Male wandte er sich um und schaute dem Sohne seines Herrn gerade ins Angesicht. Es war ein finsterer, fast tückischer Blick, der aus Wojtechs Augen auf Anschel fiel.

»He, Bürschchen,« sagte er, »wenn dein Vater mir nichts melden läßt durch dich, was willst du denn hier?«

Auf diese Anrede war Anschel nicht gefaßt; der Knecht fragte ihn, was er auf dem Felde seines Vaters, auf seinem eigenen Felde zu tun habe. Alles Blut drängte ihm zu Kopf; in zorniger Entrüstung brachte er nur mühsam die Worte hervor:

»Ich komm' aufs Feld, weil es unser ist.«

Wojtech schien von dieser gerechten Aufwallung Anschels sich wenig beirren zu lassen. Sein Antlitz wurde nicht finsterer; er blies eine starke Rauchwolke von sich; aber aus seinen Augen fiel ein merkwürdiger Blick.

»He, Bürschchen,« sagte er langsam, »mußt mir nicht durchgehen; ich habe nicht gesagt, daß das Feld nicht dein ist, aber was du hier tun willst, das hab' ich gefragt.«

»Darf man sich denn sein eigenes Feld nicht anschauen?« rief Anschel noch immer zornig.

»He, warum nicht,« entgegnete Wojtech mit derselben Bedächtigkeit; »aber ich sehe schon, man muß bis an den allerletzten Tag von der Welt warten, bis daß die Juden anders werden. Die hat unser Herr und Heiland bis in den tiefsten Grund und Boden hinein verflucht. Die können gar nicht anders werden.«

»Wie so?« fragte Anschel, ganz betroffen von diesem unerklärlich dunkeln Ausspruche des Knechtes.

Wojtech tat wieder einige Züge aus der Pfeife, aber sie war ihm während des Redens ausgegangen. Mit einer heftigen Bewegung schob er sie in die Brusttasche zurück.

»Nicht einmal so eine sakr . . . Pfeife will brennen, wenn die dabei sind,« sprach er halblaut vor sich hin, doch so, daß Anschel Sinn und Bedeutung dieser Worte nur zu gut begriff. Dann sagte er laut:

»Willst du wissen, Bürschchen, wieso unser Herr und Heiland euer Volk in Grund und Boden hinein verflucht hat, daß sie es gar nicht mehr von sich herunterwälzen können? Sie dürfen nichts Grünes haben, nicht ein Halm auf der ganzen Erde darf ihnen gehören. So hat er sie verflucht auf ewige Zeiten.«

Anschel begriff im ersten Augenblicke diesen sonderbaren Fluch nicht, aber seine Lage gegenüber dem rätselhaften Knecht hatte ihm die Sinne so geschärft, daß er gleich darauf rief:

»Aber das Feld gehört ja uns, wir haben's ja gekauft.«

»Selbes ist wahr,« entgegnete Wojtech, »und auch nicht wahr, wie man's nimmt.«

»Ich frag' dich nur eins, Wojtech,« sagte Anschel eifrig. »Hat der Kaiser es uns erlaubt, Felder zu haben und zu kaufen?«

»Ja und nein,« entgegnete der Knecht unbeugsam.

»Hast du's denn nicht gedruckt gelesen?« rief Anschel wieder zornig.

»Ich kann nicht lesen . . .,« sagte der Knecht trocken.

»Wenn du also nicht lesen kannst,« rief Anschel in seiner Entrüstung, »wie kannst du denn so reden? Wir dürfen jetzt alles kaufen, und Felder dürfen wir haben, so viel wir wollen.«

»Und wenn das zehntausendmillionenmal gedruckt ist,« sagte Wojtech mit erhobener Stimme, ohne jedoch einen zornigen Ausdruck anzunehmen, »und wenn es alle Pfarrer in der Welt von der Kanzel herunterlesen, ich kann's nicht glauben.«

»Du willst nicht glauben, was der Kaiser befohlen hat, und was gedruckt zu lesen ist?« rief Anschel, mehr verblüfft als zornig.

»Selbes mag wahr sein,« sagte der Knecht wieder mit seiner früheren Bedächtigkeit, »der Kaiser mag's zugegeben haben, daß ihr Felder kaufen dürft, denn wer das Geld hat, der kann alles kaufen. Aber das will er nicht, daß ihr Bauern seid, und daß ihr ackert und sät.«

»Wir werden Felder kaufen dürfen,« rief Anschel, gereizt von dem Widerspruch, der in den Worten Wojtechs lag, bitter auf, »und Bauern dürfen wir nicht sein? Das will ja der Kaiser gerade nicht. Wir sollen ja Bauern werden.«

Wojtech schüttelte ungläubig den Kopf; er schien durch den letzten Beweisgrund Anschels etwas in seiner vorgefaßten Meinung erschüttert zu sein. Anschel bemerkte, wie seine Lippen zuckten, als wenn er etwas Heftiges unterdrücken wollte. Dann griff er wieder in die Brusttasche und holte die Pfeife hervor, deren aschigen Inhalt er auf der Hand ausklopfte. Es hatte so den Anschein, als ob er sich auf eine recht einschneidende Gegenrede besinnen wollte. Der Versuch mochte ihm aber mißlungen sein; denn nach einer langen Weile rief er fast ärgerlich:

»Es kann nicht sein! Wie hätte der Kaiser etwas zugeben können, was gegen unsern Herrn und Heiland ist?«

Anschel begriff nun leicht, daß er auf diesen Beweisgrund des Knechtes nichts antworten könne; vielleicht mahnte ihn die im väterlichen Hause von »Kind auf« eingesogene Erfahrung, daß man auf die religiösen Bedenken der »herrschenden« Kirche nichts antworten dürfe. Wojtech hatte, wie dies Gebildeten und Ungebildeten eigen ist, seinen Widerwillen gegen die Juden auf das theologische Feld hinübergespielt, und ihm hierher zu folgen, ward Anschel eben so sehr vom Mangel an hinreichenden Kenntnissen, als von der Furcht abgehalten.

Mit einer ihm sonst nicht gewöhnlichen Dreistigkeit meinte Anschel nach kurzem Besinnen:

»Darauf weiß ich dir nichts zu sagen, Wojtech. Wenn mein Bruder da wäre, der könnte dir darauf einen bessern Bescheid geben; denn der hat's gelernt und wird einmal ein Rabbiner.«

»Ist das soviel als Geistlicher?« fragte Wojtech.

»Ja,« entgegnete Anschel unbefangen.

»Warum studiert er nicht im Seminar bei seinem Bischofe?« fragte Wojtech weiter, den der neue Gegenstand des Gesprächs sehr aufmerksam zu machen schien.

»Narr,« sagte Anschel lachend, »wir haben keinen Bischof, bei uns kann man Geistlicher zu Hause werden.«

»Zu Hause?« rief der Knecht fast erschrocken.

Anschel konnte ein leises Zittern, das die ganze stämmige Figur des Knechtes überflog, bemerken. Was sollte das bedeuten? Welcher neue Auftritt stand ihm bevor? – Das alles dauerte nur einen flüchtigen Augenblick. Wojtech mußte wieder die nötige Fassung gewonnen haben; aber es überkam Anschel ganz eigentümlich, als der Knecht mit veränderter Stimme, fast im weichen Tone zu reden anfing:

»Du glaubst also, der Heiland habe euch nicht verflucht? habe geradezu herausgesagt, die Juden dürfen Felder haben und Bauern werden?«

»Ich glaube es,« entgegnete Anschel, tief betroffen von dem Ernst, der sich über das ganze Wesen des Knechtes gelagert hatte.

»Und meinst du, daß auch dein Bruder, der Geistliche, es glaubt?« fragte Wojtech weiter mit unsicherer Stimme, und warf dabei auf Anschel einen fast bittenden Blick.

»Ja,« sagte Anschel unsicher, weil ihn eine Art Grauen vor diesem Verhöre überfallen hatte, »ich glaube: ja!«

Wojtech wandte sich plötzlich von ihm ab und murmelte etwas vor sich hin, was Anschel nicht verstand; aber er war erstaunt, als sich der Knecht nach einer Weile wieder zu ihm kehrte, und er in dessen Gesicht blicken konnte. Es war, als hätte es sich in diesen wenigen Augenblicken so verändert, daß ein neues, nie gesehenes daraus geworden war. Alles Tückische und Störrische war daraus entschwunden, milde, fast weiblich sanfte Augen blickten Anschel aus diesem früher so finstern, gefürchteten Antlitz entgegen.

Noch höher stieg seine Verwunderung, als nun der Knecht sagte:

»Du willst also ein Bauer werden?«

»Ich will!« sagte Anschel fast unhörbar.

»Willst ackern und säen? Willst das Feld grün machen und es abschneiden, wenn Zeit ist?« fuhr Wojtech in demselben weichen Ton fort.

»Ja,« antwortete Anschel.

»So komm,« rief er mit erhobener Stimme, »hier gebe ich dir den Zügel in die Hand! Ich hab' die Pferde zehn Jahre geführt, heute sollst du sie übernehmen. Und gib jetzt acht, ich werde dir zeigen, wie man ackert.«

Anschel fühlte den Zügel in der Hand; er wußte nicht, hatte er ihn selbst ergriffen, oder hatte ihm der Knecht ihn gegeben. Der plötzliche Entschluß Wojtechs, ihn als Schüler im Bauernhandwerk anzunehmen, hatte auf seine Sinne fast betäubend gewirkt. Wojtech hatte darauf den während des langen Gespräches in den Boden gesunkenen Pflug mit beiden Händen ergriffen, und ihn mit Gewalt auf eine andre Fläche gerückt. Es war dies das Tun eines einzigen Momentes.

»Wie soll ich's denn machen?« fragte Anschel nach einer Weile.

»Erst bete!« sagte der Knecht ernst; und als ob er ihm den Mut geben wollte, in dieser sonderbaren Lage seine Gedanken zu Gott emporzurichten, nahm Wojtech die Mütze vom Kopfe, und hielt sie andächtig in der Hand. Wunderbaren Eindrucks war diese Bewegung des Knechtes auf Anschels Gemüt! Als strömte von Wojtech eine unsichtbar belebende Kraft aus, kamen Empfindungen über ihn, die er bis dahin in solcher Stärke nicht gekannt hatte; eine innere Gewalt drängte Gedanken auf Gedanken, Wort fand sich zu Wort. Anschel hatte gebetet, ehe er selbst es wußte. Es war ein kurzes Gebet, es stand in keinem Buch, aber es war aus einem Menschenherzen gekommen, über das der Hauch der Andacht wehte, wie Frühlingswinde über den fruchtbaren Acker.

»Bist du fertig?« fragte Wojtech nach einer Weile.

»Ja,« sagte Anschel.

»Ich möcht' wissen, was du gebetet hast?« sagte der Knecht in einem Tone, der keine Weigerung zuließ.

Dennoch besann sich Anschel einen Augenblick; er trug Scheu, dieses kaum ihm klar gewordene Gedankenweben der Neugierde des Knechtes bloßzulegen.

»Schämst du dich?« fragte Wojtech, als er Anschel zögern sah.

»Du wirst es aber nicht verstehen!« sagte Anschel errötend.

»Warum nicht?«

»Es kommt etwas von unserer heiligen Sprache darin vor,« meinte Anschel zögernd.

»So sag's nur!« drängte Wojtech.

Gebrochen und unvollständig, weil er erst in eine mit ihm nicht geborene Sprache übersetzen mußte, was ihm einige Augenblicke früher so warm und unmittelbar aus der Seele gequollen war, versuchte Anschel den Inhalt seines Gebetes dem Knechte begreiflich zu machen. Es war ein Zusammenfinden von Gebetformeln, wie sie das Haus und die Synagoge ihm ins Gedächtnis zurückgerufen, mit eignen Gedanken, wie sie in der Weihe des Momentes mit dem vollen Ernste seines Gemütes über ihn gekommen waren.

Wojtech hörte folgendes Gebet:

»Gelobt sei'st du Gott, unser Gott, König der Welt, der du die Erdenfrüchte geschaffen hast und die Baumfrüchte; segne uns Gott, unser Gott, dieses Jahr: laß alle seine Fruchtarten gut gedeihen, laß Tau und Regen zum Segen sich auf die Erde ergießen, damit wir von deiner Allgüte uns sättigen, ja laß dieses Jahr den besten Jahren gleich gesegnet sein. Gott, unser Gott, segne auch unser Haus, mache, daß wir alle Freude hier finden, daß kein Herz trauert. Mache, daß wir nicht unruhig bleiben, denn du kannst ja alles. Der Winde wehen und Regen herniederfallen läßt, der allmächtige Gott, der sei gelobt und gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

Wojtech hatte aufmerksam zugehört, nicht das leiseste Zucken verriet an ihm, daß ihm eines der Worte, wie wenig geeignet sie vielleicht für sein Verständnis klangen, entgangen war. Als Anschel nun geendigt hatte, schien der Knecht noch eine längere Fortsetzung des Gebeteten zu erwarten, er blickte noch immer auf Anschels Mund. Dann sagte er rasch:

»Jetzt komm, jetzt wollen wir ackern.«

Die Pferde zogen an, und in die durch Gebet geweihte Erde schnitt scharf und schrillend das Eisen die erste Furche Anschels.


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