Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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12. Der hochwürdige Herr.

Wojtech hatte nicht gelogen. Ehe eine Stunde vergangen war, kam er von Brandeis zurück. Das Pferd dampfte von dem eiligen Ritte und brach fast zusammen, als er herabstieg; in der Tat hatte ihm der Knecht heute eine Aufgabe auferlegt, die er ihm sonst nicht zugetraut hätte. Er selbst konnte sich kaum auf den Füßen halten. Er kündete an, daß der Doktor bald anlangen würde; er hätte sich nur um einer »Gelegenheit« umsehen müssen, um herauszukommen, denn im Drange des Augenblickes hatte Wojtech vergessen, mit dem Wagen sogleich nach Brandeis zu fahren, was einen Aufschub verhütet hätte.

Als Wojtech die Nachricht Nachime hinterbracht hatte, streckte sie die Hand gegen ihn aus und sagte:

»Wojtech, du stehst jetzt bei mir obenan, jetzt lass' ich nichts auf dich kommen. Da hast du etwas, und wenn du ins Wirtshaus gehen willst, so hab' ich nichts dagegen. Trink aber auf die Gesundheit meines Sohnes.«

Der sonderbare Knecht trat aber mürrisch zurück.

»Das lass' ich mir nicht bezahlen,« sagte er finster, »was ich für den hochwürdigen Herrn tue. Durst hab' ich keinen, und ins Wirtshaus geh' ich nicht. Der Wirt könnt' morgen zusperren, wenn er von mir leben wollte.«

»So zahl' dir's Gott,« rief Nachime im Übermaße wirklicher Verwunderung. »Ich will dir's aber schon gedenken.«

Wojtech entgegnete nichts, er nahm das Pferd am Zügel und führte es vor das Haus, damit es sich abkühle.

Eine Stunde darauf fuhr der Brandeiser Arzt vor. Es war dies noch ein junger Mann, der erst kürzlich von der Prager Universität mit dem Doktordiplome zurückgekehrt war. Als er vom Wagen herabsprang und Nachime ihn erblickte, erkannte sie ihn gleich; er war aus demselben Orte, den sie nicht lange vorher verlassen hatte, Sohn des dortigen Apothekers, aus einer Familie entsprossen, in der man seit Menschengedenken auffallend feindlich gesinnt war gegen alles, was an die »Kille« anrührte. Nachimes Herz ward nun bei seinem Anblick doppelt beengt: sie wußte nicht, welcher Urteilsspruch aus seinem Munde hervorgehen würde, und dann, weil sie sich »mit dem Judenfeind« nicht »ausreden« konnte.

Auch der Doktor erkannte die Familie sogleich; er mochte aus seiner Kindheit sich manches Vergehens gegen sie bewußt sein, das mit den Grundsätzen der »reinen Humanität« nicht allzusehr im Einklang stand, und es mag unentschieden bleiben, ob die vielen Kreuze, die er zum vermeintlichen Ärger der Juden an die Mauern und Türen der Gasse geschmiert hatte, aus seinem Herzen auch gelöscht waren. Leben wir doch in einer Zeit, in der es sich wieder so manche nur »für Volkswohl und Volksglück« glühende Seele angelegen sein läßt, recht deutlich und sichtbar das Gotteszeichen an die Wohnungen des Ghettos zu zeichnen, wenn auch nicht mit Kreide und Kohle, so doch mit anderen Dingen, die von Regen und Wind nicht so leicht verwischt werden! . . .

Als der Doktor den Zustand des Kranken prüfte, erklärte er rasch und ohne Schonung, daß Elieh in einem sehr heftigen Fieber liege, über dessen günstigen oder ungünstigen Verlauf er noch nichts sagen könne; es sei möglich, daß die Natur des Kranken mächtiger sein würde. als der zerstörende Stoff; es könne aber auch das Gegenteil erwartet werden.

Sonderbar. Diese rücksichtslose Erklärung des Arztes, so fürchterlich sie auch lautete, erschreckte Nachime nur wenig: sie war überzeugt, daß der Arzt bloß aus »Judenhaß« übertreibe, um sie zu erschrecken. Hätte er sonst einer Mutter eine so grauenhafte Nachricht mit so dürren Worten angekündigt?

Weiter fragte dann der Doktor, ob niemand vermute, wie Elieh in diesen Zustand geraten. Sein Blick fiel auf die großen Folianten, die aufgestapelt in dem offenen Schranke standen. Ob er vielleicht zu viel gelernt? Nachime verneinte dies, sie glaubte, das sei es nicht, er lerne schon von »Kind auf«; wie ihm das schaden könne, was er schon so lange betrieben? Bücher seien ja kein Essen, an dem man sich den Magen verderben könne.

»Aber den Kopf,« meinte der Doktor, »namentlich an diesen da.«

Er zeigte dabei mit einem verächtlichen Lächeln an den Mundwinkeln nach den dicken Folianten.

Nachime wollte reden, ihre Lippen zuckten, und über ihr ganzes Wesen ging ein krampfhaftes Zittern. Sie wollte dem Doktor ihre rechte Vermutung aussprechen, was Elieh fehle, es quoll ihr zum Herzen heraus; ihre Leidensgeschichte und die ihres Sohnes drängte sich gewaltsam zum Offenbaren auf. Aber ein Blick in des »judenfeindliche« Gesicht des Arztes bewirkte, daß sie sich schnell besann. Sollte sie ihm das erzählen, dem Sohne der Apothekerfamilie, von der die ganze Welt wußte, daß sie doppelte Freude darüber empfand, wenn eine »Medizin« für jemanden auf der »Gasse« bestellt ward, erstens wegen des Rezeptes selbst, und dann, weil es für einen auf der »Gasse« bestimmt war? Sollte sie ihm das erzählen? ihm noch eine Freude bereiten, damit er dann überall mit der »Geschichte« herumlaufen könne, wie sich die »Juden« so namenlos unglücklich gemacht hätten?

Sie sagte also nur:

»Gott der Lebendige weiß, wie ihm das zugestoßen ist. Er wird ein »böses Auge« bekommen haben.«

»Oder er wird sich den Magen an einer eurer fetten und unverdaulichen Speisen verdorben haben. Ihr kocht ja alles mit Gänseschmalz,« warf der Doktor wie scherzend hin.

Diesmal entgegnete Nachime gar nichts. Ihr Herz zitterte zwischen Zorn und Angst auf und nieder. Der Doktor verschrieb dann das Rezept und versprach morgen wiederzukommen. Dann empfahl er sich und fuhr davon. Trotz des angestrengten Rittes, von dem Wojtech kaum zurückgekehrt war, stand er dennoch schon am Tore und wartete auf den Doktor. Er wolle die »Medizin« aus der Brandeiser Apotheke holen, und der Doktor hatte nichts dagegen, daß Wojtech sich zum Kutscher setze. Wie er zurückkommen werde, meinte er, das sei einerlei; er werde aber bald zurück sein. Darauf können sich alle verlassen.

Sonst reicht die Erscheinung des Arztes allein hin und strömt von sich ein Gefühl der Beruhigung und Linderung aus. Menschliches Wissen ist in Anspruch genommen worden, ihm vertraut man, vor ihm sinken Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu Boden. Aber bei Nachime geschah gerade das Gegenteil; es überfiel sie erst jetzt eine Trostlosigkeit und ein Bangen, als ob der Doktor jedes Hoffen auf Besserung für eine Torheit erklärt hätte. Nachime war, wie fast die meisten Frauen, ein geborener Arzt; sie verstand sich besser auf den Zustand des Kranken, als der Brandeiser, in Prag zur höchsten Universitätswürde erhobene Doktor.

»Wie kann ihm gut werden?« schrie sie schmerzlich, »wie soll ihm gut werden, wenn er meint, Elieh hätte sich den Magen verdorben. Warum hat er nicht weiter gefragt? Das Kind leidet an etwas ganz anderem, und er verschreibt ihm etwas für den verdorbenen Magen. Er weiß ja nicht einmal, was ihm fehlt. Wie soll ihm auch etwas an meinem Kinde liegen? Sein Vater und sein Großvater hätten einen gern in einem Löffel Wasser vergiftet, wie soll der Sohn anders sein?«

Ahnte wohl der Sohn der »Apothekerfamilie«, welche Stürme er zurückließ in der Brust dieser armen Judenmutter?

Der Brandeiser Doktor hatte übrigens den Zustand des Kranken vom »medizinischen Standpunkte« recht erkannt. Elieh lag in dem heftigsten Fieber; grauenhaft rüttelten die zerstörenden Gewalten an dem schwächlichen Leibe. Er war zwar wieder zum Bewußtsein erwacht, aber dieses Erwachen erschreckte mehr, als der todähnliche Schlaf, in dem ihn Nachime am Morgen gefunden. Dunkle Worte quollen bald schwer, bald gestammelt, bald wieder in überstürzenden Lauten über seine Lippen. Oft hielt er minutenlang die Augen geschlossen, riß sie dann mit einem Male weit auf, als drängte ihn eine innere Gewalt dazu, und starrte dann das Fenster an. Er vermochte das Auge davon gar nicht abzuwenden, es schien, als fürchtete er, die Augen könnten sich schließen und er nicht mehr nach dem Fenster sehen. Nachime, die gehört hatte, daß Kranke dieser Art einen unwiderstehlichen Trieb in sich fühlen, in die Freiheit zu kommen, daß sie in der Fieberglut sogar zum Fenster hinausstürzen, hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Bücherschrank davorrücken zu lassen. Da geriet aber der Kranke in eine entsetzliche Wut; er wollte aus dem Bette springen, und nur die Kraft Rebb Schlomes vermochte ihn mit schwerer Mühe niederzudrücken. Von diesem Augenblicke an schloß er kein Auge; er starrte unverwandt nach dem verfinsterten Fenster hin.

Schwere, kummervolle Tage kamen nun heran, Tage und Stunden, in denen Nachime allen Mut, der ihr noch übrig geblieben, aufbieten mußte, um nicht zu erliegen. Aber das eben ist das Geheimnis der menschlichen Seele, namentlich im Weibe. Wie die ersten Goldfinder in jenem überseeischen Lande, dessen leuchtender Glanz weithin alles an sich lockt, in geheimnisvollen Sagen von den Schätzen sprachen, so weiß auch sie diese Quellen des Mutes, dieses unsichtbare Erstarken und Aufraffen nach größter Entmutigung und Erniedrigung zu verbergen. Kein Auge hat die Kräfte entdeckt, die dabei mitwirken, ob sie im Gehirne, in den Nerven oder im Blute wohnen. Das Gold haben andere gefunden, weil es nackt in der Erde lag. Die menschliche Seele aber ist Gottes!

Eliehs Zustand blieb sich in den ersten Tagen gleich. Der Brandeiser Doktor kam jeden Tag; aber Nachime konnte den einmal zerstörten Glauben an ihn nicht wieder in sich aufbauen; sie sah sein Gehen und Kommen mit einer Gleichgültigkeit, die fast an Verachtung grenzte.

»Er weiß ja doch nicht, was dem Kind fehlt,« sagte sie dann jedesmal, »ich weiß es besser. Er gibt ihm etwas für den Magen ein, und die Krankheit steckt im Herzen.«

Fieberphantasien, in denen viel von Feuer und Nacht die Rede war, wechselten mit starrer Ruhe ab, in der jeder Lebensfunke verlöscht und die kleinste Kraftanstrengung so geschwunden schien, daß Nachime oft meinte, der Kranke könne in diesem Zustande keine Fliege totschlagen.

Trübe und traurig war es im Hause, in dessen Mauern bis jetzt ohnehin keine Freudigkeit gewaltet hatte. Kein lauter Ton wurde gehört. Alles schlich schweigend und gebückt umher. Selbst Vetter Koppel schien eine Ahnung von dem Unglücke zu haben, das seine dunklen Schatten über das Haus geworfen hatte. Er klagte nicht mehr um den geraubten Schatz. Auch Rebb Schlome war tief gebeugt; er sprach es nicht aus, aber man sah es seinem ganzen Wesen an. Wenn er die mütterliche Sorge Nachimes sah, die das Größte und Kleinste in ihren Bereich zu ziehen verstand, zuckte es oft eigentümlich über sein verhärtetes Antlitz. Sie sprachen fast nicht miteinander, ja Nachime schien jedes längere Weilen in seiner Nähe zu meiden. Nie nahm sie die geringste Mithilfe in Anspruch; sie wollte alles selbst tun und alles leiden. Die Bangigkeit um den kranken Sohn hatte das alte Wesen Nachimes wieder herausgekehrt, sie war wieder schweigsam geworden. Aber es war nur Schein. Neben der Sorge schritt auch verhaltener Groll einher. Sie schlug die Mithilfe ihrer Kinder und ihres Mannes in der Wartung Eliehs aus, aber unausgesprochen zehrte sich der Ärger immer tiefer in ihr Herz, warum sie nicht tätiger eingriffen. Rebb Schlome war oft nicht zu Hause; denn wenn ein Kranker in unserer Nähe liegt, scheint es, als ob die Lust auf einen weiten Umkreis mit schweren, beängstigenden Dünsten erfüllt wäre. Nicht jeder weilt darin gern; die meisten drängt es fort und läßt sie nicht zu Atem kommen. Das legte Nachime nun als Herzlosigkeit aus.

»Wenn früher einem Kind,« klagte sie, »nur der Kopf weh getan hat, dann hat er vor lauter Sorg' sich gar nicht ausgekannt. Da war ihm kein Doktor zu viel, und er ist aus dem Haus nicht gewichen. Jetzt kann ihm, Gott behüt', ein Kind sterben, was wird er viel danach fragen? Sein Kopf steht ihm nur nach dem Feld, und wie er dem Kaiser etwas zu Gefallen machen kann. Heißt das aber dem Kaiser zu Gefallen leben, wenn man seine eigene Familie unglücklich macht und sein eigen Kind in die Grube bringt?«

Es wird sonderbar bedünken, daß sich derselbe Groll, wie ungerecht er auch sein mochte, nicht auch gegen Anschel aussprach. Sie schien es nicht zu bemerken, daß sich Anschel fast mit Absicht vom Bette seines kranken Bruders fern hielt; er fragte nur verstohlen nach seinem Befinden. Nachime wußte freilich nicht, daß Elieh einmal in seinen Delirien den Namen Anschels mit einer so drohenden Miene, mit einem so gewaltigen Zornesausbruch ausgestoßen hatte, daß Anschel entsetzt davonlief. Begann sie vielleicht milder auch über ihn zu denken, und dasselbe Mitleid, das mit so weichen Armen den kranken Sohn umfing, regte es sich auch für ihn, der doch auch nichts dafür konnte, daß man ihn unter die Bauern gebracht hatte? . . .

Dafür betrachtete sie, mitten unter den Ihrigen, einen Fremden wie einen ihr vom Himmel zugesandten Engel. Wir meinen den Knecht Wojtech.

Wojtech hatte sich mit seiner tätigen Beihilfe am Tage der Erkrankung Eliehs nicht begnügt, er war seitdem sein treuester Wärter geworden. Niemand als er durfte in die Brandeiser Apotheke reiten, um die verschriebenen Medizinen abzuholen. Bei Tag auf dem Felde mürrisch und abstoßend gegen alle, die ihm in den Weg kamen, namentlich gegen Anschel, war er in der Nacht am Bette des Kranken »wie ausgetauscht«.

Er hatte nicht um die Erlaubnis gebeten, ob er da wachen dürfe, aber er war da, und Nachime hätte keinen treueren Wächter finden können. Wenn die Nacht hereingebrochen war, alles sich zur Ruhe begeben hatte, nur Nachime nicht, kam er in die Krankenstube, um seinen Wärterdienst anzutreten. Anfangs trug Nachime Bedenken, ob sie den fremden Knecht allein bei dem »Kind« lassen sollte; aber in der ganzen Erscheinung des Knechtes, in der Art und Weise, wie er ihr gebot, ihm die Sorge für den Kranken zu überlassen, lag etwas so Beruhigendes, daß Nachime mit allem Groll, mit aller Ängstlichkeit im Herzen ein Vertrauen zu ihm faßte, wie sie es zu keinem andern Menschen gefaßt hätte. Wunderbar jedoch war es, daß sie gar nicht darüber nachdachte, warum der Knecht »so« sei. Oft schlich sie in der Nacht, wenn sie plötzlich aus dem Schlafe auffuhr, und meinte, es sei heller lichter Tag, und Elieh werde ihrer bedürfen, nach der Kammer, in der er lag; jedesmal fand sie den Knecht noch am Bette sitzen, mit Ängstlichkeit die schweren Atemzüge des Kranken belauschend. Sie zog sich dann beruhigt zurück.

»Schläft er?« fragte sie ihn einmal, als sie in der Nacht »nachsehen« kam.

Da erschrak sie bis in die tiefste Seele, als ihr der Knecht zornig, mit finster abwehrender Gebärde zurief:

»Dein Sohn schläft, Frau, aber du schläfst nicht. Er wird gesund werden, aber über dich wird auch die Krankheit kommen. Denk daran.«

Von dieser Stunde an war die Sorge, die sie Elieh widmete, gleichsam nur zur Hälfte ihr anvertraut, die andere lastete auf den Schultern des Knechts. Frühmorgens kam Nachime; da erzählte ihr dann Wojtech, was in der Nacht vorgefallen. Jedes Wort, das er sprach, jede Bemerkung, die er über den Gang der Krankheit machte, zeigte von Verständnis und bewies ihr, daß der Knecht kein Auge geschlossen hatte.

»Wojtech, du bist zu einem Doktor geboren,« sagte sie einmal voll Verwunderung, »du bist gescheiter als der Brandeiser Doktor, und dich hätten sie zum Doktor machen sollen.«

»Brauchst mich nicht zu loben,« sagte darauf der Knecht mit finster abgewandtem Gesichte, »was ich tue, das tue ich für den hochwürdigen Herrn da, und sonst für keinen in der Welt.«

»Geh,« meinte Nachime, »stell dich nicht schlechter als du bist. Ich muß dir nur sagen, ich hab' mich an dir gewaltig vergangen. Ich hab' immer gemeint, du kannst uns nicht leiden, und daß ich dir's nur heraus sag' – ich hab' immer geglaubt, du bist ein Judenfeind. Jetzt aber seh' ich's ein, du hast uns gern, du verstellst dich nur, denn du bist ein ganz anderer.«

»Wer hat dir das gesagt?« rief Wojtech mehr erschrocken als zornig.

Dann fügte er, wie aus Furcht, zu laut in der Gegenwart des Kranken gesprochen zu haben, leise, mit gesenkten Augen hinzu:

»Für den hochwürdigen Herrn da tue ich alles, es braucht mir's aber kein Mensch vorzuwerfen.«

»Man wird sich doch aber bei dir bedanken dürfen?« rief Nachime eifrig.

»Bei mir braucht sich kein Mensch zu bedanken,« sagte der Knecht kurz und ging zur Kammer hinaus.

Nachime sah ihm verwirrt nach. Was trieb diesen Knecht, sich schlechter zu stellen, als er war? Warum verleugnete er so sein ganzes Wesen?

Der Brandeiser Doktor hatte für den vierzehnten Tag die »Krisis« der Krankheit vorhergesagt. Selbst in dieser Verkündigung hatte sich der »judenfeindliche« Sinn des »Apothekersohnes« gezeigt. Warum verschwieg er das nicht? Wozu sagte er das mit solcher Bestimmtheit? Nachime in ihrer Abneigung gegen den Träger des traditionellen Hasses wollte sogar eine Art hämischen Lächelns um seine Lippen gesehen haben; aber darin hatte sie sich gewiß getäuscht. Es war ein Sonntag, als diese verhängnisvolle »Krise« anbrach. Nur Nachime und der Knecht wachten an diesem Tage am Bette des Kranken. Wojtech hatte wieder nicht gefragt. Als Nachime früh am Morgen in die Kammer gekommen war, hatte der Knecht nur gesagt: »Heute!« und Nachime verstand ihn nur allzuwohl. Aber fast schien es, als ob die ärztliche Prophezeiung zuschanden werden sollte.

Der Zustand Eliehs zeigte sich keineswegs so beunruhigend; er lag den ganzen Tag über in einem leichten Schlummer, der nur wenig unterbrochen ward, das heftige Fieber schien gänzlich gewichen zu sein. Sollte das die verhängnisvolle Verkündigung des Brandeiser Doktors vorstellen? fragte sich die Mutter Eliehs; und wer wird es diesem geängstigten Herzen verargen, wenn es diese Selbsttäuschung bis zur Schadenfreude über die Unkenntnis des Apothekersohnes steigerte? Gegen vier Uhr nachmittags trat jedoch eine merkliche Änderung ein. Um diese Stunde begann in der nur durch einige Häuser getrennten Dorfschenke die Tanzmusik. Mit dem ersten Geigenstriche, der herübertönte, erwachte der »Bocher« aus dem Schlummer. Seine Augen begannen in einem unheimlichen Feuer zu funkeln, wie es Nachime bis dahin nicht gesehen hatte; von Zeit zu Zeit kam ein tiefes Stöhnen aus der Brust hervor. Allmählich bemächtigte sich seiner wieder eine Unruhe, die von Minute zu Minute einen immer grauenhaftern Charakter annahm. Es war merkwürdig anzusehen, wie mit dem Beginne der Tanzweise die innere Pein, das Glühen der Augen, das krampfhafte Zucken des ganzen Leibes zunahm, und mit dem Aufhören derselben sogleich in einen ruhigeren Zustand überging. Es war klar, die vorhergesagte Krise war eingetreten; der Kranke rang zwischen Tod und Leben.

In diesen schrecklichen Augenblicken klang nur ein Gedanke durch Nachimes Seele, wie sie nämlich die Musik zum Schweigen bringen könne. Jeder aufkreischende Ton, der aus dem Wirtshause herüberscholl, fand gleichsam auf dem Antlitze ihres kranken Sohnes seinen Widerhall; es schien ihr, als ob er in diesem Lärme weder leben, noch sterben könne.

»Wojtech . . .,« schrie sie einmal angstvoll, »geh du hinüber und sag ihnen, daß sie aufhören sollen. Frag sie um Gottes willen, ob sie denn wollen, daß ein Mensch einem Tanz zulieb' zugrunde gehen soll? Sie lassen ihn nicht einmal ruhig sterben!«

»Das geht nicht, Frau!« sagte der Knecht trocken, »wenn der Kaiser käme, so hören die auch nicht auf, und wegen eines kranken Menschen gar nicht. Er muß nicht krank sein, werden sie sagen, er soll lieber tanzen, daß er gesund wird.«

»Warum sind wir fortgegangen aus der schönen, stillen Gass'!« brach es nun schluchzend aus Nachime hervor; »warum sind wir nicht dort geblieben, wo es wenigstens Menschen gibt. die einen in Ruh' sterben lassen? Wo hätt' einer sich's beifallen lassen, Musik zu machen, selbst wenn dem Geringsten und Schlechtesten in der Gasse etwas gefehlt hat? Und mein eigen Kind muß so sterben, kann nicht seine Ruhe finden unter diesen Unmenschen! Verzeih's uns, Elieh, mein Sohn, und trag's uns nicht nach, daß wir an dir so gehandelt haben, nicht wie Eltern an einem Kind! Ich möcht' dir ja gern deine Ruhe verschaffen, aber ich kann's nicht! Wir sind auf dem Dorf!«

Sie hatte die letzten Worte unmittelbar an den Kranken gerichtet; aber der vernahm sie nicht. Alle seine Sinne schienen jedoch in den herüberklingenden Tönen zu leben und sonst für alles andere den Dienst zu versagen. Er kannte niemanden, selbst seine Mutter nicht. Den Knecht stieß er einmal mit übermenschlicher Gewalt in die Brust und rief dabei mit hastig zornigen Worten: »Komm mir nicht in den Weg – Anschel!« Ein andermal, als die Musik in der Schenke gerade eine lustige Tanzweise begann, neigte er den Kopf, gleichsam taktgebend dazu, und Nachime hörte ihn undeutlich vor sich hinflüstern: »Warum soll ich nicht auch tanzen? Anschel tanzt auch!!« Dann rief er wieder: »Aufgespielt, Musikanten!«

Diese wirren Reden, die so wenig zu dem Wesen des Bochers paßten, überzeugten Nachime mehr als jedes andere, daß dem Leben des kranken Sohnes gleichsam nur aus Barmherzigkeit eine kurze Rast in diesem vom Fieber so durchwühlten Leibe gegönnt sei. Um Mitternacht schlich sie auf Wojtechs Zurede von ihm fort; morgen in aller Frühe sollte jemand nach Brandeis geschickt werden, nicht um den Doktor, sondern um die »Kabbronim«.Leute, die mit dem Toten die letzten Gebete sprechen und die Beerdigung besorgen. Nur ein Wunder Gottes, meinte sie, konnte ihm noch helfen. Aber Gott werde dieses Wunder nicht tun; es sei alles umsonst, Gott und Menschen hätten sie verlassen . . .

Aber sie schlief nicht, wie keiner im Hause in dieser Nacht, die über Tod und Leben entscheiden sollte, ein Auge schloß. Eliehs Zustand war derselbe. Die Musik hatte noch nicht aufgehört. Sie hatte im Gegenteil, je mehr sie dem Morgen entgegenging, einen leidenschaftlicheren Charakter angenommen; jeder Ton ward von der Luft herübergetragen, nicht das leiseste »Juchhe« ward dem Kranken geschenkt. Mit einem Male kam es Nachime vor, als ob sich Tritte, die sich unhörbar machen wollten, dem Hause näherten. Die Musik hatte in diesem Augenblicke aufgehört. Auch der Kranke mußte sie vernommen haben; mit weit offenen Augen starrte er das Fenster an, er schien zu lauschen. Gleich darauf vernahmen sie ein leises Pochen an dem Fenster, und eine Mädchenstimme, wie es schien, rief böhmisch dreimal hintereinander, wie auf Antwort wartend: »Schläfst du? – oder bist du wach?«

Grauenhaft war die Wirkung dieser wenigen Worte auf den Kranken. Mit einem gellenden Schrei, der nicht aus der Brust, sondern aus unbekannten Tiefen seiner Seele zu kommen schien, sprang er auf und wollte zum Bett hinaus. Es war gut, daß Wojtech zugegen war; mit übermäßiger Gewalt riß er den Kranken nieder, der sich unter seinen Händen mit einer Kraft verteidigte, die man ihm, selbst in der Gesundheit nicht zugetraut hätte. Dieser Kampf dauerte eine Weile, während Nachime entsetzt, unmächtig irgend einer Bewegung, nur zusah. Mit einem Male fühlte Wojtech, daß der Widerstand des Kranken aufgehört hatte, zugleich empfand er, daß an die Stelle der fieberhaften Hitze eine eisige Kälte getreten war. Erschrocken ließ er von ihm; da lag Elieh, mit geschlossenen Augen, unbeweglich, dem Anscheine nach ohne Leben bereits da.

»Leucht her, Frau,« sagte der Knecht, der ein Beben, das seinen ganzen Körper durchlief, nicht verbergen konnte.

Unwillkürlich folgte Nachime diesem Gebote. Das zitternde Licht spielte auf dem blassen, tief eingefallenen Gesichte des Kranken. Ein Federchen schien sich wie absichtlich über die Oberlippe gelegt zu haben, es regte sich nicht. Ein Friede, wie er nur nach schwerem Kampfe über den Menschen kommt, zeigte sich auf dem Antlitze. Jede Spur der fieberhaften Leidenschaft war daraus gewichen. Dieser Anblick wirkte fast beruhigend auf die Mutter; sie sah in ihm das ausgerungene Weh vor sich. So betrachteten ihn die beiden eine lange Weile. Dann rief Nachime mit herzzerschneidendem Tone:

»Jetzt ist der auch tot, nichts bleibt mir mehr auf der Welt da!« und sank schluchzend neben dem Bette nieder. Wojtech aber sagte:

»Er ist abgeholt worden, der hochwürdige Herr. Darum ist an das Fenster geklopft worden.«

Er wollte den Leblosen nun noch zurecht legen, gleichsam den letzten Dienst ihm erweisen. Wie er nun dessen Hand ergriff, rief er überlaut:

»Frau, wie ist mir? die Hand ist wieder warm, die ist nicht wie von einem Toten. Rühr sie selber an.«

Ungläubig blickte Nachime zu dem Knechte auf; sie ergriff die dargereichte Hand Eliehs; in der Tat empfand sie, daß eine Wärme, die nicht die des Todes sein konnte, ihr entgegenströmte.

»Lebt er?« fragte sie.

»Ich geb' meine Seligkeit darum,« sagte der Knecht, »wenn der hochwürdige Herr nicht jetzt die Krankheit überstanden hat. Alles wird gut werden, von jetzt an wird er gesund.«

Die Stimme des Knechtes zitterte vor freudiger Bewegung; auf seinem starren Antlitze leuchtete ein Strahl. wie er darauf nie geleuchtet haben mochte. Es war der Abglanz einer menschlichen Empfindung, die vielleicht gegen seinen Willen sich Bahn gebrochen hatte. Nachime kam es vor, als stehe ein höheres Wesen vor ihr.

In diesem Augenblicke schlug der Bocher seine Augen auf und blickte matt und ungewiß um sich.

»Wie ist dir, mein Elieh . . .?« schrie Nachime außer sich und beugte sich über den Kranken.

Elieh konnte nichts entgegnen, er schloß wieder die Augen.

»Laß ihn jetzt schlafen, Frau,« sagte der Knecht, indem er Nachime mit sanfter Gewalt von dem Kranken entfernte. »Wenn er jetzt schlafen kann, ist alles gut.«

Nachime ließ es geschehen, daß Wojtech sie zur Kammer hinausführte, sie ging wie eine Träumende fort. Was hatte sich auch nicht in den Rahmen dieser wenigen Augenblicke alles hineingedrängt!

Wojtech hatte übrigens recht. Die Krise, die der Brandeiser Doktor vorausgesagt, war glücklich vorüber. Der Kranke schlief den ersten gesunden Schlaf.


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