Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17. Auf grünem Boden.

Währenddem eilte Nachime mit ihren Kindern vorwärts, als gelte es ein in Flammen stehendes Haus zu verlassen. Sie sah sich nicht um und war immer um einige Schritte voraus. So war sie durch das Dorf gekommen und hatte nicht nach rechts, nicht nach links geblickt. Kinder, die am Wege spielten, Frauen, die vor ihren Häusern standen, sahen der fremden, städtisch gekleideten Frau erstaunt nach; wenige kannten diese neue Bäuerin, und die sie gesehen hatten, konnten sich ihrer kaum erinnern. So seltsam es klingen mag: Nachime hatte die neue Heimat seit ihrem Einzuge in dieselbe nicht gesehen, sie war eine Gefangene in ihrem eigenen Hause gewesen!

Was aber trieb Nachime so unaufhaltsam vorwärts und ließ sie weder nach rechts noch nach links blicken? War es ein Gefühl befriedigter Rache, daß sie denjenigen, der ihr so viel getan, nun selbst gedemütigt, daß sie ihm bewiesen, wie »Gewalt und nichts als Gewalt« doch nichts vermöge? Oder war es vielmehr Scham, daß sie zu weit gegangen, daß sie den Vater ihrer Kinder nicht vor ihnen selbst hätte erniedrigen sollen? Vielleicht wogte beides, Scham und Befriedigung, in wildem Gemenge durch diese Seele.

Erst als sie am Ende des Dorfes angekommen war, hielt sie inne; sie mußte Atem schöpfen, und trotzdem, daß sie ihre Schritte so behastet hatte, zeigte ihr Antlitz keine Aufregung, es war bleich.

»Ist es noch weit bis hin?« fragte sie.

»Du bist gleich zur Stelle,« gab Anschel zur Antwort, »und deswegen, Mutter, beeil dich nicht.«

Nach einer Weile setzte Nachime den Weg fort; langsamer zwar, aber immer noch so eilig, daß Anschel und Tille kaum gleichen Schritt mit ihr einhalten konnten.

Plötzlich fühlte sich Anschel von Tille bei der Hand gefaßt:

»Hast du sie gesehen, wie wir vorbeigegangen sind?« raunte Tille ihrem Bruder fast unhörbar zu.

»Wen? wen?« fragte Anschel ebenso flüsternd, aber im Tone des Schreckens.

»Sie,« flüsterte das Kind.

»Um Gottes willen, schweig!« rief Anschel.«

»Sie hat mir gestern die Blumen ins Haar gesteckt,« lispelte, an den Bruder enge geschmiegt, das Kind, »und dir hätt' ich etwas sagen sollen.«

»Schweig, schweig, um Gottes willen,« bat Anschel.

Anschel hatte die letzten Worte halblaut gerufen, so daß Nachime sich umwandte.

»Was habt ihr denn vor, Kinder?« fragte sie.

»Nichts, nichts,« stammelte Anschel flammrot im Gesicht.

»Willst du mir's auch nicht sagen, Tille?« rief Nachime.

»Ich? Mutter?« meinte das Kind in Verlegenheit, »ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wovon zwischen uns beiden die Rede gewesen. Jetzt weiß ich's« rief sie nach einem Augenblick, wie sich besinnend aus, »jetzt weiß ich's; ich hab' Anschel erzählt, daß sich der Vetter Koppel einen neuen ›Mogen Dovid‹ machen will.«

Nachime lächelte fein; sie wollte wahrscheinlich auf den Grund der Notlüge nicht dringen, so unglaublich sie immerhin klang.

Endlich lagen die Felder des Dorfes vor ihnen.

Anschel hatte auf einen Hilfsgenossen nicht gerechnet, da er die Mutter zum Gang aufs Feld beredete, und dieser bewies sich gerade jetzt, als alles geschwunden und zugrunde gegangen schien, worauf er seine Hoffnung gebaut hatte. Es war das einsam traurige Leben, das die Mutter seit so langer Zeit geführt, die Verlassenheit ihres Gemütes. Zuerst tat ihr das Grün wohl, das ihr von weit und breit zuwinkte und zurauschte; wohin sie sah und hörte, beugte ein linder Luftzug die Halme vor ihr, als wenn er sie zum Gruße nötigen wollte, oder flatterte ein Vogel auf, der darin seine Stätte gefunden hatte. Das hatte sie schon lange nicht erlebt: auf einem schmalen Feldrain zu gehen, der dem Fuße kaum das nötige Erdreich gab, und rechts und links von reifenden Kornhalmen berührt zu werden, als ob jeder sie zurückhalten und etwas besonders Wichtiges ihr zu melden hätte! Sie konnte sich nicht erinnern, seit den fünfundzwanzig Jahren ihrer Ehe einen Acker anders als im Vorüberfahren, wenn sie auf die Märkte zog, gesehen zu haben. Was war ihr ein Feld? Sie aß das Brot, das davon kam, aber gleich Tausenden von Menschen wußte sie nicht, wo es gewachsen, wie die Gottesgabe ins Haus gekommen! . .

Mitten zwischen den Feldern stellte sich ihr plötzlich eine Lebensszene vor die Augen, die sie vor fünfundzwanzig Jahren erlebt. Das Alter hatte sie nicht gebleicht, mit frischen Farben stand sie vor ihrer Seele. Sie erinnerte sich eines Feldgangs, den sie damals gemacht; es war gleichfalls an einem Frühlingssabbat. Der mit ihr auf dem engen Feldraine zwischen den nickenden Halmen ging, war damals ihr Bräutigam, Rebb Schlome. Es war kurz vor ihrer Hochzeit; was sie damals miteinander gesprochen, war ihr entschwunden; aber ein Zug war ihr doch geblieben. Ihr Bräutigam hatte plötzlich einige Ähren in die Hand genommen und sie ihr mit den Worten gewiesen: »Da sieh her, Nachime, das ist Gottesgab' . . da draus bekommt man Brot. Wenn mir die Kraft nicht ausgeht, sollst du immer dein Brot haben, und das, was nachkommt, auch.« Darauf hatte sie die Hand auf die Ähren gelegt, wie zu einem Schwure, und gesagt: »Und ich will dir helfen, Schlome, wie es einem treuen Weib' zukommt.«

So deutlich und lebendig stand in diesem Augenblicke das ferne Lebensbild vor ihrer Seele, daß sie ihre eigenen Worte hörte, nicht mit jenem geistigen Ohr, das verschollene Klänge vernimmt, man weiß nicht wie? sondern wirklich, als hätte sie dieselben gerade jetzt gesprochen. Unbewußt hatte sie mehrere Ähren ergriffen und war sinnend stehen geblieben. »Und ich will dir helfen, Schlome, wie es einem treuen Weibe zukommt,« sprach sie leise vor sich hin.

Wunderbare Töne weckten diese Worte in ihr. Sie hörte und sprach nicht nur ihre eigenen Worte, die sie vor fünfundzwanzig Jahren gesprochen, sie sprach auch die ihres Bräutigams nach, der jetzt Rebb Schlome hieß. Mehrmals blieb sie stehen, nahm die Ähren in die Hand, ließ sie durch die Finger gleiten, und die Lippen zuckten dabei, als würden sie von einem ungesprochenen Gebete berührt. »Wenn mir Gott die Kraft gibt, sollst du immer dein Brot haben,« lispelte sie leise vor sich hin.

Hatte er ihr nicht Wort gehalten, was er damals auf die Ähren, auf die Gottesgabe versprochen? Hatte es ihr je an Brot gemangelt seit diesem Tage? Hatte er nicht stets treu dafür gesorgt, daß das Haus in Zucht und Ehren bestand? Was war aus anderen Frauen geworden, denen goldene Zaubergärten, lustjauchzende Tage, ungetrübtes Wohlsein waren versprochen worden! Verkommen, verdorben und gestorben war manche von ihnen, während sie »ihr Brot« hatte und mitten in der Fülle saß.

Aber auch sie – hatte sie ihm nicht redlich Wort gehalten? Hatte er an ihr nicht ein treues Weib, die ihm im Erwerb geholfen? nach Kräften das Brot ins Haus geschafft? Hatte sie je feiernd die Hände in den Schoß gelegt? War sie nicht auf Zucht und Ehren des Hauses bedacht? Wie hätte das ein Ende nehmen können, wenn es ihm nicht eingefallen wäre, einem luftigen Gedanken zuliebe den Bestand ihres ehemaligen Glückes und Wohlseins an ein Dorf zu binden?

Der letzte Gedanke hatte zu viel des Trüben, als daß er nicht Fäden gefunden hätte, an denen er sich fortleiten konnte. Nachime hielt ihn fest; wieder vermochte sie an nichts zu denken als an ihr Leid. Aber sie tat es ohne Bitterkeit, fast aus Gewohnheit. Ihr unbewußt übte das Feld eine Macht über ihr Gemüt aus, der sie sich nicht entziehen konnte. Die Ähren wogten immer lauter; es war, als drängten sie sich ihr in die Hand und wollten von ihr berührt sein. Wieder klangen ihr aus der Tiefe der Erinnerung die Worte des Bräutigams:

»Sieh her, Nachime, das ist Gottesgab', da draus wird Brot. Wenn mir die Kraft nicht ausgeht, sollst du immer dein Brot haben.«

Die Kinder hatten bis dahin die sinnend dahinwandelnde Mutter nicht unterbrochen; still waren sie hinter ihr geschritten. Anschel ahnte es mit seinem Verständnis, daß die Mutter nicht gestört sein dürfe. Durch Zeichen gab er Tille zu verstehen, daß sie an sich halten solle, wenn sie ungeduldig einmal das Schweigen brechen wollte. So waren sie über die Feldraine eine weite Strecke fortgewandelt, und dieser lautlose Gang in der Stille eines Frühlingsmorgens, Kornrauschen rechts und links und über sich Vogelgesang, hätte für den, der ihn ungesehen belauscht, ein wunderbar ergreifendes Schauspiel gewährt.

Wieder war Nachime bei einem Felde stehen geblieben; wieder waren ihr die Ähren in die Hand gekommen. Da rief um denselben Augenblick Anschel hinter ihr mit leiser Stimme:

»Mutter . . ., sieh dich um, du stehst bei deinem Feld!«

Ein leiser Schrei entfuhr den Lippen Nachimes. Die Halme entglitten ihr; ein Frösteln durchzitterte ihr ganzes Wesen.

»Lebendiger Gott!« hörten sie die Kinder ausrufen.

Aber sie wandte sich nicht um, sie setzte ihren Weg an den wogenden Halmen fort.

Das schnitt Anschel bitter durchs Herz. Vor ihrem Eigentum stand die Mutter, vor dem ihrer Kinder; an dem Acker ging sie vorüber, dessen Furchen eines ihrer Kinder gezogen, und sie fand kein Wort? So wenig gefiel ihr also das Feld? Das hatte Anschel ja befürchtet. Was aber konnte das »Feld« dafür?

Hätte Anschel begreifen können, was gerade jetzt in Nachimes Seele vorging, und warum ihr beim Anblick des Feldes ein Schreckensschrei entfuhr, so würde er sich gehütet haben, in das heilige Schweigen seiner Mutter einzugreifen. Denn an schwachen Fäden hängt oft das Gewebe einer Gemütswandlung; ein leichter Zug – und das Gewebe ist vollendet oder zerrissen!

Nachime ging aber von da an immer langsamer über den Rain, und wunderbar war es: der Lufthauch, der bis dahin die Halme vor ihr gebeugt hatte, daß es wie ein Willkommgruß schien, hatte aufgehört. Die Ähren kamen ihr nicht mehr in die Hand, so wenig als sie zu ihnen kam. Nachime stand an einem Scheidewege. Sie sah das »Brot« vor sich, das leibliche Brot, das ihr ihr Mann vor fünfundzwanzig Jahren versprochen hatte; sie hörte aber auch das: »Und bin ich dir nicht ein treues Weib gewesen? Hab' ich dir nicht redlich geholfen? Warum hast du mich dahin gebracht, daß ich dir nicht mehr helfen kann?«

Mit einem Male sahen die Kinder, wie die Mutter sich zu den Ähren neigte und ihr ganzes Antlitz darin verbarg. Sie hörten sie zugleich heftig schluchzen.

»Mutter, was ist dir?« riefen die beiden Kinder erschrocken.

Nachime weinte noch heftiger.

»Mutter,« sagte Anschel, »wenn dir so leid ist, daß du aufs Feld gegangen bist, so können wir ja gleich umkehren.«

Da richtete sich Nachime auf und wandte sich um. Ihr Antlitz war von Tränen überströmt; sie versuchte zu reden, aber das Schluchzen ließ sie eine geraume Weile nicht dazu kommen.

»Leid soll mir sein, meine Kinder . . .,« rief sie endlich. »wie könnt' ich mich so versündigen? Muß ich nicht meinem Gott im Himmel danken dafür mit aufgehobenen Händen, daß er mir diese Stunde geschickt hat? Wie gut war's doch, daß ich auf mein Feld gegangen bin!«

Diese Sprache erschreckte anfangs die beiden Kinder mehr, als sie sie staunen machte. Aber als sie das durch Tränen leuchtende Antlitz der Mutter anschauten, kam sie ihnen doch wie eine andere vor. Die innere Erlösung war es, die einen Sieg erfochten hatte, und sie drückte diesem Antlitze einen Ausdruck auf, der den Kindern als beinahe unnatürlich erschien. Aber das fühlten sie: mit der Mutter war etwas vorgegangen, etwas Großes, Unerwartetes; keiner hätte das in Worten sagen können.

»Mutter, ist das dein Ernst, dein wirklicher Ernst?« rief endlich Anschel, nachdem er in das Antlitz der Mutter lange genug geschaut hatte. »Wie ist denn das nur gekommen?«

»Frag mich nicht, Anschel,« sagte sie milde, »ich könnt' dir doch keine Antwort geben. Kannst du sagen, wie das Korn hier angewachsen ist in die Höhe, und wie es so schön grün geworden ist? So ist's auch über mich gekommen, ich weiß nicht wie?«

»Ich frag' dich auch nicht, Mutter,« sagte Anschel, »mir ist's genug, wenn du so redest.«

Wieder griff Nachime nach einigen Ähren und behielt sie in der Hand. »Die hat euer Vater säen lassen,« sagte sie, »und ich hab' ihm dabei nicht geholfen; ich hab' noch geschmollt in meinem Herzen, und ich hab' mich gekränkt, daß er's getan hat. Hätt' ich als treues Weib fragen dürfen: Schlome, warum tust du dies und jenes? Warum tust du's nicht, wie ich's will? Ich hab' ihm ja versprochen gehabt vor fünfundzwanzig Jahren, daß ich ihm helfen will, das Brot mit ins Haus zu schaffen! Ich hab' mein Wort nicht gehalten! Da wächst das Brot, ich halt's in meiner Hand, aber ich hab' dabei nicht geholfen. Ja, wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, so hätte ich's noch ausgerissen und mit Füßen zertreten.«

Anschel tat diese Selbstdemütigung der Mutter wehe; er wußte nicht, daß Demut gern Geständnisse macht und daß es der erste Flügelschlag einer befreiten Seele ist, wenn sie sich enthüllen kann.

»Du kannst ja nicht dafür, Mutter . . .,« sagte er, »daß es so gekommen ist. Hast du denn wissen können, was so ein Feld ist? Wie hättest du das in deinem Gewölb' lernen sollen? Klag dich nur nicht mehr an, als nötig ist.«

»Anschel, mein Kind!« rief Nachime darauf mit schmerzlich bitterm Tone aus, »du weißt gar nicht, wie ich gefehlt habe. Ein Weib, das dem Manne das Leben verbittert, ist etwas, wovon du keinen Begriff hast . . . Ein Mann, der seinem Weibe schlecht begegnet, kann ihr tausenderlei antun, aber es ist nichts gegen das Weib, wenn es den Mann kränken will. Das aber ist etwas, was ich mir nie verzeihen werde. Ich hab' ihn kränken wollen, und noch heut' . . . und er ist doch ein so treuer Mann.«

Schluchzend wiederholte Nachime mehrmals diese letzten Worte; sie klangen wie eines der Schuldgeständnisse am »Tage der Versöhnung«. Da trat Anschel, dem dieser Auftritt schrecklicher ward als alles, was er bis dahin erlebt, dicht zur Mutter und flüsterte, ohne daß Tille es verstehen konnte, ihr leise ins Ohr: »Mutter . . .! schweig wenigstens vor dem Kind, ich bitte dich darum.«

»Laß mich, laß mich reden,« sagte sie darauf.

Anschel aber, um den Selbstanklagen der Mutter ein Ende zu machen. rief mit einem Male:

»Mutter, du hast ja noch nicht einmal alles gesehen, was uns gehört. Meinst du denn, du bist schon fertig?«

»Was haben wir denn noch?« fragte Nachime, deren Stimmung plötzlich verändert schien.

»Sieh dich nur um, Mutter,« sagte Anschel, von freudigem Stolze das Antlitz überglänzt, »gleich neben dem Feld, wohin du jetzt kommen wirst, wächst Gerste, und nicht weit davon – nur des Richters Acker ist dazwischen – da haben wir unsere Erdäpfel. Und wenn du deine Augen ein bissele anstrengen willst, so siehst du über dem Erdäpfelfeld einen schmalen grünen Streifen, da drauf wächst Hanf . . . den hat Wojtech allein für dich angebaut. Und alles ist unser, alles, alles!«

Unwillkürlich folgten die Blicke Nachimes jeder Bewegung, die Anschel mit der Hand beschrieb. Sie nickte zur Bejahung mit dem Kopfe, als ob sie in der Tat alles gesehen; und doch verwirrten sie die Angaben Anschels. Ihr erschien das ganze Gebiet ihres Eigentums, das Anschel als solches bezeichnet hatte, in so riesigen Umrissen, daß es ihren Augen entschwand.

»Das alles, sagst du,« rief sie mit unsicherer Stimme, »gehört uns? Lebendiger Gott! das alles?«

»Das alles, Mutter . . .,« sagte Anschel freudig, »nur der Richter kann sagen, er hat um ein ›paar Striche‹ mehr als wir.«

Nachime war wieder eine Weile stehen geblieben; sie schaute über die Felder hinweg nach den Punkten, die ihr Anschel bezeichnet hatte. Plötzlich faßte sie nach seinem Arm mit zitternder Hand; ihr ganzes Wesen war wieder verändert; sie bebte am ganzen Leibe.

»Das alles,« rief sie mit krampfhaftem Tone, »das alles gehört uns! Wie aber, Anschel, mein Sohn! wenn es zugrunde geht? Wenn ein Hagelwetter kommt, wenn zu viel Regen darauf fällt, die Sonne nicht scheinen will . . . lebendiger Gott im Himmel, was weiß ich, was alles geschehen kann? Was tun wir dann? Brot gibt das Feld, viel Brot! Wie aber, wenn's mit einem Male zugrund' gerichtet wird?«

Auf dieses plötzliche Ablenken der Mutter von der bisher behaupteten Stimmung, die so viel des Freudigen versprach, war Anschel nicht gefaßt. Stotternd sagte er:

»An das, Mutter, hab' ich noch nicht gedacht.«

Nachime aber ergriff den Arm ihres Sohnes mit weit stärkerer Gewalt, denn Anschel empfand schmerzlich den Druck dieser unerklärlichen Angst und rief:

»Daran hast du noch nicht gedacht, Anschel? Warum ist es mir gleich eingefallen? Gott braucht nur eine schlechte Stunde zu schicken, so ist unser ganz Brot verloren, und dein Vater und wir alle, die da stehen, können schnorren (betteln) gehen.«

»Das, Mutter, wird nicht geschehen,« sagte darauf Anschel, der sich allmählich gefaßt hatte. »Ich denk', wenn einem Bauer alles zugrunde geht, so bleibt ihm doch sein Feld, das kann ihm doch Hagel und Blitz und Krankheit nicht forttragen. Im nächsten Jahre kommt neue Ernte, und der Schaden ist wieder gut gemacht.«

Nachime sah den Sohn mit einem Blicke schmerzlichen Mitleids an.

»Man sieht, mein Kind,« sagte sie, »du bist noch jung und hast noch nicht viel erlebt. Du weißt nicht, wie sich Menschen selbst aufessen können.«

Trotz der ernsten Lage, in der sich Anschel der Mutter gegenüber befand, machte ihn dieser Ausdruck doch lächeln. Er verstand wohl, was Nachime damit meinte.

»Fürcht dich nicht, Mutter,« sagte er, »ehe ein Bauer an die Felder selbst greifen muß, da muß es ›kurios‹ in seinem Hause zugegangen sein. Wir werden uns nicht aufessen, dafür laß mich auch sorgen.«

Diese Zusage schien Nachime wenig Trost zu gewähren.

»Du redest auswendig,« meinte sie mit kummervoller Miene, »wenn's, Gott behüt', dazu käme, möchtest du schon anders reden.«

»Was tun denn aber sonst die Bauern?« rief endlich Anschel aus; »ich seh' doch nicht, Mutter, daß es denen gar so schlecht geht!«

»Die Bauern! die Bauern!« meinte Nachime nachdenkend, »meinst du denn, ein Jude kann so ein Bauer sein, wie ›sie‹ sind?«

»Mutter,« sagte nach einer Weile Anschel, »warum sich eine Stund' verbittern wollen, wenn sie sich so schön anschickt? Am ›Aufessen‹ sind wir ja noch nicht, wozu also davon sprechen? Du hast mir ja gestern zugesagt, du willst mich hören, wie ich mit meinem Feld reden kann. Willst du die Kunst hören?«

In Nachime hatte die gute Wandlung, die seit wenigen Minuten so bedeutende Störungen durchgerungen hatte, wieder die Oberhand. Als ob sie eine quälende Sorge sich von der Seele gewaltsam hätte wegscheuchen wollen, fuhr sie mit der Hand über die Augen und sagte dann mit einem wahrhaft freudigen Lächeln:

»Du brauchst mich nicht zu gemahnen, lieb Kind . . . das Feld hat mit mir schon gesprochen. Verlaß dich drauf.«

Und wie zur Bestätigung nahm sie wieder einige Ähren in die Hand, sah sinnend auf dieselben und ließ sie dann wieder zurückgleiten.

»Jetzt kommt, Kinder,« sagte sie nach einer Pause. »Die Sonne fängt an stark zu brennen.«

»Aber du hast ja noch nicht alles gesehen, Mutter!« rief mit einem Male die bis dahin schweigsame Tille.

»Ich hab' genug gesehen,« meinte Nachime mit bedeutungsvollem Nachdruck, »und hab' auch genug gehört,« setzte sie still, wie für sich, hinzu.

Sie wandte sich um; da traf ihr Blick Tille, die, um ihr auszuweichen, mitten in die Ähren sich stellen mußte. Da flog wieder jenes siegreiche Lächeln, das gestern trotz Leid und Weh beim Anblicke des Kindes sich ihr aufgedrungen hatte, über Nachimes Antlitz.

»Eines möchte ich noch einmal sehen,« sagte sie fast verschämt zu Anschel, »aber es geht heute nicht.«

»Warum nicht?« fragte Anschel aufhorchend.

»Es geht nicht, es geht nicht,« meinte Nachime, mit dem Kopfe schüttelnd.

»Sag's nur, Mutter!« rief Anschel.

Nachime beugte sich zu seinem Ohre und sprach halblaut, so daß Tille jedes Wort vernehmen konnte:

»Ich möcht' das Kind wieder so sehen, wie sie gestern abend vom Feld heimgekommen ist.«

Anschel entgegnete darauf nichts; aber als die Mutter einige Schritte vorausgegangen war, flüsterte er der Schwester rasch einige Worte zu. Drauf blieb Tille zurück, während Anschel zur Mutter eilte.

Wenige Augenblicke hatten hingereicht, und Tille hatte ihrem Kopfe aus den blauen und roten Blumen des Kornfeldes wieder jenen Schmuck verliehen, der der Mutter gestern so sehr gefallen hatte. Hastig eilte sie zu den beiden zurück; plötzlich stellte sie sich vor die erstaunte Mutter hin.

»Hast du's so gemeint, Mutter?« rief sie lachend.

»Lebendiger Gott!« schrie Nachime erschrocken, »was hast du gemacht? Es ist ja Schabbes!«

»Für ein Bauernkind ist das keine Sünde,« sagte das Kind unbefangen.

Dennoch war der Zauber, der von Tilles Kopfschmuck ausging, wieder so mächtig, daß Nachime ihm auch heute unterlag. Sie konnte ihre Blicke von der Schönheit des Kindes nicht abwenden, so bestrickend und ungewöhnlich kam ihr das Kind vor. In einem fort rief sie:

»Tu's weg, tu's weg, um Gottes willen, es ist ja eine Sünde! . .«

Aber ihren leuchtenden Augen, ihrem zürnend seligen Lächeln sahen es die Kinder an, daß ihr die Sünde nicht gar so ungeheuer vorkommen mußte. Tille behielt den Schmuck auf; tanzend, lachend, neckend, wie ein Schmetterling, der zum Trotze seine Falter in ihrem ganzen Farbenschmelze ausbreitet, wenn er sich verfolgt sieht, flog Tille der Mutter voraus, bis sie wieder bei den ersten Häusern des Dorfes anlangten.

»Jetzt tust du sie aber im Ernst herunter,« sagte da Nachime entschieden.

»Laß sie ihr noch, Mutter!« bat Anschel.

»Was möcht' denn Elieh sagen,« rief Nachime, »wenn die mit heut' gepflückten Blumen nach Haus käm'? Der ist imstande und sagt: wir hätten das mit Fleiß getan, um am heiligen Schabbes eine Sünde zu begehen.«

Tille nahm nur mit Widerstreben die Blumen auf dem Haare und warf sie weit weg von sich:

»Wegen dem?« meinte sie mit wegwerfend aufgeworfener Lippe.

Mit dem Betreten des Dorfes war Nachime wieder still geworden. Ihre Blicke waren wieder zu Boden gesenkt; sie sah nicht nach rechts, nicht nach links. Und doch lag zwischen ihrem Kommen und Gehen der erste Feldgang ihres Lebens.

Schweigend erreichten sie ihr Haus.


 << zurück weiter >>