Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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11. Eliehs Spaziergänge.

Es gibt ein Bekenntnis der Liebe, das unausgesprochen und ungehört lange zwischen zwei Menschenherzen waltet. Alles, was sich später an das wirkliche Aussprechen, an das Entschleiern eines längst Geahnten knüpft, lag schon früher im stummen Blick, im verstohlenen Vorüberhuschen verwandter Gedanken. Darum ist echte Liebe so stumm, wenn sie einmal zum Offenbaren und Bekennen drängt, so voll Hingebung und Opfermutes; was sie sich zu sagen hat, zitterte lange schon in allen Lüften; was sie geben will, hat sie schon in jenem Augenblicke gegeben, als sich zum ersten Male zwei Seelen zueinander neigten, die bis dahin fremd und einsam unter den anderen gegangen waren.

Zwischen Anschel und seinem Mädchen war es bisher zu keiner Sprache gekommen. Seit jenem Tage, au dem er ihr Tuch als Pfand mit sich nehmen durfte, hatte er sie nur flüchtig, nie allein, fast immer in Begleitung der Magd gesehen. Er wußte nicht einmal ihren Namen, nur daß sie des Richters Tochter sei, in dem Hause mit den rohgezimmerten Balken wohne: das allein war ihm bekannt. Wenn er an diesem Hause vorüberging, blickte er nicht einmal hin, und doch ward ihm gerade über jene Planke, die ihm in die Augen fallen mußte, das benetzte Tuch als ein erstes Zeichen des Erbarmens in jener Nacht gereicht.

Anschel hatte bisher keinen Anlaß gefunden, sich und sein Geheimnis zu verraten; er verbarg es sicher und unnahbar in jenem Heiligtum der Seele, das man vor Späherblicken bewahrt glaubt. Aber darin täuscht sich gerade solch junges Gefühl. Nicht Vater, nicht Mutter konnten entdecken, welches neue Dasein sich in der Seele ihres Kindes aufgebaut hatte; aber zwei Augen sahen es darin mit allen Schauern und Qualen; diese Augen drangen tief in das Innere Anschels ein, belauerten die unscheinbarste Veränderung in seinem Gesichte, hätten erzählen können, besser als Anschel selbst es erzählt hätte, was seit jener Nacht bis jetzt in ihm vorgegangen. Diese Augen sahen nicht nur jenes Tuch durch die Hülle hindurch, unter der es Anschel auf seinem Herzen trug, sie wußten auch, was es alles bedeckte: die Lust und Wonne eines beglückten Gefühles. Elieh kannte alles.

Wenn Anschel frühmorgens ins Feld ging, oft mit einem lustigen Sange die Pferde anschirrte; wenn er abends heimkehrte, lustiger vielleicht, als er es nach der zerrissenen Stimmung der Familie hätte sein sollen, so überfiel es jedesmal den Bocher mit einer Bangigkeit und Furcht, als stünde ihm Ungeheures bevor. »Wird er sie heute sehen, hat er sie heute gesehen?« sprachen dann Stimmen in ihm, die nun nicht mehr zu beschwichtigen, nicht mehr zurückzudrängen waren.

Solche Stimmen ertönten nicht nur in der Frühe oder am Abend, beim Weggehen oder beim Kommen Anschels; sie umschrien ihn den ganzen Tag, weckten ihn aus dem Schlafe auf, standen bei ihm, wenn er unwillkürlich nach dem Buche griff, um eine alte Gewohnheit zu pflegen; entzündeten ein Feuer in ihm, das aus dem geringsten Anlasse seine Nahrung zog, das Blut, das sonst fast unbewegt durch die Adern floß, in beständiger Wallung erhielten. Elieh hatte die Tochter des Richters seit jener Nacht nicht wieder gesehen; aber ihm war sie gegenwärtig in allem Liebreiz, in aller Machtfülle ihrer von den Feuern jenes Brandes beleuchteten Schönheit; er fühlte den Hauch ihres Atems, er hörte stündlich und täglich die drohend furchtsamen Worte, mit denen sie seinen Bruder – und ihn von sich fortgedrängt hatte. Welch ein merkwürdiges Grauen sie überfallen hatte, wie sie aufschrie, als sie den Augen Anschels, die doch die seinigen waren, begegnete! Wenn der Bocher an diesen Augenblick dachte, überkam ihn eine Art freudiger Wut. Er war in ihrer Nähe gewesen, vor ihm hatte sie sich gefürchtet, seine Anwesenheit hatte sie für gefährlich gehalten! War es aber nicht Anschel, den sie eigentlich gefürchtet? . . .

Es wird viele sonderbar bedünken, wie dieser schweigsame Jüngling, dessen Blicke niemals über die Bücher hinausgeglitten waren, plötzlich zu diesen feinen Unterscheidungen kam. Wer könnte auch sagen, wie das geschah? Wenn an dem dürren Felsen in einer Nacht plötzlich eine Blume aufsprießt, die man dort nie gesehen, so hat das der Wind getan, der in seinen Schoß das verwehte Fruchtkorn aufnahm und es auf das öde Gestein legte. Wer aber hat dem Winde das geboten? wer dieses Gestein fähig gemacht, Grund und Boden der Blüte abzutreten? Wird das die »Wissenschaft« je erklären?

Wie alle, die zur Familie gehörten, sogleich beim Betreten des neuen Bodens eine Hülle ihrer alten Natur nach der andern fallen ließen, um gleichsam in neue Gewänder zu schlüpfen, so konnte auch der Bocher diesem Gesetze nicht entgehen. Er und Nachime unterlagen dieser Wahrheit zumeist. Beide waren mit Banden, die sie für unzerreißlich gehalten, an eine hergebrachte Ordnung ihres Lebens geklammert gewesen; plötzlich aus diesem Boden gerissen, weit hinweggeführt von allem, was früher die Luft ihres Atmens, ihre Nahrung, ihr Denken und Anschauen gebildet hatte, fand sie die neue Heimat gleichsam befähigt, Wandlungen ans Licht zu bringen, die vielleicht nie zum Vorschein gekommen wären. Was innen lag, wurde nach außen gedrängt, und grade die bisherige Lebensweise des Bochers war es, die am leichtesten dem Stoße weichen konnte. Der Stein, der aus dem bisherigen Baue fiel, mußte auch ihn fallen machen.

Wem Naturen wie die Eliehs schon begegnet sind, den wird es nicht befremden, wenn er ihn ohne Willenskraft und Anstrengung sehen wird, dem Sturme, der über ihn gekommen, sich entgegen zu stemmen. Haltlos stand er da. Die Mutter mit ihrem Plane, ihn vom Dorfe wegzuschicken, hätte ihn zum Bewußtsein wecken, ihm den Ausweg zeigen können; aber es geschah grade das Gegenteil. Jetzt erst fand Elieh den Widerstand in sich, er wollte nicht gehen. Es war sein fester Entschluß; er klammerte sich daran mit allen Gewalten seiner aufgeregten Sinne. Sollte er sich »wie ein Kind behandeln lassen?« Und Anschel sollte zurückbleiben?

Es war nun leicht zu erklären, warum es den Bocher jetzt so wenig in seiner Kammer duldete. Seit er die Absicht der Mutter kannte, waren ihm die vier Mauern ein Gefängnis geworden; nur wenn Nachime in ihrer neu erwachten Sorge für den Sohn nachzusehen kam, ob »ihm nichts fehle«, saß er am Buche und lernte. Wenn er ihre Tritte auf dem Hausgang vernahm, überfiel ihn plötzlich die alte Unterwürfigkeit. Nachime sah dann in sein leidendes Antlitz. Diese Besuche brachten Qualen für ihn, die zuweilen bis zur Unerträglichkeit sich gestalteten. Erst wenn die Mutter ihn wieder verlassen, atmete er freier auf; er fürchtete sie, wie Anschel ihn fürchtete.

Eines Tages brach sich dieser Zustand plötzlich Bahn. Es war in der Nacht. Alles schlief im Hause, aus dem Dorfe tönte nur fernes Hundegebelle an sein Ohr. In dieser Stille, die nur nicht in ihm selbst war, überkam ihn der Gedanke, sie jetzt sehen zu müssen, mit solcher Stärke, mit so unabweisbarer Gewalt, daß er ihm folgen mußte, und sei's selbst auf Kosten des Lebens. Noch ehe er sich selbst seiner Absicht ganz bewußt war, stand das Fenster seiner Kammer schon geöffnet. Ein lautloser Sprung . . . und er war draußen.

Mit dem Betreten des Bodens außer dem Hause beginnt für den Bocher ein neuer Abschnitt. Wie ein Gesundeter, der nach langem Gebreste in die wohltuende Luft der Freiheit tritt, nur ungern wieder zurückkehrt, so wird es auch Elieh ergehen. Der gewaltsame Entschluß, außer den väterlichen Mauern ein Etwas zu befriedigen, das er nicht kannte, war für ihn eine Art Genesung. Sein Zustand drängte nach einer Lösung.

Er stand in dieser Nacht wohl an die zwei Stunden an der Gartenplanke vor ihrem Hause. Still und unbeweglich stand er da. Er wollte sie sehen durch die Finsternis der Nacht hindurch. Er hörte nur einen einzigen Gedanken in sich, und wie kindisch töricht dieser auch lauten mochte, er bildete jetzt das Leben, den Herzschlag in dieser leidenschaftlichen Seele. »Er kann sie den ganzen Tag sehen, zu jeder Stund' im Tag kann er sie sehen, und ich, ich soll gar nichts haben?«

So wartete er auf ihr Erscheinen von Minute zu Minute, lauschte auf die fernste Bewegung im Hause, schauerte bald auf vor Entsetzen, wenn sich wirklich etwas im Hause regte, und konnte sich dann wieder freuen, daß es so still war rings um ihn, und er wieder warten und lauschen könne, ob sie nicht doch heraustrete aus den Finsternissen der Nacht . . .

Die Luft zog schneidend; am Himmel funkelten wohl die Sternenheere, »die Er ausziehen läßt nach ihrer Zahl, sie nennt mit Namen, und von denen keines untergeht«. Elieh gedachte dieser Schilderung aus dem alten Propheten, als er einmal lange sinnend hinansah. Die Worte fielen ihm in der heiligen Sprache seines Glaubens ein, aber sie erweckten ihn nicht zur Besinnung; er sagte sie leise gedankenlos vor sich hin; sie gemahnten ihn nicht daran, wo er stand und wohin er gehöre. Im Hause entstand plötzlich für einige Augenblicke ein wirrer Lärm, im Stalle hatte sich ein Roß losgerissen, das stampfend und unruhig hin und her lief. Menschenstimmen erschollen, das ganze Haus schien erwacht. Da erst fühlte sich Elieh von einem Froste gepackt, der auf dem Innersten seiner Adern zu kommen schien . . . er fürchtete sich.

Er war wieder durch das Fenster in seine Kammer gekommen, er wußte nicht wie? – –

Als Nachime am frühen Morgen zu ihm kam, wie es ihre Gewohnheit war, verwunderte sie sich schon auf dem Hausgang, daß sie auf der Kammer nicht jenen eigentümlich summenden Gesang vernahm, den Elieh beim Gebete anstimmte. Ihre Ahnung, daß etwas mit ihm vorgegangen, war nicht sobald in ihr aufgestiegen, als sie auch schon mit einem Schrei des Entsetzens sich überzeugte, daß sie recht geahnt. Sie fand Elieh unbeweglich und starr in seinen Kleidern über das Bett hingeworfen. Sie glaubte einen Toten vor sich zu sehen.

»Elieh, Elieh, mein Sohn!« schrie sie, »was ist dir?«

Sie ergriff eine seiner herabhängenden Hände; sie fühlte sich wie brennendes Feuer an; sie berührte seine Stirne, da war's, als springe ihr ein Quell siedend heißen Wassers entgegen. Aber er lebte doch noch. In diesem grauenhaften Augenblicke übersah sie, warum Elieh vollständig angekleidet über dem Bette lag, sie übersah das offene Fenster. Mehrmals rief sie ihn mit seinem Namen; angstvoll ergriff sie bald seine Hände, bald fuhr sie wieder über sein glühendes Gesicht. Elieh erwachte nicht davon; schwer aus der Brust heraufröchelndes Atmen verriet noch, daß das Leben in einem wirren Kampfe lag mit Kräften, die es vielleicht schon in den nächsten Stunden vernichten wollen.

Anfangs wirkte der Gedanke, daß Elieh gestorben sein könne, fast lähmend auf ihre Sinne. Aber alsbald erwachte ihr jener Mut der Werktätigkeit, der Frauen gerade bei solchen Anlässen nicht zu verlassen pflegt. Sie riß die Tür auf, und mit einem Tone, der auf das Schrecklichste schließen ließ, rief sie in den Hof hinaus:

»Kommt, kommt, Elieh ist im Sterben.«

Dann stürzte sie wieder an das Bett hin, auf dem Elieh nach immer schwer röchelnd lag. Sie ergriff aufs neue seine Hand, die noch immer dasselbe verzehrende Feuer ausströmte, und drückte sie an ihre Lippen.

»Elieh, mein gut Kind,« rief sie in der schneidenden Sprache der Verzweiflung, »bist du tot? werd' ich dich noch lebend sehen? Lebender Gott! Er hat's sich zu stark zu Herzen genommen sein Unglück, und nun, was wird jetzt das Ende sein? Es hat ihm ja müssen das Herz brechen, so ein schwach und krank Kind wie er ist.«

Nachimes Ruf hatte jemanden herbeigebracht, den sie in diesem Augenblicke am wenigsten erwartet hatte. Vetter Koppel erschien an der halboffenen Türe und streckte sein eisgraues Haupt vorsichtig vorwärts, ehe er weiterschritt.

»Wo ist Schlome, mein Mann?« rief Nachime schnell.

»Im Dorf,« entgegnete Koppel mit weinerlich gebrochener Stimme.

»Und Anschel?« rief sie heftig. Sie hatte vergessen. daß sie ihn selbst aufs Feld hatte hinausgehen sehen.

»Fortgegangen,« sagte der Alte in demselben Tone.

»Und Tille?« schrie Nachime fast verzweifelt.

»Alles ist fort,« wimmerte Vetter Koppel.

»So komm du und hilf mir,« rief sie in ihrer Angst, »siehst du denn nicht, wie Elieh daliegt, er ist ja wie – wie tot.«

Vetter Koppel schob sich mühselig bis zum Bette; aus seinen kleinen Augen fiel ein wirrer Blick auf den Leblosen; dann sagte er schluchzend, mit Tränen, die aus dem Tiefsten seiner Seele zu kommen schienen:

»Warum hat er mir meinen ›Mogen Dovid‹ wegnehmen lassen? Er hätt's nicht tun sollen!«

In ihrer Lage klangen diese Worte des alten Vetters wie Spott an Nachimes Ohren. Mit einer hastigen Bewegung der Hand schob sie ihn vom Bette fort, daß er einige Schritte weiter taumelte.

»Narr!« rief sie außer sich, »mußt du mir jetzt mit dem kommen? Ist jetzt die Zeit dazu?«

Schluchzend und weinend, wie ein mit schwerer Züchtigung bedrohtes Kind, entfernte sich Vetter Koppel. Noch an der Tür rief er mit tränenerstickter Stimme:

»Hätt' er mir nur nicht meinen ›Mogen Dovid‹ wegnehmen lassen! . . . Jetzt ist er tot.«

Das letzte Wort erweckte Nachime zu neuer Verzweiflung. Mit einer Kraft, die man dem schwachen Weibe nicht zugetraut hätte, schrie sie aufs neue um Hilfe, und rief die Namen ihres Mannes und Anschels.

Selbst in diesem Augenblicke vergaß Nachime das »Dorf« nicht und das Weh, das sie darin gefunden.

Als niemand der Ihrigen erschien, sagte sie mit gerungenen Händen, die Blicke beständig auf den unbeweglich daliegenden Sohn gerichtet:

»Großer, lebendiger Gott! Wenn wir geblieben wären, wo wir waren, hätten denn nicht Hunderte von Menschen mich schon gehört und wären mir zu Hilfe gekommen? Hier aber auf dem gottgeschlagenen Dorf kann ein Mensch verschmachten, und es hört ihn keiner, und man läßt ihn sterben! . . Nicht Vater, nicht Bruder sind hier; das wäre sonst ganz anders gewesen.«

In diesem Augenblicke flog das Hoftor auf und Wojtech trat mit einem Pferde, das er hinter sich zog, herein. Das Pferd hinkte am linken Vorderfuß.

Trotz ihrer Abneigung gegen den Knecht schrie Nachime doch vor Freude auf, als sie das einzige menschliche Wesen erblickte, dessen Hilfe sie in ihrer Drangsal benutzen konnte.

»Wojtech, lieber Wojtech,« rief sie deutsch, »du kommst wie ein Engel vom Himmel herunter.«

Der Knecht verstand die ihm fremden Laute nicht. Doch kam er mit seinem Pferde auf Nachime zu.

»Was sagst du,« rief sie schluchzend in böhmischer Sprache, denn sie hatte mit dem schnellen Verständnis der Angst begriffen, welchen Fehler sie soeben begangen, – »was sagst du, Wojtech, was meinem Sohn zugekommen ist? Er liegt wie tot in seinem Bette.«

»Der hochwürdige Herr?« sagte Wojtech.

Nachime überhörte den sonderbaren Titel, den der Knecht ihrem Sohne beilegte.

»Komm nur herein,« sagte sie, »und sieh dir ihn an; er ist wie tot.«

Wojtech ließ mit einem Male das Pferd los, das seinen Weg zum Stall selbst fand. In einem Satze stand er neben Nachime. Sie nahm ihn ohne Scheu bei der Hand und führte ihn ans Bett Eliehs, der noch immer in derselben Betäubung mit glühendrotem Antlitz und schwer atmend dalag.

»Ist der nicht wie tot?« schrie sie aufs neue, »so liegt er schon seit einer Viertelstunde da, ich kann ihn nicht erwecken, er stirbt so vor meinen eigenen Augen.«

Wojtech starrte den Ohnmächtigen eine Weile an, dann sagte er mit dem Tone des tiefsten Mitgefühls:

»Frau, der hochwürdige Herr ist sehr krank; da muß schnell Hilfe geschafft werden; aber tot ist er nicht.«

Als Nachime die Bestätigung des Unglücks auch aus zweitem Munde hörte, glaubte sie es erst recht; sie war jetzt tief erschrocken. Wie vernichtet sank sie neben dem Bette hin, und indem sie die fieberheiße Hand des Kranken ergriff, rief sie schmerzlich:

»O mein Eliehleben, willst du denn sterben, ehe du deine Mutter noch einmal gesehen hast? Gott! Allmächtiger! wenn's über einen aus meinem Hause kommen soll, so schick's doch lieber auf mich. Ich hab' ja so nichts zu tun auf der Welt! Warum denn über meinen Elieh . . .?«

»Weine nicht, Frau,« sagte Wojtech, »und sehen wir lieber, wie wir ihn ins Bett bringen. Dann will ich gleich nach Brandeis hineinreiten und den Herrn Doktor rufen. Einstweilen mußt du trachten, daß er wieder zum Bewußtsein kommt; es kann ja das nicht so lange dauern.«

Nachime vernahm nicht sobald diese Trostworte des Knechtes, der eine so tätige Mithilfe versprach, als sie neu gestärkt sich erhob. In so drangvollen Augenblicken klammert sich die Seele mit aller Kraft an einen einzigen Hoffnungsstrahl, an ein mildes, auf menschlicher Bewegung hervorgegangenes Wort.

»Ja, tu das, Wojtechleben,« rief sie wieder deutsch. »Gott wird dir's zahlen.«

Der Knecht hob nun den Kranken mit leichter Gewalt auf, und es dauerte nur ganz kurze Zeit, so war dieser seiner Kleidungsstücke entledigt. Er tat das alles mit solcher Schonung, als hätte er ein fünfjähriges Kind unter seinen Händen; er drückte ihn nirgends, seine starke Faust schien für den Augenblick weich und zart geworden zu sein. Selbst Nachime, die dem allem angstvoll zuschaute, mußte sich das gestehen. Sie hatte das von dem mürrischen Knechte nicht erwartet. Aber der Moment schnitt jedes Nachdenken, jeden ferner liegenden Gedanken sogleich ab; wie es ihr denn auch entging, daß das Bett, in das sie den Kranken nun legten, unberührt war. Wojtech bemerkte gleich, daß das Fenster weit offen stand . . . er schloß es bedächtig.

Kaum lagen die warmen Hüllen auf dem Leibe Eliehs, als sich eine Rückkehr aus dem todähnlichen Zustande zeigte. Zuerst ging ein Zucken über das glühende Antlitz, dann schlug er plötzlich die Augen auf; aber als ob der volle Lichtstrahl sie zu schmerzlich getroffen hätte, schloß er sie wieder und stöhnte dumpf hiebei. Kein Wort kam über seine Lippen.

Allein schon das genügte der Mutter.

»Wojtech . . .,« rief sie freudig, »er ist nicht tot. Jetzt eil, was du eilen kannst.«

»Ja, Frau,« sagte der Knecht, »ich will reiten wie der helle Teufel. Nach Brandeis ist eine gute halbe Stunde; wenn der Doktor nicht in einer Stunde schon hier ist bei deinem Sohne, so sag: Wojtech ist ein niederträchtiger Lügner.«

Damit ging er rasch zur Tür hinaus. Bald darauf vernahm Nachime den Hufschlag eines Pferdes auf dem Hof; das Tor wurde geöffnet und wieder geschlossen, und der Knecht ritt im schärfsten Trabe durch das Dorf. Nur wunderte sich Nachime, daß Wojtech, statt die Straße nach Brandeis einzuschlagen, die hart an ihrem Hause rechts führte, das Dorf hinabritt. Es hatte das aber seinen guten Grund. Wojtech wußte, wo Rebb Schlome sich befand; er wollte ihm anzeigen, was im Hause vorgegangen.

Es währte auch nur wenige Augenblicke, so kamen Rebb Schlome und Tille hintereinander. Beide hatte der Knecht gefunden. Tief erschrocken trat Rebb Schlome in Eliehs Kammer; Nachime stand am Bette, und so konnte er nicht gleich das Gesicht des Erkrankten erblicken.

»Um Gottes willen, was ist mit Elieh?« schrie er überlaut.

»Still, still,« rief Nachime leise. »Siehst du denn nicht. daß man ihn nicht erschrecken darf? Er ist sehr, sehr krank. –«

Rebb Schlome schlich nun herbei und sah dem Kranken eine Weile in das vom Fieber hochgerötete Antlitz.

»Es wird ihm nichts sein,« sagte er halblaut, vielleicht sich selbst zur Beruhigung, »er war schon öfters krank, und es ist gottlob! immer gut an ihm vorübergegangen.«

Trotz der traurigen Lage, in der sich Nachime in diesem Augenblicke der ungewissen Zukunft gegenüber befand, die über Tod und Leben ihres Kindes entscheiden konnte, erregten diese wenigen Worte ihres Mannes eine Bitterkeit in ihr, die sie nicht unterdrücken konnte.

»Sieh dir nur an,« sagte sie mit schneidender Herbigkeit, »ob der nicht krank ist? Gott gebe, daß wir ihn behalten. Das Kind hat sich das ›Herz abgegessen‹ vor lauter Kummer und Sorge, daß er hier ist, und nun ist's vorbei.«

Dann aber brach sie in ein leidenschaftliches Schluchzen aus, und nur um den Kranken nicht zu stören, ging sie zur Kammer hinaus. Draußen traf sie Tille, die bleich und atemlos vom Laufen und Schrecken sie fragte, ob es wahr sei, daß es mit Elieh so schlecht stehe?

Nachime erwiderte ihr kein Wort. Vielleicht wollte sie ihr auch nicht antworten.


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