Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20. Das Kind.

Andern Tages war an dem Knechte keine andere Spur des am Abend erlebten Vorganges zu bemerken, als daß er lautlos im Hause umherstrich; nur wenn er an einem vorüberkam, sah er ihm forschend ins Angesicht, und fragte man ihn darob, so wandte er sich lachend um und entfernte sich. Für das seltsam zerrüttete Leben dieses armen Knechtes mochte wirklich die Stunde gekommen sein, in der es sich zum ersten Male seit so langer Zeit einer gewissen Einheit wieder bewußt war; er hatte die lossprechende Gewalt erprobt, die aus einer andern Menschenseele erquickend und verzeihend über seine Schuld gekommen war. Der einzige Elieh konnte daher das stille Wesen des Knechtes an diesem Tage beurteilen. Nachime deutete es anders; sie erklärte es sich mit Wojtechs Furcht vor der Drohung, ihn vor den Richter bescheiden zu lassen.

Aber während hier eine Menschenseele wie die Blume in stiller Nacht ihren Kelch öffnete, schloß sich eine andere um so fester. Es waren grauenhafte nächtliche Stunden, die Elieh nach der Unterredung mit dem Knechte verbrachte. Er hatte den Knecht von der Schuld freigesprochen! Das Gesicht brannte ihm vor tiefer Scham, wenn er dachte, in welcher Stellung der Knecht sich ihm gegenüber befunden. Ein Liebesglück wegzudrängen mit roher Faust, das sich von selbst anbot, das nichts anderes verlangte, als mit dem Geliebten vor dem gleichen Gotte und in derselben Kirche sich zu beugen, – Elieh sagte es sich vor, das wäre er nicht imstande gewesen. Dennoch lag in der Handlungsweise des Knechtes etwas, was ihm unbewußt neben tiefem Grauen ein Gefühl von Ehrfurcht abnötigte. Wojtech hatte sein Mädchen nicht zur Taufe führen wollen! Er wollte das schöne Gebilde seiner Seele nicht der Untreue an sich selbst anheimgegeben sehen; seine kräftige Natur war zurückgebebt, als er sein Liebstes zum größten Opfer sich geduldig bereiten sah, und er hatte es nicht angenommen. Woher hatte dieser Knecht nur die Kraft genommen? Statt die aufgeregten Wogen seines Blutes zu beschwichtigen, hatten Wojtechs Geständnisse den Aufruhr in ihre Tiefen getragen. Ihm hatte sich ja das Liebesglück noch nicht angeboten!

In dieser Nacht las Elieh eifriger als je in dem Gebetbuche des Knechtes. Er hatte anfangs danach gegriffen, um die Sprache, die sie redete, besser handhaben zu können; jetzt wußte er auch, warum es gerade ein Gebetbuch sein mußte, das ihm in die Hände fiel! . . .

Inzwischen trug Anschel das Liebeszeichen seines Mädchens noch immer auf dem Herzen. In diesem jungen Gemüte hatte die Leidenschaft keinen Raum, um zerstörend und zertrümmernd zu hausen. Anschels Liebe war ein Wesen, mit dem er allein verkehrte, das er nur in unbewachten Augenblicken an sich herantreten ließ, um mit ihm Worte des Verständnisses auszutauschen. Näher heranzutreten an das wirkliche Gebilde von Fleisch und Blut wagte er nicht. Unbewußt hatte Anschel über seine junge Liebe gleich anfangs den Bann der Entsagung ausgesprochen, und es gelüstete ihn nicht, denselben zu brechen. Anschels Leben, seine Gegenwart und Zukunft war zu sehr mit dem innersten Leben seiner Eltern verbunden, als daß er nicht vom ersten Augenblicke an jede Hoffnung auf Liebesglück hätte versinken lassen. Dicht neben seinem Mädchen standen Vater und Mutter. Wie konnte er zweifeln, wem er den Vorzug geben sollte? Zu gut kannte er das Wesen der Mutter; sollte er ihrem Weh noch ein neues hinzufügen, eines, vor dessen leisester Ahnung sie vielleicht in den Tod gesunken wäre?

Immer mehr festigte sich der Entschluß in ihm, das so reizend vor ihm aufgestiegene Liebesland in Vergessenheit sinken zu lassen; er wollte nicht daran denken. Wenn es sich ihm vor die Augen stellte, wollte er es zurückstoßen; ja, in diesem milden Herzen keimte mit immer weiter greifenden Wurzelarmen der Gedanke, daß seine Liebe ein unerlaubter Frevel sei, eine Versuchung, von neidischen Geistern über ihn verhängt, ob er mutig genug sei, ihr Netz zu zerreißen.

Es gab Stunden, wo selbst Anschel, dessen Sinnen und Trachten auf der feuchten Scholle des Feldes ihr neues Dasein gezogen, an sich die Frage stellte, ob es gut gewesen sei, daß sie die alte Heimat verließen?

Es fehlten nur noch wenige Tage zum Beginnen der Ernte. Anschel verbrachte sie in tiefernster Stimmung; sie waren ihm wie der Vorabend eines großen Feiertages. Zu Nachime sagte er einmal: »Weißt du, Mutter, wie mir ist? Ich kann's fast nicht sagen. Aber wenn ich an den Tag vor meiner Bar MitzwehZu dreizehn Jahren wird der Knabe zur Übernahme der religiösen Pflichten fähig. denke, so glaub' ich, mir ist grade jetzt so, wie mir damals war. Ich bin damals zwischen lauter Furcht und Freude herumgegangen, wie einer, der mit dem Kaiser sprechen soll, und weiß nicht was?«

»Von Freude werd' ich erst reden,« sagte Nachime trübe, »wenn alles hereingebracht sein wird. Bis nicht das letzte Korn in der Scheuer ist, hör' ich nicht auf mich zu fürchten und zu sorgen.«

»Und warum fürchtest du dich, Mutter?« fragte Anschel unbefangen.

»Lebendiger Gott!« schrie Nachime aus, »hast du's schon geschrieben und gesiegelt, daß du alles gut herein bekommst? Gott kann dir nicht zeigen, wer er ist und was er kann? Schwach ist er vielleicht, daß er nicht auf einmal etwas über uns schicken kann? Sieh dir den Himmel nur an!«

Der Himmel war tiefblau; die Sonne brannte lotrecht herab; kein Wölkchen schwebte an dem weiten Raum. Dennoch schauderte Anschel.

»Mutter,« sagte er, »du meinst doch nicht im Ernst, daß etwas geschehen kann? Es sieht ja gar nicht danach aus!«

»Narrele,« sagte Nachime mit einem triumphierenden Lächeln, »Narrele, ich schlafe schon seit zwei Wochen nicht, weil ich immer glaube, Blitz und Donner und Hagel fallen grade auf unser Feld herab! Wo hab' ich mich früher vor einem Gewitter gefürchtet? Das hab' ich erst auf meine alten Tage lernen müssen. An einigen Regentropfen mehr oder weniger hängt ja unser Reichtum, und wenn sich am Himmel eine schwarze Wolke zeigt, muß ich denken: Gilt's mir oder gilt's mir nicht? Nun frag' ich dich, Anschel, ist das ein Leben für ein jüdisch Gemüt?«

Sonderbar! diesmal fand Anschel keine Antwort, so nahe sie ihm sonst lag. Die Mutter hatte ihm ihre Furcht mitgeteilt; wie ein Krankheitsstoff fiel sie in seine Seele und nahm ihr die frischen Farben der Gesundheit. Anschel mußte der Mutter recht geben, und doch klagte sie jeder Nerv in ihm des lautesten Unrechtes an. Daß Donner und Hagel ihr Hab und Gut in wenigen Stunden vernichten konnten, darin mußte er ihr freilich beistimmen; aber wurde dadurch nur die schwere Saat zu Boden geworfen? Aber was sollte dann aus ihm werden? Sollte die Mutter recht behalten? Sie, die im Grunde des Herzens vielleicht ihre Hoffnung auf den Untergang der Feldfrucht baute, deren Gebet sich vielleicht darum zum Himmel erhob?

So war Anschel gerade in dieser Zeit in einer seltsam zerrütteten Stimmung. Er ging auf die Felder hinaus, übersah den wallenden Segen, der weit und breit über die Ebenen bis an den fernsten Saum des Gesichtskreises gelagert war; aber der Anblick hatte jetzt nichts Erhebendes für ihn. Immer drängte sich die Furcht der Mutter und seine eigene zwischen den sichtbaren Segen Gottes und die unsichtbare Angst seiner Seele.

»Etwas muß doch daran sein,« lautete einer seiner düsteren Gedanken, »wenn sie sagen, daß der Jude nicht zum Bauer paßt. Ich habe früher immer geglaubt, das ist alles Lüge und Übertreibung. Warum sollte er's nicht sein können? Hat er nicht dazu die gehörige Kraft? Ist er schwächer als sie? Und doch möcht' ich die Bäuerin und den Bauer sehen, die mit solchen Schrecken und Ängsten umhergehen, die Ernte vor den Augen! Meine Mutter kann nicht schlafen vor lauter Sorge, und ich – ich bin nicht besser daran. Warum fürchten wir uns? Warum tun wir nicht wie die andern? Wie wir noch im ›Geschäft‹ gewesen sind, waren ganz fremde Leute Tausende von Gulden uns schuldig; keinem ist es eingefallen, sich zu ängstigen, daß man das Geld verlieren könnte. Jetzt haben wir Felder und . . . sorgen mehr als je zuvor. Ist ein Feld weniger sicher als der schlechteste Schuldner? – Ein Feld steht fest, keiner kann es forttragen. Ein Schuldner kann sterben und verderben. Und wenn heute einer der Mutter sagt: Nachime, willst du zurück in dein Geschäft? so geht sie mit tausend Freuden. Der Jude kann, mir scheint, nichts Festes und Sicheres haben, lieber hat er das Ungewisse und Unbeständige. Wird denn das einmal anders werden? und sollt's bei uns nicht schon anders geworden sein?«

In dieser Stimmung kam eines Abends dem vom Felde Heimkehrenden seine Schwester Tille vor dem Dorfe entgegen.

»Ich such' dich schon eine ganze Stund' lang,« rief sie ihm schon aus der Ferne zu, »und hab' dich nicht finden können!«

»Ist etwas vorgefallen?« fragte Anschel. Tille lächelte eigentümlich; das beruhigte Anschel.

»Vorgefallen ist nichts,« sagte sie nach einer Weile, als sie bei Anschel angekommen war, »aber warum erschrickst du so?«

Anschel stammelte eine unverständliche Entschuldigung; er konnte dem Kinde nicht sagen, in welchem Zusammenhange sein plötzliches Erschrecken mit der ganzen früheren Gedankenreihe stand.

»Soll ich dir sagen, warum du so erschrocken bist?« rief das Kind lachend, dem Bruder ins Angesicht sehend.

»Nun?« sagte Anschel, nur mühselig sich zu einer heitern Miene nötigend, »wenn du es errätst, Tille. so kriegst du, was du willst.«

»Bleibt's dabei?« rief das Kind unbegreiflich heftig.

Jetzt erst sah Anschel das Kind forschend an; es lag ein sonderbarer Ausdruck von Verschlagenheit auf dessen Antlitze.

»So red' doch, Tille!« rief er mit ärgerlicher Erregtheit.

»Bleibt's dabei?« sagte Tille noch einmal.

»Erst bis du geredet hast,« meinte Anschel.

Das Kind besann sich noch einen Augenblick, dann rief es mit schelmischem Lächeln:

»Eine schickt mich zu dir . . ., ich soll etwas bei dir abholen.«

»Um Gottes willen!« rief Anschel und wandte sich ab.

»Was erschrickst du so?« meinte das Kind unbefangen, »ich komm' ja von ihr

»Und sie hat dich geschickt?« fragte Anschel noch immer abgewandt.

,.Wie du gleich weißt, wer mich schickt?« sagte Tille mutwillig, »ich hab' ja von ihr noch gar nicht gesprochen.«

»Ich kenn' nur eine, die dich schicken kann,« meinte Anschel leise, »und die hat dich geschickt.«

»Kann's keine andere sein?« rief das Kind.

»Nein!« sagte Anschel.

»Also weißt du auch, was du ihr zurückschicken sollst,« meinte Tille nach einer Weile, »denn ich weiß es nicht.«

Unwillkürlich fuhr Anschel nach der Stelle seines Herzens.

»Hat sie dir wirklich gesagt, du sollst es bei mir abholen?« rief er unüberlegt leidenschaftlich.

»Was denn?« fragte Tille erstaunt. »Sie hat mir nur gesagt, du sollst es ihr zurückschicken.«

»Tille, du foppst mich,« rief mit einem Male Anschel in furchtbarer Erregtheit und faßte das Kind an der Hand, daß es vor Schmerz aufschrie. »Du foppst mich . . . . sie hat dich gar nicht geschickt.«

»Ich schwör' dir,« weinte das Kind und suchte sich loszuringen, »ich schwör' dir, Anschel, sie hat mich geschickt.«

Plötzlich ließ Anschel das Kind los, alle Röte war aus seinem Antlitz geschwunden. Mit einer raschen Bewegung hatte er jenes Tuch hervorgeholt, das ihm in jener Brandnacht über die Gartenplanke hinübergereicht worden war.

»Da hast du's,« sagte er, am ganzen Leibe bebend, und legte es ihr in die Hand.

Das Kind betrachtete mit erstaunten Augen das Tuch und hielt es einige Augenblicke zwischen den Händen.

»Das soll ich ihr geben?« rief sie endlich. »Was stellt denn das eigentlich vor?«

»Gib ihr's nur,« sagte Anschel leidenschaftlich, »und richt ihr von mir aus, sie hat ganz recht, wenn sie es von mir zurückfordert.«

»Du weinst, Anschel?« rief Tille, als sie bemerkte, daß dicke Tränen an den Augenwimpern ihres Bruders hervorquollen, »hätt' ich dir's vielleicht nicht sagen sollen?«

»Wer sagt dir, daß ich weine?« meinte Anschel, indem er sich bemühte, standhaft dem Kinde gegenüber zu erscheinen.

Tille sah den Bruder einen Augenblick schweigend, fast forschend an; dann rief sie mit einer Stimme, wie sie noch nie in Anschels Ohren geklungen, denn es tönten daraus die Laute des Kindes und der erwachsenen Jungfrau zugleich:

»Anschel, ich schwöre dir's, ich werde dich nicht verraten.«

Seltsam durchzuckte der Ton dieser Worte Anschels Seele; vielleicht ahnte er, daß in der verwandten Kindesseele die plötzliche Blüte eines Verständnisses ausgebrochen war, die nach dem natürlichen Laufe der Dinge vielleicht noch Jahre bedurft hätte, ehe sie die enge Knospenhülle durchbrach. Blitzschnell erkannte er aber auch, daß das Kind von seiner eigentlichen Sendung an ihn nur kindische Begriffe gehegt, daß ihm aber in dem einen Augenblicke der volle Sinn dafür aufgegangen war.

»Tille,« rief er in einer Art jubelvollen Taumels, »was bist du doch für ein goldig, merkwürdiges Kind!«

Dann drückte er sie mit überwallender Heftigkeit in seine Arme, Brust klopfte gegen Brust. So hielt er das Kind minutenlang umfaßt. Als er sie wieder aus seinen Armen ließ, betrachtete er sie lange mit freudestrahlendem Antlitz, ein Schimmer wahrhaften Stolzes hatte es überflogen.

»Tille, mein Gold,« sagte er, »wie ich dich jetzt anseh', kommst du mir ganz anders vor als sonst. Du bist auf einmal größer geworden; ich weiß gar nicht, was mit dir vorgegangen ist. Bist du denn noch die nämliche Tille?«

In der Tat war die Wandlung, die über das Kind gekommen war, sichtbar genug. Die großen, schwarzen Augen leuchteten in einem Feuer, das milde und leidenschaftlich zugleich war. Vor den Augen Anschels hatte sich hier ein Wunder zugetragen, wie es nur selten den blöden Augen des Menschen zu sehen gegönnt ist. Ein Kind war zur Jungfrau geworden; eine Blüte hatte ihre Hülle gesprengt.

»Ich bin noch die nämliche Tille,« sagte das Kind im merkwürdigen Ernste, »du sollst es bald sehen.«

Diese Worte gaben Anschel wieder das ganze Bewußtsein seiner Lage. Ein Gefühl von Scham, daß es sich doch nicht schicke, das dreizehnjährige Kind in die geheimsten Falten seiner Seele blicken zu lassen, war in ihm aufgestiegen; er warf sich vor, bereits zu weit gegangen zu sein. Aber ein Blick über das ganze Wesen des Kindes beschwichtigte augenblicklich diese widerstreitenden Stimmen. Tille war wirklich kein Kind mehr, eine verständige Schwester, ein Mensch mit denselben Erfahrungen, denselben Leiden stand vor ihm.

»Ja, Tille,« rief er. »ich will mit dir reden, wie ich nur mit einer Schwester reden kann, denn ich seh' dir's an, du wirst mich verstehen. Du bist kein gewöhnlich Kind, mit dir kann man sich ausreden wie mit einem großen Menschen und braucht sich nicht zu schämen – ja besser noch; denn ein großer Mensch versteht einen oft gar nicht oder will einen gar nicht verstehen.«

»Also soll ich ihr doch das Tuch zurückbringen?« fragte Tille nach geraumer Zeit, als Anschel darüber nachzusinnen schien, auf welche Weise er am besten dem Kinde die Geheimnisse seines Herzens öffnen könnte.

»Ja, ja,« rief Anschel mit wieder erwachter Leidenschaft, »gib ihr's, Tille, ich kann's ja so nicht bei mir behalten.«

»Anschelleben,« sagte das Kind, und seine Wangen färbten sich, indem es so sprach, höher und höher, »wenn es dir das Herz beschwert, warum schickst du es denn zurück? Zwingt dich einer dazu, oder meinst du, sie wartet darauf, daß ich's ihr zurückbringe? Sie ist nur böse, weil du dich gar nicht umsiehst auf sie, weil du vorübergehst an ihr und tust, als wenn du sie gar nicht kennen möchtest. Da hat sie mich heute gebeten, ich soll dir sagen: sie hätte dir etwas aufzuheben gegeben, und das sollst du ihr zurückschicken. Was es aber ist, hab' ich nicht gewußt.«

»Ich darf's ja nicht behalten, Tille . . ,« rief Anschel mit mühsam niedergekämpftem Schmerze.

»Das versteh' ich nicht, Bruder,« meinte das Kind mit ernster Unbefangenheit, »sie ist eine Bauerstochter und du und ich sind auch Bauerskinder.«

»Tille!« rief Anschel in bittend beschwörendem Tone, »hüt' dich, daß dir so ein Wort, wie du jetzt gesprochen, nicht vor der Mutter entfällt. Sie könnte den Tod davon haben. Und wenn wir auch Bauernkinder sind, so ist doch ein großer Unterschied zwischen uns und ihr. Hast du das vergessen?«

»Ich seh' keinen Unterschied, Anschel,« sagte das Kind. »Tun die Bauern etwas anderes, als wir? Bist du vielleicht etwas anderes, als jeder Bauernsohn?«

»So weit hast du recht, Tille . . ,« meinte Anschel stockend, denn die Beweisgründe der Schwester verwirrten ihn, und doch staunte er sie an. »Aber es ist doch ein Unterschied.«

»Willst du sie denn nicht nehmen?« fragte mit einem Male Tille, die nach Art der Kinder rasch auf das Mittelglied der Gedankenkette griff, indem sie den Bruder mit ihren großen Augen forschend ansah.

»Um Gottes des Lebendigen willen,« rief Anschel »wo fällst du aus! Ich . . . und sie, mein Weib!«

»Meinst du denn, ich weiß nicht, wer wir sind und wer sie?« meinte darauf das Kind in klarer Ruhe. »In der ›Gasse‹, da weiß ich, geht es nicht, die Leute möchten das nicht zugeben. Aber hier bist du aus dem Dorfe und bist ein Bauer. Du wirst dir doch wieder eine Bauerstochter nehmen müssen und die auf dem Dorfe geboren ist. Wie willst du die in der ›Gasse‹ finden?«

»Schweig, schweig, Tille,« rief Anschel und streckte die Hand gegen die Schwester aus, als wollte er ihr den Mund verschließen. »Ich fürcht', ich fürcht', du versündigst dich, denn auch Kinder können sich versündigen.«

»Wenn ich so etwas sage, soll ich mich versündigen?« meinte das Kind mit einem schnell vergänglichen Lächeln. »Wozu sind wir denn also Bauern geworden? Mein Bruder Anschel, der ein Bauernsohn ist, sollt' sich nicht eine Bauerntochter nehmen dürfen?«

»Schweig, schweig, Tille,« rief Anschel wieder, »du wirfst ja in einem Augenblicke nieder, was die Rabbis und die Gelehrten in tausend und tausend Jahren aufgebaut haben. Ich bitt' dich, schweig! Meinst du denn, es geht so schnell, wie man die Hand umdreht, daß ein einzelner Mensch sagt: Ich halt' das nicht, was die andern halten? Dafür sind wir ja Juden und gehören alle zu einem Volk, daß wir tun und halten, was die andern alle tun und halten. Wie du aber nur an deinen Willen dich hältst, so hörst du sogleich auf, zu uns Juden zu gehören.«

Tille antwortete nicht sogleich; sie schien den Sinn dieser Worte reiflich zu überlegen. Auf ihrem holden Antlitze war der Kampf ihrer kindischen Begriffe mit dem ihren Jahren weit vorausgeeilten Verständnisse deutlich zu lesen. Welche Gestalt und Form mochten Anschels Vorstellungen über eine alte Welt- und Staatenordnung in diesem jungen Kopfe angenommen haben? Mit einem Male rief sie:

»Aber, wir sind ja jetzt Bauern, Anschel. Wir haben uns ja auch nicht gehalten an das, was die andern tun?«

Auf diesen Einwand mochte Anschel, so stark er sich vielleicht in seiner Stellung als erwachsener Mensch dem Kinde gegenüber fühlte, doch nicht gefaßt sein. Er starrte eine Weile das kühne Schwesterchen an, das so behende Waffen auf Waffen für die Behauptung seiner Ansicht herbeitrug. Um nicht ganz wehrlos vor ihr zu erscheinen, sagte er stotternd:

»Was wär' denn das für eine Kunst, Bauer zu werden, wenn man gleich aufhören will, ein Jude zu sein? Bauer sein und ein Jud' dabei, das ist die Kunst. Was wär' denn das auch für ein Gefallen an den Kaiser, wenn das so leicht gehen möchte? Du siehst ja, wie die Mutter darunter leidet – und meinst du, um unsern Vater steht es besser? Der Kaiser soll's wissen, wie blutig schwer es unsern Eltern fällt, sich in das Neue zu schicken.«

Tille schwieg; sie hing mit ihren Augen an den Lippen ihres Bruders. Anschel aber hielt dieses Schweigen für die Wirkung seiner geistigen Überlegenheit, während das Kind vielleicht eine andere Gedankenreihe ergriffen, die nur im losen Zusammenhange mit seinen Beweisgründen stand.

»Und meinst du denn,« fuhr er nach einer Weile fort, »selbst wenn wir wollten, daß dann unser Wille geschieht? Glaubst du, und wenn heute einer von uns geht und sagt zu einem Bauer: ›Gib mir deine Tochter!‹ er darf's tun? Sie dürfen ja auch nicht.«

»Nicht? sie dürfen nicht?« rief Tille in einem Tone, aus dem die schmerzlichste Enttäuschung des Kindes herausschrie.

»Nein, Tille, mein Herz!« wiederholte Anschel.

»Dann muß ich ihr ja das Tuch zurückbringen,« sagte Tille anscheinend ruhig; aber ihre Augen leuchteten von einem flüssigen Feuer; es war das Erbarmen eines Kindes mit den Leiden eines Mannes; es war das Verständnis der Jungfrau, das aus diesen treuen Augen sprach.

»Ich hab' dir's ja gesagt, Tille!« . . . sprach Anschel.

»Wie werden wir nur jetzt im Dorfe bleiben können?« sagte das Kind halblaut vor sich hin.

Anschel hatte dafür keine Antwort. Still und düster gingen die Geschwister ihren Weg zum Hause. Tille hielt das Liebeszeichen krampfhaft in die Hand gedrückt. Wer hätte geahnt, was alles an dieses zerknitterte weiße Tuch sich knüpfte?


 << zurück weiter >>