Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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10. Elieh soll fliehen.

Es wäre nun ein eigentümliches Schauspiel gewesen, mit leiblichem Auge zu sehen, wie Nachime kämpfte und sann, welche Besuche sie anstellte, um sich ihrem zweiten Sohne zu nähern. So sehr sich ihre eigentliche Natur geändert hatte, wie heftig sich auch ihr bisheriges stilles Wesen nun in lautem Trotz aussprach, von einer Mitteilung an Elieh schreckte sie etwas zurück, dessen sie sich selbst nicht klar ward.

Weil er nie gesprochen, hielt sie ihn für unempfindlich, meinte, außer dem »Lernen« sei nichts in der Welt, woran er sich gern beteiligen möchte. Dann war sie wieder der festen Überzeugung, Elieh sei noch unglücklicher, als sie selbst. In diesen Schwankungen des Urteils ging ihr jeder Mut verloren, die Scheu mehrte sich, und es gab Augenblicke, wo sich ein Gefühl des bittersten Grolles auch gegen Elieh in ihr Raum machte, weil er diese inneren Kämpfe nicht gewahrte, und ihr nicht entgegenkam, die ihr ganzes Herz vor ihm »auszuschütten« im Begriffe stand.

Einstweilen äußerten sich die Näherungsversuche Nachimes in einer übertriebenen, fast zur Schau getragenen Aufmerksamkeit, die sie Elieh widmete, soweit es sein leibliches Behagen betraf. Sie konnte zu jeder Stunde des Tages in seine Kammer kommen, um nachzusehen, ob es ihm an nichts fehle. Oft fragte sie ihn gar nicht, es genügte ihr, ihn »über seinen Büchern« sitzen zu sehen, an der Türe den singenden Ton seines »Lernens« zu vernehmen! Sie »sorgte sich«, und sie selbst war dieser Meinung, »den Kopf heraus«, wie sie ihm etwas Gutes antun könne; sie brachte ihm oft mehrere Male am Tage kleine Leckerbissen auf die Kammer, wie sie Mann und Kinder nicht gewohnt waren, und ein Gefühl von Befriedigung zog dann jedesmal in ihre Brust ein, wenn Elieh aus seinen gesenkten Augen wenigstens einen Blick zu ihr aufwarf, in welchem sich eine Art von Dank aussprach. Sie konnte dann stundenlang darüber nachsinnen, wie sie diesen dankbaren Blick benützen, wie sie daran ihre Mitteilungen anknüpfen sollte.

»Der versteht dich,« sagte sie dann zu sich selbst, »er will nur nichts reden, weil er sich mit seinem Vater nicht verfeinden will.« Diese Überzeugung tat ihr wohl, tröstete sie beinahe, wiewohl es wieder Stunden und Augenblicke gab, in denen sich eine grauenhafte Verlassenheit über ihre Seele lagerte, in denen sie wieder alle die Blumen ausriß, die in ihr Wurzel gefaßt, und dasjenige mit Füßen trat, was sie kurz vorher in sich selbst aufgebaut hatte.

Wenn aber Nachime sich zuweilen den Augenblick vergegenwärtigte, der es ihr endlich gönnen werde, sich mit ihrem Sohne Elieh ausreden zu können, dann überkam sie ein Gefühl von Freude; sie hätte nicht sagen können, warum? Es schien ihr, als trüge sie leichter an ihrer Last, als hätte der bloße Gedanke, Elieh könnte mit ihr Mitleid haben, eine Beschwörungsformel über ihr Leid ausgesprochen, vor der es zusammenzuckte und schwieg. Zuweilen konnte sie sich einreden, sie habe mit Elieh bereits gesprochen, und aus seinem Munde seien die mildesten Trostworte geflossen; aber sie erwachte nur zu bald aus dieser Täuschung. Dann wußte sie nie, was sie eigentlich mit ihm reden, was sie ihm anzuvertrauen habe.

»Weiß er's denn nicht, Gott Lebendiger,« rang es in ihr dann jedesmal, »bin ich denn stumm wie ein neugeboren Kind? Hab' ich denn nicht schon geredet und geschrien, daß ich mein', das ganze Dorf hat mich gehört? Wenn er mir etwas zu sagen hätte, wär er denn nicht schon zu mir gekommen?«

In ungeahnter Weise, ganz anders wie Nachime es erwartet hatte, brach eines Tages die Gelegenheit für sie an, mit ihrem Sohne Elieh zu reden. Sie brauchte einmal bei einer Verrichtung in der Küche die Mithilfe Tilles; als sie nun das »Kind« rief, erschien es nicht, wie oft sie auch seinen Namen durch das ganze Haus ertönen ließ. Wie es bei so innerlich gereizten Naturen zu geschehen pflegt, geschah es auch hier. Die Abwesenheit des Kindes, das sie brauchte, das oftmalige Rufen seines Namens, ohne daß es erschien, brachte mit einem Male wieder die selten schlummernden Geister des Grolles in Aufruhr. Obwohl es klar war, daß sich Tille nirgends im Hause befand, ging sie doch scheltend und schreiend umher, brachte sich so selbst in immer höhere Aufregung, und kam so endlich an Eliehs Kammer. Lag diesem Verfahren eine bestimmte Absicht?

Sie riß die Tür heftig auf, und mit einer Stimme, die von innerm Grimme zitterte. rief sie in Eliehs Kammer hinein:

»Ist Tille nicht bei dir?«

»Bei mir?« kam es tonlos nach einem Augenblicke von Eliehs Lippen zurück. »Ich hab' das Kind heute noch mit keinem Aug' gesehen.«

»Leider Gottes,« brach es nun mit einem Male in leidenschaftlicher Klage aus Nachime hervor. »Leider Gottes, das Kind hat sich verschlechtert, seit es auf dem Dorfe ist, man kann gar nicht sagen, wie verschlechtert! Wenn mir einer vor sechs Wochen gesagt hätte: Das wird aus deiner Tille werden, aus dem merkwürdigen Kind, an dem Gott und die Menschheit sich erquickt haben, ich hätt' ihm, wie einem infamen Lügner, den Rücken gekehrt. Hat das Kind nur einen Augenblick Geduld im Haus? Läuft es nicht den ganzen Tag bei den Bauern herum, und weiß ich, was sie da alles vor sich sieht? Sie lernt nichts; das ›Brösele‹, was sie gelernt hat, wird sie auch bald verlernt haben – zuletzt wird sie nicht wissen, ist sie bei Judeneltern geboren, oder ist ihrer Mutter ein anderes Kind unterschoben worden; denn auf wen kommt alles, als auf die Mutter? Wenn das Kind eine schlechte Wirtin wird, sagt die Welt: Warum hat sie's bei der Mutter nicht besser gelernt? Kann das Kind nichts, weiß nicht, wo Gott wohnt, so sagt man wieder: Kann denn die Mutter etwas? Weiß sie, wo Gott wohnt? Vom Vater ist aber nie die Rede; da meint die Welt immer, der hat zu viel zu schaffen, der kann sich um die Kinder nicht umsehen. Da frag' ich aber die ganze Welt, und wenn die ersten Landesrabbiner darunter wären: Wer denn als der Vater soll sich darum kümmern? Wem denn soll's am Herzen liegen, als ihm? Aber leider Gottes! Vom Vater ist unser Unglück ja ausgegangen. Das Kind sieht, der Vater tut den ganzen Tag nichts, geht nur von einem Bauer zum andern herum, so tut es ihm's nach. Ist denn das ein Tun von deinem Vater, daß er Anschel arbeiten läßt, wie den niedersten Knecht, und sich selbst schont er? Ist denn das ein Tun für ihn? Ist er so etwas gewöhnt? Zuzusehen, wie andere ackern und säen, ist das eine so große Kunst? Ich frag' dich, hat er darum unser gesegnet Geschäft aufgeben müssen? Er hätt's nicht besser haben können?«

In dieser Weise würde Nachime noch lange fortgefahren haben; allmählich hatte sich der erste Zorn über Tilles Abwesenheit in ihr gelegt, aber um so bewußter und bitterer trat in ihr alles hervor, was damit in so innigem Zusammenhange stand. Es war ihr klar geworden, daß sie jetzt mit Elieh reden müsse, die Gelegenheit lud dazu ein. Elieh hatte sie »reden lassen«, und Nachime es nicht bemerkt, daß er keinen Augenblick von seinem Buche aufgeschaut hatte. Nachime stand noch immer in der offenen Tür; plötzlich erhob sich Elieh und ging auf die Tür los, die er hinter sich schloß. Unwillkürlich trat darauf Nachime über die Schwelle in die Kammer. Sie war mit ihrem Sohn allein.

»Es zieht, Mutter . . .,« sagte Elieh, als sei nichts vorgegangen. »Willst du nicht lieber ganz zu mir hereinkommen?«

Nachime ward von diesem Empfange eiskalt getroffen. Unwillkürlich fuhr sie mit der Hand nach der Stirn, als ob sie sich besinnen wollte, daß sie recht gehört, daß ihr Sohn Elieh auf ihre lange Klage keine andere Antwort gefunden habe, als des Luftzugs wegen die Tür zu schließen. Doch Elieh ließ ihr zur vollen Besinnung nur wenig Zeit.

»Und was willst du von mir, Mutter?« sagte er dann eben so tonlos, indem er sich wieder zu seinem Buche setzte.

Nachime wußte mit einem Male nicht, was sie eigentlich wolle; in ihrem Gedächtnis war in der Tat ein Stillstand eingetreten, eine Unterbrechung, wie sie nach einem heftigen Schlag, sei er physisch oder moralisch versetzt worden, auf unser Gehirn fällt. Ein solcher Schlag war auf sie gefallen. Keine Gewalt der Welt hätte in diesem Augenblicke vermocht, ihr die Fassung, und mit der Besonnenheit das Gedächtnis zurückzustellen. Sie starrte ihren Sohn Elieh an.

»Willst du etwas von mir?« wiederholte Elieh mit Nachdruck.

Allmählich besann sich Nachime; fast kleinlaut entgegnete sie:

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich mit dir hab' reden wollen. Mein Kopf ist mir auf einmal so schwach geworden. Seit ich hier auf dem Dorfe bin, ist mir das schon oft geschehen; früher wär' mir das nicht passiert. Da war mein Kopf so gut, wie der von einem siebenzehnjährigen Mädchen.«

Müde ließ sie sich auf einen Stuhl nieder. Elieh mochte wirklich glauben, die Mutter sei von einer augenblicklichen Schwäche befallen worden, denn er beeilte sich zu sagen, als ob er ihren Erinnerungen zu Hilfe kommen wollte:

»Du hast vorerst von Tille gesprochen, und wie sie dir groß Leidwesen macht.«

»Von Tille hab' ich geredet?« fragte Nachime schwach. »Es gibt aber Leut', größere als das Kind ist, die mir noch mehr ›gebrochen Herz‹ machen. Denn, was das Kind anbelangt,« fuhr sie fort, »da hätt' ich bald ausgesorgt, wenn nur du wolltest, mein Sohn Elieh.«

»Ich?« rief Elieh verwundert. »Wie komm' denn ich dazu?«

»Du brauchtest dich des Kindes nur anzunehmen, Elieh, mein Sohn!« sagte die Mutter mit steigender Wärme. »Gott hat dir einen Kopf gegeben, daß du dir alles merkst und behältst. was in den Büchern steht. Es muß ja etwas Merkwürdiges sein, was in dir alles stecken mag! Wenn man von Kind auf nichts anderes getan hat, als lernen . . . allmächtiger Gott, was muß sich da in so einem Kopf zusammengehäuft haben! Bis jetzt haben wir aber noch keiner von dir etwas gehabt. Fang jetzt damit an. Laß etwas an deine Schwester ab. Lerne du mit ihr! Sie wird ja zuletzt nicht wissen, wo Gott wohnt . . . Willst du dir das auf deiner Seele lassen?«

»Ich soll mit Tille – lernen?« rief Elieh aufs neue verwundert; aber dieser Ruf klang fast wie Hohn.

»Warum nicht, Elieh, mein Sohn?« meinte Nachime, und sah ihm mit der vollen Liebe einer Mutter, die auf die Kenntnisse ihres Kindes stolz ist, in das Gesicht. »Traust du dir nicht zu, was tausend andere, die weniger können und weniger gelernt haben, als du, sich zutrauen? Meinst du, du wirst es nicht zustand' bringen? Du, der einen solchen Kopf hat?«

Waren es die Schmeicheleien der Mutter oder ein anderes, das wir nicht kennen – auf Eliehs blassem Angesicht malte sich eine Röte, wie sie seit langem dort nicht sichtbar war. Mit einer Entschiedenheit, die Nachime an ihm nicht gewohnt war, rief er:

»Ich kann nicht, Mutter . . ., ich kann nicht.«

Nachime glaubte noch immer, die natürliche Verzagtheit ihres Sohnes, sein stilles Wesen, sträube sich gegen den Antrag, den sie ihm gestellt. Sie meinte daher:

»Glaubst du denn, ich will, du sollst aufhören zu lernen? ich will, du sollst das aufgeben, was mein Stolz und deine Freude ist? Aber wenn ich dich bitte, du sollst dich ein ›bissele‹ nach deiner Schwester umsehen, daß sie nicht ganz verwildert, ist denn das so viel gefordert?«

»Ich kann nicht, Mutter . . . . ich kann nicht,« rief Elieh aufs neue.

»Du sagst aber nicht warum?« sprach Nachime noch immer mit dem sanften Tone der Überredung, »jedes Warum hat sein Darum, sagt man doch gewöhnlich.«

»Warum schickst du sie nicht in die Schul'?« rief Elieh fast trotzig.

»In welche Schul'?« fragte Nachime verwundert, »ich werd' sie doch nicht meilenweit in eine Schul' schicken.«

»Es ist ja eine hier im Dorf,« meinte Elieh in demselben Tone des Trotzes. »Die Bauern lassen ihre Kinder dahin gehen, schick' sie auch.«

»Bist du sinnedig, mein Sohn?« rief Nachime entsetzt und sprang vom Stuhl auf. »In die Bauernschul' soll ich mein Kind schicken?«

»Warum nicht?« entgegnete darauf der »Bocher«, aber weit ruhiger, als sich nach dem Aufschrei seiner Mutter erwarten ließ. »Warum nicht? Bist du etwas anderes, als eine Bäuerin? Ist der Vater etwas anderes, ist Anschel nicht ein Bauer? Willst du etwas Besonderes haben? Und ist nicht Tille jetzt ein Bauernkind?«

»O, du schlechter Sohn!« rief nun Nachime ganz außer sich, »hältst du's also auch gegen mich? Alles ist gegen mich verschworen, willst du mich auch noch verspotten und verkleinern? Von dir muß ich so eine Antwort erleben, du ausgeartet Kind? Darum hab' ich dich geboren und erzogen?«

Erschöpft von diesem gewaltigen Ausbruche ihrer Leidenschaft sank Nachime aufs neue in den Stuhl. Sie konnte nicht weiter reden; der Schmerz, der sie befallen, mußte ein heftiger sein; sie wimmerte laut und hielt beide Hände an die Brust gepreßt, als wollte sie dort ein Reißen und Zersprengen verhüten.

Todblaß, die Mutter anstarrend, stand Elieh da. Auch in ihm mochte ein gewaltiger Schmerz drängen . . . er fand kein Wort der Verteidigung. Doch war er mehr erschrocken als erschüttert. Zum ersten Male in seinem Leben vielleicht hielt er mit seiner Mutter eine so ernste Unterredung, und sie nahm einen so schrecklichen Ausgang für ihn. Mühsam brachte er endlich die Worte hervor:

»Aber was hab' ich dir denn gesagt, Mutter . . ., daß du auf einmal so aufgebracht wirst gegen mich? Ist's eine Lüge, ist's eine Unwahrheit, daß wir Bauern sind? Was hab' ich denn anders gesagt?«

»O, du ungeraten Kind,« begann Nachime, die in dieser Verteidigung neue Kraft zur Aufstachelung ihres Zornes fand, »hast du von Kind auf nur das in deinen Büchern gelernt, daß man seine Mutter verspotten und kränken darf? Haben Gott und die Menschen dich das gelehrt? Steht das in den Büchern? Dann soll man sie nur gleich nehmen und sie alle ins Feuer werfen! . . . Ich komme, um mich mit dir auszureden, komme, um mein Herz vor dir auszuschütten, und du wirfst mir gerade das vor, was mich so unglücklich macht, was mich noch in die Grub' bringen wird? Lebendiger Gott! Sind das Kinder! Ist das eine Welt!«

»Was soll ich dir aber sagen, Mutter,« rief nun Elieh, dessen Stimme durch den verhaltenen Schmerz einen Ton von Gereiztheit angenommen hatte, der fast zornig klang. »Was soll ich dir denn sagen? Du willst, ich soll mit Tille lernen –«

»Ja, das will ich,« unterbrach ihn die Mutter. »Das große Geschäft! Wenn ein Bruder sich um seine Schwester umsieht: wenn er ein bisset trachtet, daß sie nicht ganz verwildert.«

»Du willst. ich soll mit Tille lernen . . .?« fuhr Elieh fort. »wenn ich dir aber sage, daß ich selbst nichts lernen kann, daß ich selbst meine Bücher gern ins Feuer werfen möchte, wirst du mir dann noch vorwerfen, daß ich dich verspotten und verkleinern will?«

Als der »Bocher« diese wenigen Worte in einem Tone gesprochen hatte, der halb wie Verzweiflung, halb wie Trotz eines beleidigten Gemütes klang, war eine minutenlange Pause eingetreten. Nachime starrte ihren Sohn an, ungewiß, ob das Geständnis, das sie soeben vernommen, wirklich aus seinem Munde, über seine Lippen gekommen war? Selbst der schreiendste Schmerz, der nichts hört, als sich selbst, hat Augenblicke, in denen seine Sinne so scharf werden, daß er die leiseste Regung in einer verwandten Seele vernimmt. Ein solcher Moment war auch für die arme Mutter eingetreten. Eine wunderbare Wandlung ging in ihrem Innern vor. Der stechende Krampf in der Brust stillte sich; eine Empfindung von Befriedigung, von Erlöstsein stieg lind und weich in ihr auf und drängte ihr Tränen in die Augen. So hatte sie sich also in Elieh nicht getäuscht! . . . er trug gleichfalls sein Leid. All das Erbarmen, dessen die Seele dieses leidenden Weibes voll war, kam über sie, und mit einer Stimme, die gegen die frühere Leidenschaftlichkeit beinahe wie Freude klang, sagte sie:

»Du kannst also auch nichts lernen, mein Elieh . . .? Hab' ich's denn nicht gewußt, seitdem wir hier sind, daß dich etwas drückt? Hab' ich dir's denn nicht angesehen an den Augen? Wie sollst du auch hier lernen können? Mitten unter Bauern, mitten unter Leuten, mit denen du nicht reden kannst? Du gehörst in eine große Gemeinde, wo es viel Gelehrte und Rabbiner gibt, mit denen du dich ausreden kannst, wenn dir etwas in deinen Büchern aufstößt, was dir nicht sogleich in den Kopf gehen will. Aber hier? Frag du den langen Richter, frag du unsern Knecht Wojtech, wie man die Pferde einspannt, wie man die Kühe am besten füttert, das werden sie wissen. Kann aber einer von deinesgleichen unter solchen Leuten existieren? Leider Gottes! Dein Vater hat das nicht überlegt, er hat nur an sich gedacht. Von mir will ich gar nicht einmal reden.«

Nachime hatte sich in die neue, fast freudige Stimmung hineingeredet, daß sie darüber vergaß, ihren Sohn selbst reden zu lassen. Elieh hatte sie mehrmals unterbrechen wollen; seine Lippen zuckten, sein Gesicht war von innerer Bewegung bald flammenrot, bald wieder tiefbleich. Als Nachime jetzt geendet, stand er eine Weile sprachlos da; dann sagte er mit einem mühsam unterdrückten Seufzer:

»Du weißt nicht, Mutter, wie schwer mir hier das Lernen geht. Wenn du wüßtest – –«

»Warum weiß ich's nicht?« unterbrach ihn Nachime.

»Nein, nein,« schrie der Bocher beinahe auf, »du kannst es nicht wissen. Wie soll ich mit einem Menschen, und sei es selbst meine Schwester, lernen, wenn ich's für mich nicht kann! Seitdem wir hier sind, hab' ich nicht so viel gelernt, als ich früher in einer Stunde erlernt habe. Ich bin noch immer bei demselben Blatt.«

»Sag du das deinem Vater,« meinte Nachime düster, »und sieh zu, ob er dir's glauben wird.«

»Warum bin ich nicht geworden wie Anschel?« fuhr Elieh, die Unterbrechung seiner Mutter nicht beachtend, fort, »warum hab' ich nicht so starke Glieder wie er, kann arbeiten und schaffen wie er? Was hab' ich davon, daß ich so viel gelernt habe? Ein gesunder Leib wär' mir jetzt lieber, als das da.«

Mit hastig zuckender Hand hatte er dabei das Buch berührt, das auf dem Tische lag; es fiel mit Geräusch auf den Boden. Nachime hatte sich schnell gebückt und es aufgehoben. Sie berührte es dann flüchtig mit den Lippen und legte es geschlossen wieder an die frühere Stelle.

»Jetzt hab' ich dir's verblättert!« sagte sie hierauf erschrocken, »du wirst nicht wissen, wo du ›gehalten‹ hast.«

Der schwere Fall des Buches mußte den Bocher aus einer Gedankenfolge aufgeschreckt haben, die er nicht mehr zu verknüpfen imstande sein mochte. Ein fast höhnisches Lächeln spielte um seine Lippen.

»Glaub' du das,« sagte er, »daß ich mir nicht aufblättern kann. Wo ich jetzt aufblättere, da halt' ich. Das ist ja nicht so, wie beim früheren Lernen.«

Wie eigentümlich! In diesem Augenblick war es ein vielleicht an sich unwesentlicher, aber für Nachime hoch bedeutungsvoller Umstand, daß Elieh das auf den Boden gefallene Buch zu küssen vergessen hatte. Mitten unter den Gegensätzen, zwischen denen sich ihr Gemüt auf und nieder gejagt bewegte, war ihr das nicht entgangen. Nicht Eliehs Geständnis seiner unglücklichen Lage, nicht die halb und halb entschleierte Seele ihres Kindes, die sie in dieser Viertelstunde näher kennen lernte, als je zuvor, hatte sie so tief ergriffen, als grade dieser kleine Umstand. Blitzgleich fuhr es ihr durch den Kopf: »Dem muß ärger sein als dir, der vergißt ja schon Gott! Wie muß ihm also sein! Ich hab' das heilige Buch geküßt, und er nicht?« Dieser Gedanke drängte sich ihr nicht als Vorwurf auf; sie begriff es, daß Eliehs Unterlassungssünde mit seinem Unglück entschuldigt werden müsse. Das Vergehen des Bochers hätte ein größeres sein dürfen, und Nachime, die Mutter, hätte ihm nicht gezürnt.

»Weißt du was, mein Elieh,« sagte sie darauf mit einer fast trockenen Entschiedenheit, »dir vor allem muß geholfen werden! Was liegt an mir, ob ich zugrunde geh' oder nicht? Gott hat's gewiß nicht anders mit mir bestimmt. Aber für dich muß Hilfe geschafft werden, denn du bist mehr wert wie wir alle. Und solange noch Zeit ist, muß für dich gesorgt werden! Du mußt fort von hier.«

»Fort von hier?« kam es leise, fast unhörbar von den Lippen des Bochers zurück.

»Was willst du hier bei uns herausbringen?« fuhr Nachime fort. »Willst du mit den Bauern ›Thora‹ lernen? Ich weiß, wir sind dir zu wenig, wir alle können ja nichts, und du hast so viel gelernt. Du mußt also wieder zurück in die Gemeinde, da verstehen sie dich besser, da gibt es Leut', mit denen du dich ausreden kannst. Du wirst sagen: Wie kann ich? Wer wird mich abwarten? – Dafür laß nur mich sorgen. Wir haben dort eine so große Freundschaft, es wird sich schon ein Vetter oder eine Muhme finden, die werden dich für Geld und gute Worte schon in Kost und Quartier nehmen. Dagegen kann dein Vater nichts haben; er kann dich ja so zu nichts brauchen. Verlaß dich drauf, mein Sohn. Für dich wird gesorgt werden.«

»Ja, Mutter,« rief Elieh mit einer Anstrengung in Stimme und Gebärde, die jedem andern, nur nicht Nachime seltsam erschienen wäre, »ja, mach nur, daß ich fortkomme. Hier ist meines Bleibens nicht. Und je früher du's zustande bringst, desto lieber ist es mir. Der Vater kann nichts dagegen haben.«

»Ich schreib' gleich morgen in die Gemeinde. Verlaß dich drauf,« sagte Nachime mit kräftiger Entschiedenheit.

Nachime verließ ihren Sohn in gehobener Stimmung. Seit langer Zeit fühlte sie sich wieder in ihrem Rechte, für eines ihrer Kinder sorgen zu dürfen. Dieses Recht war ihr vorenthalten worden; was geschehen war und noch geschah, ereignete sich ohne ihre Zustimmung, als »ob sie nicht da wäre«; sie hatte sich dieses Recht gleichsam zurückerobert. Der kleinste Sieg macht den Menschen froh, darüber muß man nicht erst den Feldherrn fragen. Hier hätte eine Mutter die beste Auskunft erteilen können.

Als die Mutter fort war, stand der »Bocher« noch lange in tiefem Nachsinnen da. Dann setzte er sich an den Tisch und schlug das Buch auf. Aber er las nicht darin; die krausen Buchstaben flimmerten und tanzten vor seinen Augen auf und nieder. Tiefe Stille herrschte durch das Haus, die plötzlich durch die Stimme seines vom Felde heimgekehrten Bruders unterbrochen ward. Elieh zuckte zusammen.

»Und er bleibt hier?« entrang es sich langsam schmerzvollen Tones seinen Lippen. Mit scheuer Hast blickte er dann um sich, ob diese Worte einen Zeugen gehabt. Die Mutter hatte ihn schon lange verlassen. – »Und er bleibt hier?«


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