Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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26. Die Brüder und der Vetter Koppel.

Das Haustor war in dieser Nacht nicht geschlossen worden; ermüdet von der Arbeit des Tages, die bis in die späte Schlafensstunde hinein gewährt, hatte keiner der Knechte, ja selbst Nachime nicht daran gedacht. Es war eine jener stillen, mondlosen Nächte, in denen die Natur seltsame Vorkehrungen zu treffen scheint, um sich den Menschen am nächsten Tage mit verändertem Antlitze zu zeigen. Es webt und flüstert ein eigentümlich geheimnisvolles Leben in solchen Nächten; nur, wer es belauscht hat, vermag davon Kunde zu geben. Es ist, als ob selbst das tote Ding, vom Atem unsichtbarer Geister berührt, Regungen des Lebens empfände, die Augenlider aufschlüge, wunderbar tönende Laute empfinge. Still und unbewegt war die Luft, und dennoch knarrten die Türflügel des Hauses in ihren rostigen Angeln. Wer bewegte sie? Wer wollte kundtun, daß des Hauses Ein- und Ausgang unbewacht, für jedes böse Gelüste menschlicher Leidenschaft offen geblieben war?

In dieser Nacht konnten sich zwei ruhelose Augen nicht schließen. Als Mitternacht längst vom Dorfturme erklungen war, huschte eine Gestalt aus dem Hause über den Hof. Als sie an das offene Tor kam, blieb sie zögernd stehen, wie verwundert; dann ging sie eiligst hinaus.

Trotz der ungewissen Helle, die vom mondlosen Himmel bloß durch die hie und da unter den Wolken hervorfunkelnden Sterne vermittelt wird, irren wir nicht, wenn wir in dem nächtlichen Spaziergänger . . . Elieh vermuten.

Er blickt sich mehrmals um, sobald er aus dem Bereiche des Hauses gelangt ist. Warum zaudert er diesmal? warum so vorsichtig? Er schreitet wieder weiter, um nach einigen Augenblicken aufs neue stehen zu bleiben. Er lauscht. Hat er nicht raschelnde Schritte hinter sich vernommen? Ist das sein eigener Schatten, der ihm folgt . . . oder ein fremder, der sich, nachgleitend, fast nachschleppend an seine Fersen kettet? Schon nahe dem Richterhause lauscht er wieder. Hat ihn sein Ohr, sein Auge früher getäuscht? Jetzt hört und sieht er nichts mehr. Die dunklen Spukgewalten einer aufgeregten Einbildung sind verschwunden. Er steht an der uns wohlbekannten Planke; er tappt nach dem Tore, es ist nicht geschlossen worden.

Wohl mag die sorgsame Hand des Hausvaters oder die eines Knechtes den Riegel daran befestigt haben, ehe das Haus zur Ruhe ging; aber eine andere hat ihn unhörbar zurückgeschoben. Ein leiser Druck . . . und jene Gestalt verschwindet im Dunkel des Hofes. Es ist wirklich Elieh.

Aber die raschelnden Schritte hinter ihm haben nicht aufgehört; sie sind näher gekommen – ein Schatten folgt einer zweiten Gestalt voraus, die gleichfalls an des Richters Hausplanke stehen bleibt. Es war in der Tat kein Schreckbild der Nacht; diese Gestalt ist ein menschliches Wesen von Fleisch und Blut. Aber sie scheint die Lage des Hauses nicht so genau zu kennen als ihr Vorgänger; die Finsternis scheint sie zu beirren. Mehrmals streift sie hart an der Planke vorüber, tastet daran und schleicht dennoch vorüber. Einmal steht sie sogar am Tore und drückt mit unhörbarer Gewalt daran; aber der Riegel ist wieder vorgeschoben worden . . .

Ein tiefschmerzlicher Seufzer tönt durch die Stille der Nacht; ein bitterliches Weinen wie von einem Kinde, das aus Furcht vor Strafe das Weinen unterdrückt, zieht leise klagend durch die Luft. Wer dieses Wimmern und Wehklagen hören könnte, müßte glauben, der Geist der Nacht gehe mahnend und unheilverkündend durch die schlafenden Menschenwohnungen; aber die Schläfer hören es nicht, und sie, die nicht schlafen, hören nur sich selbst, das Geflüster liebtrunkener Seelen . . .

Eine Stunde ist nahezu vergangen; jene Gestalt harrt und tastet noch immer an der Gartenplanke; aber sie will sich nicht öffnen.

Unhörbare Schritte näherten sich jetzt aus dem Innern des Hauses; aber so leise sind sie nicht, daß sie nicht das Ohr der draußen harrenden Gestalt getroffen hätten. Sie duckt sich scheu an die Planke, das Tor öffnet sich geräuschlos, Elieh – ist er es, ist's ein anderer? huscht vorüber. Der Harrende ist von ihm berührt worden; und wieder tönt ein leiser Seufzer durch die Stille der Nacht . . .

Einige Schritte vom Hause bleibt Elieh stehen. Er blickt hinter sich; er lauscht wieder. Hat ihn ein Geräusch, vielleicht jenes Wimmern aufmerksam gemacht? Nein! nein! er täuscht sich nicht. Aus den Hüllen der Finsternis sieht er ein Dunkles, Nachgleitendes sich gleichsam heraus entwickeln; es kommt auf ihn zu, sein Schatten trifft beinahe mit ihm zusammen. Elieh hastet nun seine Schritte; er will ihm entfliehen, jenem dunkeln, nachgleitenden Schatten; aber wie von unsichtbaren Geistern gedrängt, muß er im Laufe mehrmals das Antlitz nach rückwärts wenden. Aber, wenn er stehen bleibt, steht auch sein Verfolger still. Ist er noch ferne, ist er nahe? Elieh ist es, als ob er den kalten Atem des schleichenden Schattens in sein Gesicht wehen fühlte. Nahe an der elterlichen Wohnung bleibt er wieder stehen. Wartet er, bis er ihm nachkommt? Will er sich überzeugen?

Schon ist die Gestalt gleichfalls nachgeglitten, hart am Tore hat sie ihn erreicht. Elieh will eintreten, da streckt sich eine Hand nach ihm aus; sie erfaßt ihn am Arm . . . Mit dem gellenden Rufe: »Anschel! Anschel!« stürzt Elieh zusammen. Es ist der Todesschrei eines entflohenen Lebens! . . .

Es wurde Tag; aber das war kein Tag. Die weiße Wolkenschicht, die in verräterischer Stille während der Nacht am Himmel herangezogen war, hatte sich beim Scheine des Morgens in einen grauen Regenschleier verwandelt, feine Tropfen sprühten nieder und . . . auf das Antlitz eines Toten, den sie nicht zu erwecken vermochten. Neben ihm kauerte Vetter Koppel, als wollte er den unheimlichen Schlaf bewachen.

Es traf sich eigentümlich, daß Anschel heute der erste war, der in den Hof trat. Schlaftrunken war er zum Brunnen getaumelt, um sich mit kaltem Wasser den brennenden Schlaf aus den Augen zu waschen. Er hatte das offene Haustor nicht bemerkt; da wandte er sich mit einem Male um . . .

Er entsetzte sich nicht; er schrie nicht auf. Er war ein Halbwacher; vor seinen Augen lag es noch wie ein dünner Flor, durch den ihm die Gegenstände nur in unbestimmten Umrissen erschienen. Ohne klares Bewußtsein ging er auf das Tor zu; aber je näher er kam, desto mehr lichtete sich der Flor; schrecklich und grauenhaft offenbarte sich ihm die Wirklichkeit. Er stand an der Leiche seines Bruders.

»Elieh, mein Bruder Elieh!« rief er, schrie er, »um Gottes willen, es ist Elieh!«

Lautlos, die Haare gesträubt, starrte er den Unglücklichen an, der zu seinen Füßen lag, das blasse Antlitz nach oben gewendet. Dann beugte er sich nieder und hob den Kopf auf und betastete ihn nach allen Seiten. Er legte sein Ohr an des Unglücklichen Herz, es schlug nicht mehr. Zum ersten Male im Leben sah Anschel einem Toten ins Gesicht, es graute ihm, und er ließ ihn wieder zurückfallen. Der Kopf war in seinen Händen zu einer Riesenlast geworden, die ihn niederzudrücken schien. Jetzt erst bemerkte er den neben der Leiche zusammengekauerten Vetter.

»Vetter Koppel,« rief er, »um Gottes willen, wo kommst du her? Was ist da vorgefallen?«

Der alte Anhänger des Königssohnes Absalon hatte auch in diesem Augenblicke kein Verständnis für das Schauerliche dieses Auftrittes.

»Ich bin ihm nachgegangen, Anschel,« sagte er weinerlich abgebrochen, »ich hab' geglaubt, er bringt mir meinen Mogen Dovid mit. Wär' ich nur lieber selbst hineingegangen.«

»Was? Wohin wärst du gegangen?« schrie Anschel in Verwirrung, das Auge unverwandt auf den leblosen Bruder gerichtet.

»Er hat mir ja heut' in der Nacht meinen Mogen Dovid holen wollen,« wimmerte Vetter Koppel, »weißt du das nicht?«

Anschel verstand den Alten nicht. Rat- und tatlos stand er da, von Entsetzen gelähmt, keines Entschlusses fähig. Da erhob sich Vetter Koppel aus seiner kauernden Lage und wollte ins Haus hinein.

»Wohin, wohin?« rief Anschel angstvoll.

»Ich will sie aufwecken,« sagte der Alte, »sie sollen nachsehen, ob er ihn nicht versteckt hat.«

»Nicht von der Stelle!« gebot Anschel mit starker Stimme, indem er den Vetter festzustehen zwang. Ihm war die Besonnenheit wieder zurückgekehrt, der Gedanke an den Schreck der Eltern hatte das blitzschnell bewirkt.

Einer der Schläfer des Hauses mußte von diesem Rufe geweckt worden sein. Anschel war eben im Begriffe, die leblose Hülle vom Boden aufzuheben, um sie ins Haus zu tragen, als er eilige Schritte hinter sich im Hofe hörte. Es war der Knecht Wojtech; der schlug die Hände entsetzt zusammen.

»Armer, hochwürdiger Herr,« rief er im Tone des tiefsten Schauers. »Das hältst du zum zweitenmal nicht aus.«

»Wojtech! was sagst du dazu?« schrie Anschel, der neben dem Bruder am Boden kniete, und sah mit tränenvollen Augen zu dem Knechte auf. »So hab' ich ihn hier liegen gefunden, den alten Vetter neben ihm! Was werden die Eltern sagen, wenn sie aufwachen!«

»Da ist nicht zu helfen,« sagte der Knecht, »man darf sie nicht wecken, deine Mutter könnte den Tod davon haben. Wir tragen ihn wieder auf seine Kammer. Das ist jetzt das zweitemal, daß ich den hochwürdigen Herrn so tragen muß.«

»Weißt du vielleicht, Wojtech, wie ihm das zugekommen ist?« rief Anschel schaudernd, »ich kann es ja nicht begreifen.«

»Ich weiß . . . nicht,« sagte der Knecht und schob Anschel mit sanfter Gewalt von dem Leblosen hinweg. Dann beugte er sich herab und faßte ihn kräftig an; aber er hätte ihn fast zurücksinken lassen. »Der ist tot,« sagte er aufatmend, »er hat eine Schwere wie ein Stück Holz.«

»Meinst du wirklich, er ist tot?« schrie Anschel.

»Schrei nicht!« gebot der Knecht, »die drin könnten wach werden davon.«

Händeringend folgte Anschel dem Knechte, der schwer atmend unter der Last, die er wieder gefaßt hatte, ins Haus schritt. Kein Schläfer erwachte; kein Laut schreckte sie auf. So kamen sie aus Eliehs Kammer an; still und geräuschlos legten sie ihn selbst auf das Bett.

»Um den Doktor nach Brandeis zu reiten ist's schon zu spät,« sagte nun der Knecht; »dem hochwürdigen Herrn ist nicht mehr zu helfen . . . Es ist um den Kreuzer schade, den man umsonst hinauswirft.«

»Wenn aber doch noch Leben in ihm wäre?« rief Anschel.

»Da drauf versteh' ich mich besser als du,« meinte Wojtech.

»Was tun wir aber mit der Mutter, wenn sie aufwacht?« schrie Anschel verzweiflungsvoll.

»Du mußt es ihnen still sagen,« meinte der Knecht, »nicht auf einmal. Sag ihnen, dem hochwürdigen Herrn wär' in der Nacht etwas Übles zugestoßen. Du kannst die erste beste Lüge, die dir einfällt, gebrauchen. Da muß man nicht gleich die ganze Wahrheit sagen. Ich will ihn indessen ausziehen und ins Bett legen; wenn dann die Eltern hereintreten, meinen sie, er schläft.«

»Die Mutter, die Mutter!« rang es sich schmerzlich aus Anschels Brust. »Was wird die Mutter dazu sagen? So jung und gestern abend noch so frisch und gesund, muß er jetzt tot sein. Was hast du uns angetan, Bruder Elieh?«

»Laß ihn tot sein,« sagte der Knecht mit vor Bewegung zitternder Stimme, »so jungem Blut ist es oft besser, wenn es tot ist.«

Es währte nicht lange, so hatte Wojtech den Leblosen entkleidet. Anschel hatte untätig, von seinem Schmerze auf eine Stelle gebannt, zugesehen. Als nun Wojtech sich anschickte, den »Bocher« in das offene Bett zu legen, fiel etwas klirrend zu Boden. Anschel bückte sich danach und hob es auf. Er trat damit zum Fenster, um es bei der Helle des Tages näher zu besehen. Es war ein kleines Kreuz von Messing an einer schwarzen Schnur.

»Ist das dir herausgefallen, Wojtech?« fragte Anschel arglos, indem er dem Knechte das Kreuz hinreichte.

»Mir?« rief der Knecht unerklärlich heftig, »zeig doch her.«

Er griff danach und hielt es dann in der Hand eine geraume Weile. Dann fuhr er langsam, wie einer, der sich der Gewalt eines Gedankens entgegenstemmt, mit der Hand über Stirn und Gesicht.

»Wie ist mir doch,« rief er, und seine Stimme hatte den alten, entschiedenen Ton verloren, »ich habe das ja nicht bei mir getragen, ich müßte doch wissen davon.«

Eine mächtige Erschütterung mußte in dem Knechte toben; er zitterte, und das messingene Kreuz wäre ihm beinahe wieder entsunken, er hielt es aber krampfhaft in der geschlossenen Faust. Er holte tief Atem, denn seine Brust arbeitete gewaltig. Mehrmals wollte er sprechen, aber das Wort schien ihm nicht gehorchen zu wollen; mit übermäßiger Anstrengung rief er endlich:

»Jesus! Maria! das kann nur ihm gehört haben. Mir gehört es nicht.«

»Meinem Bruder Elieh?« schrie Anschel; der Knecht hatte mit dem Finger auf den im Bette liegenden Leblosen gewiesen.

Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Wojtech die Decke, die über dem Toten lag, weggerissen, und mit einer Wut, die unmenschlich, fast höllisch schien, rief er unmittelbar in das Gesicht des Entseelten:

»So hast du mir also recht gegeben? Das ist dein Recht gewesen? Und ich bin wieder der Narr? Du hast ein anderes Recht gehabt, und mir hast du ein anderes gegeben? Und von dir bin ich betrogen worden?«

Anschel horchte entsetzt diesem grauenhaften Ausbruche; das Herz im Leibe war ihm erstarrt.

»Stehe jetzt auf,« schrie der Knecht und griff nach der Hand des Bochers, als wollte er ihn zu sich aufreißen; »stehe auf und sag mir, wie bist du zu dem Kreuz gekommen? Hat sie dir's gegeben? Und du hast ihr versprechen müssen, daß du ein Christ wirst? Mir aber hast du ein anderes Recht gesprochen . . . Jetzt stehst du gleich auf und sagst mir, was du getan hast. Du darfst gar nicht tot sein, . . . du stellst dich nur so, weil du dich vor mir fürchtest . . . Und ich hab' dich einen hochwürdigen Herrn geheißen?«

»Laß ihn, um Gottes willen, laß ihn,« rief Anschel und riß den Knecht mit übermenschlicher Anstrengung vom Bette hinweg. »Siehst du denn nicht, daß er tot ist?«

»Ja, tot ist er,« sagte Wojtech, dessen Grimm mit einem Male gebrochen schien; »wenn er nicht tot wäre, er müßt' mir Rede stehen. So . . . ist er tot!«

Dann brach er in ein krampfhaftes Schluchzen aus, das allmählich in ein gelindes Weinen überging. Der starke Knecht schien zu einem Kinde geworden.

»Vielleicht hast du mich doch nicht betrogen,« rief er schluchzend zu dem Toten hinüber. »Ach, hochwürdiger Herr, warum bist du tot und kannst mir nicht sagen, wie sich die Sache verhält? Warum bist du fortgegangen aus der Welt und hast dem armen Knechte kein Wort hinterlassen? . . . Meine Seligkeit hatte ich auf dich gesetzt gehabt, und was mir kein Geistlicher und keine Beichte vom Herzen haben nehmen können, das hab' ich von dir erwartet! Jetzt bist du auch tot und kannst nicht reden. Was soll ich jetzt tun, wenn du nicht da bist? Wer wird mich mehr anhören? Auf wen soll ich mich verlassen? Hast du dich gefürchtet und bist aus der Welt fortgegangen, weil du selber kein Recht gehabt hast? Ach, du armer, hochwürdiger Herr! Wie muß ich dich beklagen! Wie gerne wär' ich selbst für dich gestorben!«

In dieser Weise, gebeugt und gebrochen, die Stimme von Tränen erstickt, fuhr der Knecht noch eine Weile fort.

Wir verstehen diesen Schmerz, der zornig begann, um sich allmählich in die weichsten Klagen um den Hingang des Jünglings, dem er so nahe gestanden, aufzulösen. Die Seele dieses armen Knechtes war uns kein verschlossenes Buch; aber Anschel verstand sie nicht. Jedes seiner Worte erfüllte ihn mit neuem Entsetzen. Wahnsinnig war der Knecht nicht, das begriff er. Aber dieser Zusammenhang zwischen ihm und dem Bruder, dieses Hindeuten auf das Kreuz, das Elieh gehört haben sollte – welch ein schreckliches Tagen in dieser Nacht. Erst die seltsame Weise des Todes, draußen vor dem Tore, angefeuchtet von dem niedertropfenden Regen, und jetzt . . . dieser grauenhafte Knecht, der mit dem Tode ein solches Gespräch führte! Es war nicht zu verwundern, daß Anschel von Furcht und Entsetzen übermannt, in der Kammer nicht länger weilen konnte; die Hände vor beide Augen gedrückt, unmächtig, den Anblick des Toten zu ertragen, floh er hinaus. In demselben Augenblicke trat ihm Nachime entgegen.

»Um Gottes willen, Anschel, was ist dir? Wie siehst du aus?« schrie sie.

»Elieh, Elieh,« vermochte er nur zu stöhnen.

»Was ist mit Elieh, red?« rief sie.

Da ließ Anschel die Hände von den Augen sinken, und nun erst sah Nachime das vor Entsetzen aufgeregte Antlitz ihres Sohnes.

»Geh nicht hinein, Mutter,« schrie er, »geh nicht hinein.«

»Lebendiger Gott im Himmel,« brach ein grauenhafter Schrei aus Nachimes Brust. Dann hielt sie eine Weile inne, als schreckte sie vor dem Aussprechen des Schwersten zurück.

»Ist Elieh tot?« rief sie und ergriff mit Wildheit eine von Anschels Händen.

Anschel vermochte nur in gebrochenen Lauten zu schluchzen:

»Geh nicht hinein, Mutter, es wird dir zu schrecklich vorkommen.«

Aber Nachime mußte in diesem Augenblicke eine übermenschliche Kraft überkommen haben; sie schob den Sohn, der sich vor den Eingang der Tür abwehrend gestellt hatte, zurück und trat in Eliehs Stube.

Hatte sie das Entsetzen Anschels für das Schwerste vorbereitet, was ein Mutterherz ertragen kann? Hatte der kurze Moment genügt, um ihre Seele zu stählen und zu festigen? Kein Schrei, kein Angstruf entrang sich ihrer Brust, als sie den Toten im Bette sah; wer nicht wußte, was in der Tat vorgegangen, hätte glauben können, sie trete an das Lager eines Schlummernden, um dessen Atemzüge zu belauschen. Sie starrte die Leiche eine lange Weile an; dann sagte sie halblaut, als spräche sie mit sich selbst:

»Er ist vielleicht gar nicht tot, es mag ihn wieder seine neuliche Krankheit überfallen haben. Gott, der Lebendige, weiß, was das für eine Krankheit ist.«

»Nein, Frau!« erscholl hinter ihr die Stimme des Knechtes, den sie gar nicht bemerkt hatte, »betrüge dich nicht selbst, diesmal ist's keine Krankheit.«

»Was denn?« rief Nachime beinahe ruhig. »Sieh dir ihn an, er schläft ja. Sieht ein Toter so aus?«

»Meinst du das wirklich, Frau?« schrie der Knecht freudig auf und erhob sich. Dann aber warf er einen schnellen Blick auf den Toten.

»Du kannst recht haben, Frau,« sagte er darauf traurig, »ich hätt' um den Doktor schon reiten sollen, statt dazusitzen.«

»Doch nicht nach Brandeis?« rief Nachime, »um unsern Feind . . .«

»Nein, Frau,« entgegnete der Knecht zitternd, »der ist zu weit. Ich werde lieber zu dem alten Doktor gehen, der auf dem Schlosse wohnt, und seit langer Zeit nicht mehr kuriert. Der kann in einer halben Stunde da sein.«

»Wird er sich auch darauf verstehen?« fragte Nachime.

»Ob einer tot ist oder nicht? Darauf muß sich auch der schlechteste Doktor verstehen,« meinte der Knecht, und ein trauriges Lächeln schwebte um seine zuckenden Lippen.

»So geh, du lieber Wojtech,« sagte Nachime, »Gott wird dir's zahlen.«

Nachime blieb allein zurück bei ihrem Sohne. Sie mußte in der Tat überzeugt sein, daß der Zustand Eliehs nur ein Rückfall in die kaum überstandene Krankheit sei.

Ihre Hände zitterten nicht, als sie ihm die Kopfkissen zurecht rückte, damit er besser liege; nicht einmal, daß er sich unheimlich kalt anfühlen ließ, daß kein Atemzug über die Lippen des Schwererkrankten wehte, fiel ihr als ein besonderes Merkmal der äußersten Gefahr auf. Sie hatte das schon einmal erlebt; nicht anders war es das erstemal, als sie ihn selbst so gefunden. Als gleich darauf Rebb Schlome und Tille mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens in die Stube stürzten, winkte sie ihnen zu, sich zu mäßigen, indem sie den Finger an den Mund legte, als ob sie ungestörte Ruhe für einen Schlafenden geböte.

»Es wird nichts sein,« flüsterte sie, als die beiden trotzdem an das Bett getreten waren, »geht nur alle hinaus und laßt ihn in Ruhe. Jeder Lärm könnt' ihm schaden. Nur Stille und Ruhe, das ist für ihn das Beste.«

Sie folgten diesem Machtgebote; die Sicherheit der Mutter hatte für sie etwas Bewältigendes, dem sie sich ohne Widerrede fügten.

Draußen aber sagte Anschel, der durch die halboffene Tür alles gesehen und gehört hatte:

»Die Mutter will nicht sehen, daß er tot ist. Sie wird sich nur zu bald überzeugen, daß es wahr ist.«

Eine halbe Stunde darauf kam Wojtech mit dem alten Schloßarzt zurück, der schon seit langen Jahren nicht kuriert hatte. Er untersuchte prüfend den Zustand des Entseelten, länger vielleicht, als er nach dem ersten Anblick bedurft hätte; aber er hatte schwache Augen und zitternde Hände, und traute vielleicht seiner eingerosteten Kunst nicht. Dann erklärte er jeden Belebungsversuch für vergebens; das Leben sei schon seit mehreren Stunden entflohen; es müsse etwas im Innern zersprungen sein, meinte er, eine Ader oder irgend ein kostbares Gefäß. Die Sache sei aber die, daß er tot sei.

Nachime hatte den Ausspruch des Schloßarztes mit einer Art ruhiger Gleichgültigkeit angehört, dem Anscheine nach schien sie ihm nicht zu glauben.

»Es wird vielleicht doch nicht wahr sein,« stammelte sie, und gleich darauf sah man sie schwanken und sich an der Bettpfoste anhalten. Lautlos, wie vom Blitze getroffen, sank sie zusammen.

Die Kunde von dem, was bei dem »Judenbauern«, wie Rebb Schlome allgemein hieß, vorgefallen war, hatte sich indessen im Dorfe rasch verbreitet. Das Tor stand noch immer offen, und so wogten fremde Menschen durch das Haus, um nähere Aufklärung über den rätselhaften Hingang des Bochers zu erhalten. Manche kamen bis in die Kammer Eliehs und standen an der Leiche, die sie nicht mit den stumpfen Augen der Neugier, sondern mit tiefem Mitleid betrachteten. Mitten in seiner Jugend aus dem Kreis der Lebenden hinweggerafft zu werden, im Naturgesetze eine Irrung wahrzunehmen, fällt immer beengend, wehmütig aufs Herz der Menschen. Viele sahen den Jüngling zum ersten Male; andere erinnerten sich seiner wie einer flüchtigen Erscheinung, die an ihnen vorüber gekommen, der erst jetzt der Tod Bedeutung und Erinnerung verlieh.

Sogar in die große Wohnstube, wo sich die Trauernden aufhielten, kamen fremde Menschen und bezeigten da ihre Teilnahme. Manche hatten den Mut, nach den näheren Umständen des schrecklichen Vorfalls zu fragen; aber keinem ward eine Antwort. In der Versunkenheit ihres Schmerzes zogen die Aus- und Eingehenden wie wirre Traumbilder an ihren Augen vorüber; sie sahen und hörten niemanden.

Nachime war zu Bette gebracht worden.

Aber noch war das Maß des Entsetzens, das an diesem Tage über das Haus sich ergießen sollte, nicht voll. Zu Mittag, als sich die Zahl der Besucher schon zu lichten begann, erschien mit einem Male der Richter in der Stube. Als Rebb Schlome ihn erblickte, ging er ihm entgegen; die hohe Gestalt und das entschiedene Wesen des Bauers hatten für ihn von jeher etwas Bewältigendes gehabt.

»Was sagt Ihr, Herr Richter,« rief er. »Ist das nicht, um graue Haare zu bekommen in einer Nacht?«

Der Bauer trat einige Schritte zurück.

»Wir zwei,« meinte er, »sollten gar nicht miteinander reden. Dein Unglück ist groß, Bruder, aber ich weiß auch von etwas zu erzählen.«

Erst jetzt wurden die in der Stube Befindlichen durch diese Worte aufmerksam. Sie schauten auf aus ihrem Schmerze; vor ihnen stand einer, auf dessen Antlitz ein nicht minder großes Weh deutlich zu lesen war. Schwere Tränen rollten über das stark gefurchte, kummervolle Gesicht des Richters. Das war der starke Bauer nicht mehr, der sie am Tage nach ihrer Ankunft in so feierlicher Weise begrüßt hatte; er schien seit dieser Zeit um ein halbes Leben gealtert. Noch ehe einer fragen konnte, rief er in einem Tone, der allen an die Seele schnitt:

»Du einen Sohn, Bruder, und ich eine Tochter.«

Anschel war aufgesprungen, bebend am ganzen Leibe schrie er:

»Eure Tochter, Herr Richter?«

»Ja, die auch,« erwiderte der Bauer fast trotzig. »Der Herr Gott im Himmel weiß das schon so einzurichten. Er nimmt sich immer das Beste, das Liebste, was man hat.«

Dann aber als fühlte er, wie dieser Trotz und Hohn zu seiner und des Hauses Lage übel passe, fuhr er ruhig, fast gelassen fort:

»Heute früh war sie gesund und frisch. Da kommt einer und erzählt, was bei euch vorgegangen. ›Ist's der Ältere oder der Jüngere?‹ frag' ich. Da heißt es, der Jüngere wäre es, der erst krank gewesen. Wie sie das hört, muß sie erschrocken sein, denn sie hat zu euch allen eine besondere Liebe gehabt, und geht aus der Stube hinaus. Eine gute Weile darauf kommt mein Weib, ganz außer sich, und erzählt, sie liegt in ihrer Kammer auf der bloßen Erde und will sterben. Ich geh' zu ihr; da sitzt sie wirklich auf der bloßen Erde, bleich wie Kalk, die Augen unterlaufen und immer auf einen Punkt gerichtet. Ich frage sie: Töchterchen, was fehlt dir? Da sagt sie: Väterchen, ich muß dir Kummer machen, ich werde noch heute sterben. Wir reden ihr alle die Narrheit aus; sie aber schüttelt immer mit dem Kopfe und meint, wir werden es schon sehen und läßt sich's nicht ausreden. Ich frag' sie einmal: Töchterchen! Wie ist dir das geschehen, was meinst du? Da bricht sie in ein lautes Weinen aus und schreit: Das Unglück sei über sie gekommen wie ein böser Wind, sie hätte aber das Unglück selbst verschuldet und dafür müßte sie ihr junges Leben bezahlen. Ich sag' ihr, ich will um den Doktor schicken, der wird ihr helfen. Da wehrt sie sich dagegen und bittet mich, ich soll ja das nicht tun, ihr könne selbst die gebenedeiete Mutter Gottes nicht mehr helfen. Wenn ich ihr aber einen Gefallen noch machen wollte, so sollt' ich das Bild da wieder zu euch zurücktragen; das hätte Unglück ins Haus gebracht, und wenn ich nicht wollte, daß noch Neues dazu käme, sollt' ich's augenblicklich wieder auf den alten Fleck zurückstellen. Ich hab' mir das Bild niemals wollen nehmen lassen, aber weil sie darum gebeten hat, so hab' ich ihr gefolgt.«

Damit legte der Bauer den »Mogen Dovid« des Vetter Koppel vor sich auf den Tisch; sie hatten in dem Anhören seiner Reden nicht bemerkt, daß er das Bild dabei in der Hand gehalten.

»Vielleicht hilft das noch,« sagte der Bauer zuletzt und wandte sich zum Fortgehen. Aber an der Türe drehte er sich noch einmal um und warf einen langen, wehmütigen Blick nach dem Bilde zurück.

Als der Bauer sich entfernt, griff eine gierige Hand schneller, als es einer wehren konnte, nach dem wiedergefundenen, auf so seltsame Weise heimgebrachten Erbstück aus Absalons Revolution. Vetter Koppel hatte sich sein Eigentum wieder errungen und hielt es fest gegen seine Brust gepreßt, die Augen funkelnd und entschlossen auf Rebb Schlome und Anschel gerichtet, als ob er auf neuen Raub sich rüsten wollte.

Dafür war aber gesorgt. In Anschels Seele tagte ein anderes Licht, als wonach der »Mogen Dovid« des Vetter Koppels trotz der in großen Buchstaben »Misrach« (Ost) lautenden Inschrift zeigte.

Rebb Schlome aber dachte nicht an neue Beraubung.


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