Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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22. Vetter Koppel ist unruhig.

Bisher konnte das Verhältnis unserer Familie zum Dorfe ein vereinsamtes genannt werden. Es war ein Leben düsterer Ungeselligkeit, das sie geführt, ohne Licht und Augen, um zu sehen, was neben ihnen geschah, was rechts und links vorging. Es wird niemanden befremden, daß Nachime keine der Frauen des Dorfes kannte, aber daß auch sie von den wenigsten gekannt war. Seit ihrem ersten Feldgang hatte sie keinen Schritt zum Hause hinaus gemacht. In dieser Ungeselligkeit lag zugleich etwas entschieden Unnatürliches, das fühlte Nachime selbst. »Was liegt mir an ihnen?« beantwortete sie selbst zuweilen den in ihr aufsteigenden Vorwurf; »will ich eingeladen sein zu ihren Hochzeiten und Wochenbetten? Was ich nicht davon habe, wenn mir Pawels Weib ihre neue Jontef- (Feiertags-)Haube zeigt, oder wenn sie mich nicht zu ihrer Freundin macht!« So sprach nicht der Stolz aus ihr, denn für den Stolz fühlte sie sich zu gedemütigt; aber es bewies nur, daß sie das Bedürfnis nicht empfand, an eine Menschenseele sich anzuschließen. In ihrer wilden Abgeschlossenheit genügte sie sich selbst, und »ich hab' genug an mir selbst zu tragen«, wiederholte sie so oft, bis sie es glaubte.

Im Grunde war aber Rebb Schlome noch ungeselliger als Nachime. An ihm zehrte nicht nur der Widerstand seines Weibes, ihre bittere Stimmung, ihr gänzlich verändertes Tun und Lassen; ein Geist, auch sonst des Menschen mächtigster Feind, gewann täglich mehr Boden in ihm; es war seine eigene Untätigkeit. Eine Art dumpfen Hinbrütens hatte den starken Mann überfallen, und gerade seine herrische Natur vermochte ihn nicht daraus zu reißen. Wohl schweifte er in anscheinender Geschäftigkeit durch die Räume des Hauses, sah sich dies und jenes an, strich oft halbe Tage zwischen den Feldern umher, aber das alles hatte keinen rechten Sinn und Schick. Das fühlte eben die gebieterische Natur dieses Mannes bald heraus. Wem sollte er befehlen? Anschel verstand vom »Feld« jetzt schon viel mehr, als Rebb Schlome sich es jemals hätte einfallen lassen. Das »Jüngel«, mußte er sich gestehen, nahm sich der Sache wie ein rechter »Barjin« an; er konnte ihm nicht anders als unbedingtes Lob erteilen. Aber das komme von seiner Strenge, rühmte er sich zugleich, mit der er Anschel von Kindheit auferzogen; das Jüngel sehe ein, daß sich sein Vater auch für ihn geplagt habe und tue eigentlich nichts als seine Pflicht und Schuldigkeit. Wenn er sich nicht auf sein eigen Blut verlassen könne, auf wen denn? Für die Kinder habe er ja eigentlich auf dem Dorfe sich angekauft, damit die ein »gesichert«, festes Brot haben sollten, und darum habe er so eilig nach dem kaiserlichen Geschenk gegriffen.

Nicht einmal den Bauern schloß er sich an; er wich jedem Begegnenden aus, wie er nur konnte. Fürchtete er mit ihnen in Gespräche über Feld und Wirtschaft verwickelt zu werden? Fürchtete er zu sehr in der ganzen Nacktheit seiner Unwissenheit vor ihnen da zu stehen? Er sah in den Bauern überlegene Naturen, in einer Sache, in der er und sie auf gleichem Fuße sich befanden. Was hatte er vor ihnen voraus? Er verstand ja nichts vom »Feld«. Was nützte ihm sein hellerer Kopf, seine »Politik«? Immer mehr drängte sich ihm die Selbsterkenntnis auf, daß er, Rebb Schlome Hahn, der sich untermessen, dem Kaiser einen Gefallen zu erweisen, indem er Bauer wurde, nicht einmal über jene Kraft zu gebieten hatte, die dem schlechtesten Bauernknechte innewohnte!

Schwer, aber mit unabweisbarer Gewalt drängte sich diese Selbsterkenntnis dem starken Manne auf; sie war es, die sein planloses Umherstreifen, seine unlustige Stimmung erzeugte, die ihn scheu, als wäre er sich eines Verbrechens bewußt, an seinen nächsten Nachbarn vorübergehen hieß.

Die bevorstehende Ernte brachte zu diesem innerlich lohenden Feuer erst den rechten Wind. Rebb Schlome wollte von dieser Ernte fast nicht hören; so oft die Rede darauf kam, konnte er in augenblickliche Gereiztheit geraten. »Was man wolle? Was man immer und immer davon spreche? Ob man sich den Gottessegen ›verschreien‹ wolle?« Anschel sah den Vater oft in starrem Staunen an; wie konnte er so etwas begreifen? Einmal fragte er ihn:

»Was meinst du, Vater? Fangen wir die nächste Woche zu schneiden an? Auf den Dörfern in der Umgebung schneiden sie schon seit zwei Tagen.«

»Nun, und warum läßt du nicht schneiden?« gab Rebb Schlome beinahe höhnisch zur Antwort.

»Ich?« rief Anschel. »Darf ich etwas unternehmen, was du nicht befiehlst?«

»Du hast ja einen, an den du dich wenden kannst,« meinte Rebb Schlome in demselben höhnischen Tone. »Warum wendest du dich nicht an deinen Lehrer Wojtech, und fragst ihn, wann man anfangen soll?«

»Was denkst du, Vater,« rief Anschel mit Eifer, »soll ich den um Erlaubnis fragen? Darüber hat der Herr zu entscheiden, und nicht der Knecht.«

»Frag' mich nicht,« gab Rebb Schlome trotzig zur Antwort.

Dennoch würde man sehr irren, wenn man annehmen wollte, ihm wäre die Sorge um den Erfolg der Ernte weniger zu Herzen gegangen als Nachime oder Anschel. Er schämte sich nur einzugestehen, daß er eigentlich in der wichtigsten Zeit ihres neuen Lebens wenig zu sagen haben werde. Was fragten sie ihn, wann geschnitten werden sollte? Wußte Anschel das nicht besser als er? Lag in dieser Frage ein versteckter Spott? Das Bewußtsein der eigenen Untätigkeit während der ganzen Zeit ihres Bauerntums hatte ihn so übermannt, daß ihm das Unbefangenste voll Absicht schien, und ein finsterer Groll nahm immer mehr in seinem ohnehin verbitterten Gemüte überhand.

Bei allem war es ihm jedoch klar, daß er sich in dieser Zeit als den alten Rebb Schlome zeigen müsse. Sollte er sich das eigene Kind so über den Kopf wachsen lassen? murrte es in ihm, »so mir nichts, dir nichts?« Anschel als den alleinigen Lenker des Hausgeschickes sich benehmen lassen? Zuletzt werde er in seinem eigenen Hause eine Art Vetter Koppel vorstellen, werde froh sein müssen, wenn man ihm um Gottes willen die schlechteste Stelle im Hause einräumen oder auf Mitleid einen Bissen verabreichen werde. Dagegen bäumte sich aber seine grollende Seele. »Sie sollten sehen,« rief es mit tausend Stimmen aus ihm, »daß mit mir nicht zu ›spaßen‹ ist. Wenn tausend ›Anschels‹ kommen, lasse ich mir doch nichts vorschreiben.«

Am Abende desselben Tages sagte Anschel zu Tille, doch so laut, daß es alle in der Stube hören konnten:

»Weißt du, Tille, wann wir schneiden werden? Wenn du das errätst, so kriegst du etwas von mir.«

»Wann?« rief das Kind mit Lachen, »das Getreide ist ja reif. Meinst du, ich weiß nicht, was ein reifer Halm ist? Gestern erst hab' ich einen herausgezogen und hab' die Körner gezählt.«

»Und ich sag' dir, Tille,« rief Anschel lustig, »es ist so gut wie gar kein Korn darin.«

»Wieso?« meinte das Kind.

»Lieb' Kind,« rief Anschel. »Wenn man ein Feld nicht schneidet und darauf wartet, bis was Gott gegeben, verfault und verwittert, daß man's dann nicht einmal als Streu für die Kuh im Stalle ausbreiten kann, sag selbst, ist's dann nicht einerlei, ob hundert Körner an so einem Halme sind, oder nur ein einziges Korn?«

»Geht die große Weisheit auf mich?« fragte, nachdem Anschel eine Weile geschwiegen, die tiefe Stimme Rebb Schlomes.

Nachime horchte hoch auf. So viel ward ihr jedoch augenblicklich klar: Anschel hatte recht. Galt es nicht das Feld? War nicht die Rede vom Verfaulen und Verwittern des Getreides gewesen? Aber so groß war zugleich die alte Machtvollkommenheit Rebb Schlomes, daß Anschel durch diese wenigen Worte zum Bewußtsein seiner Stellung gemahnt ward, und ihm jede Gegenrede auf der Lippe erstarb.

»Willst du auch schon klüger sein, als dein Vater?« rief Rebb Schlome mit finsterem Ernste, »auch schon über ihn dich zum Richter setzen, weil du ein paar Wochen lang mit einem Bauernknecht zusammen gearbeitet hast? Willst auch schon ihm täglich vorhalten, wie du es besser gemacht hättest, und daß alles, was er gemacht hat, in Grund und Boden hinein schlecht und faul ist? Willst du auch?«

Das ging Nachime an! Die Anspielung war auf sie losgedrückt worden; es hätte nicht einmal eines so mittelbaren Angriffes bedurft, um Nachimes Gemüt in Aufruhr zu bringen. Mit einem Male drängten sich alle die Geister. die seit ihrem ersten Feldgang eingeschlummert schienen, in wilden Haufen an die Oberfläche; sie hatten unter gar zu dünner Decke gelegen.

»Das eigene Kind wird sich doch ein Wort erlauben dürfen,« sagte sie zitternd, halb abgewandt von Rebb Schlome, halb an die Kinder gerichtet, »das eigene Kind wird doch ein Wort reden dürfen in einer Sache, die ihn so gut angeht, wie eines von uns. Wenn er noch gesagt hätte: ›Vater, gib Geld her, ich will ins Wirtshaus, will's vertrinken und verspielen, und wenn du's nicht gutwillig hergibst, so werd' ich Gewalt brauchen!‹ Was hat er denn gesagt? Man soll das Korn auf dem Feld nicht verfaulen lassen und soll dazu sehen, daß man nicht zum Schaden kommt. Ist das ein gar so gewagt Wort?«

In diesem Augenblicke ward es Anschel erst recht klar, wie weit Vater und Mutter auseinander standen, wie jede Annäherung nur scheinbar gewesen. So bitter schneidende Worte, einen so höhnisch und zornig zugleich klingenden Ton konnte nur unversöhntes Gekränktsein finden! Aber, wiewohl die Mutter diesmal mehr für ihn, als für sich selbst eingestanden war, sah Anschel dennoch ein, daß er auf seiten des Vaters stehen müsse. Darum rief er rasch:

»Mutter, was strengst du dich so an, um etwas zu beweisen, was eigentlich nicht zu beweisen ist? Laß doch dem Vater über, was er allein zu bestimmen hat. Wer denn soll befehlen? Wenn der Vater glaubt, ich hab' unrecht, und er recht . . . so hab' ich unrecht.«

Nachime warf einen merkwürdigen Blick voll Befremdung auf den Sohn, dessen Abbitte nach einer so schweren Beleidigung, wie sie ihm widerfahren, sie in diesem Augenblicke nicht begriff. Aber auch aus den Augen Rebb Schlomes, der unbewegt die Worte Nachimes und Anschels über sich hatte ergehen lassen, drang ein Blick hervor, nicht des Staunens und der Befremdung, aber der Dankbarkeit. Es mochte dem starken Manne wohltun, daß ihm das eigene Kind mit schwerer Selbstüberwindung half, einem Kampfe auszuweichen, vor dem er sich scheute.

Rebb Schlome sprach auch ferner kein Wort. So brach in fast unheimlicher Weise der spitze Kampf ab; kein Grollen, kein fernes Wetterleuchten fand statt; es schien, als wäre ein Unsichtbares plötzlich zwischen sie getreten und hätte ihnen unverbrüchliches Schweigen auferlegt.

Dieser Abend war jedoch dazu bestimmt, noch eine andere grollende Stimme gegen Rebb Schlome erheben zu lassen. Als alles sich schon zum Schlafengehen anschickte, ging Vetter Koppel plötzlich auf ihn los und ergriff ihn mit zitternder Hand am Arme.

»Rebb Schlome,« rief er mit seiner weinerlich-kläglichen Stimme, »wo bleibt denn mein ›Mogen Dovid‹? Soll ich denn noch länger darauf warten?«

Rebb Schlome überhörte im ersten Augenblicke das Anliegen des Vetters, dann meinte er, auf tiefster Zerstreutheit erwachend:

»Was wollt Ihr von mir, Vetter? Hab' ich ihn in meinem Sack? Ihr wißt ja, wo er ist?«

Schluchzend rief der letzte Soldat aus Absalons Heere: »Rebb Schlome Hahn! Ich rat' dir's, bring mir meinen Mogen Dovid zurück, es könnt' sonst nicht gut gehen.«

Zu jeder anderen Gelegenheit hätte vielleicht diese Drohung, wie sie weinerlich zornig so oft aus dem Munde des alten Vetters kam, gleichgültige Zuhörer gefunden; heute überschlich sie die Herzen aller mit einem gewissen Grauen. Allen war es, als ob der kindische Vetter noch niemals mit solcher Entschiedenheit etwas gesagt; vielleicht gemahnte sie etwas wie ein unausgesprochener Fluch, der unheilbringend hinter seinen Worten lauerte.

»Vetter Koppel,« rief Nachime entsetzt, »was redet Ihr da vom Schlechtgehen? Wem könnt' es nicht gut gehen?«

»Weiß ich, Nachime?« meinte Vetter Koppel schluchzend. »Aber im dicken Wald,« sagte er darauf, als besänne er sich, »da werden die höchsten Bäume zusammenstürzen und werden auf der Erd' verfaulen. Dann wird's einerlei sein: sind hundert Körner im Getreide oder nur ein einziges Korn.«

Offenbar hatten sich hier die früher im Spotte hingeworfenen Anspielungen Anschels in die alten Vorstellungen des Vetters von seinem Walde eingewebt; nichtsdestoweniger fühlten sie sich davon kalt angeweht. Keiner hatte den Mut, den Eindruck durch ein Witzwort wegzuspülen.

»Vetter Koppel,« rief endlich Rebb Schlome mit wahrem Ernst, ganz gegen die Weise, wie er sonst mit dem Anhänger des rebellischen Königssohnes zu sprechen pflegte, »Vetter Koppel, heißt mich wie Ihr wollt. wenn ich Euch nicht morgen in aller Frühe Eueren Mogen Dovid zurückbringe. Ich geh' selbst zum Richter und werd' ihn bereden, daß er mir ihn zurückgibt. Seid Ihr damit zufrieden, Vetter?«

Vetter Koppel fand in seinem wirren Kopfe wahrscheinlich keine Antwort; er ließ die zitternde Hand von dem Arme Rebb Schlomes los, worauf sie in einem fort geruht, und schlich dann in seine Kammer. Er ahnte nicht, welche Bedeutsamkeit sein umnachtetes Leben heute zum ersten Male gewonnen und daß Rebb Schlome in der Tat entschlossen war, die Löwen Judas aus ihrer Verbannung wieder in sein Haus zurückzuführen.


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