Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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24. Das Mutterkorn.

Anschel hatte wahr gesprochen; der Segen kehrte sichtbar in die Scheuern Rebb Schlomes ein. Wagen kam auf Wagen; auf jedem lag die goldene Last hoch aufgehäuft, keiner stand dem andern an Fülle nach. Wojtech und Anschel wechselten miteinander ab in der Heimfahrt. War kaum der eine mit seiner Arbeit fertig, so lenkte der andere schon das Gespann durch das heute offenstehende Tor herein. Die Knechte hatten vollauf zu tun, um die eingeheimsten Garben unter Dach und Fach zu bringen; es kamen immer neue hinzu; es schien ins Unendliche zu wachsen.

Dem allen sah Nachime mit einem Gefühle von Verblüffung zu, das von Stunde zu Stunde, von Wagen zu Wagen wuchs. Weil sie den Maßstab nicht kannte, den der Bauer an die Ernte legt mit gewohntem, sicherem Blicke, bedünkte es sie fast wie ein Wunder. – »All mein Lebtag,« dachte und sprach sie in sich, »hätt' ich nicht geglaubt, daß so ein Feld, wenn man's umlegt, so viel zu ›schaffen‹ gibt. Es sieht aus, als könnte ein schwaches Kind es in seinen Armen forttragen, und nun haben starke Männer vollauf zu tun und werden doch vor mehreren Tagen nicht fertig!«

Zu Mittag schickte sie durch einige Mägde das »Essen« hinaus; sie sollten es sich schmecken lassen, ließ sie sagen, es sei heute besonders gut zugerichtet, und Anschel solle »ihm« das anraten, um was sie ihn so dringend gebeten und nicht zugeben, daß er an einem so heißen Tage auf seinen Kopf bestehe; es liege ihr viel daran. Als die Mägde sich entfernt hatten, rief sie sie noch einmal zurück, und band jeder von ihnen diesen Auftrag noch besonders auf die Seele.

»Kommt noch viel?« fragte sie einmal den Knecht Wojtech, als dieser mit einer neuen Last angekommen war.

»He, Frau,« sagte dieser mit schlecht verhehltem Grimme, »es muß nur sein, weil der hochwürdige Herr dabei ist, daß alles so gut geht; sonst möcht' ich das nicht begreifen.«

»Ist mein anderer Sohn auch draußen?« unterbrach Nachime den finstern Knecht. Sie erinnerte sich erst, während des ganzen Tages an Elieh gar nicht gedacht zu haben.

»Ja, Frau,« sagte Wojtech, »der ist draußen, und ihm hast du es zuzuschreiben, wenn wir morgen, und vielleicht auch übermorgen mit der Arbeit nicht fertig werden. Wie könnten sonst alle Felder ringsherum aussehen, als wären drin die Ratten fett geworden bis zum Zerspringen, und nur der Jud' allein hat den Rahm der Milch davongetragen.«

Offenbar war über den Knecht wieder der düstere Geist der Entzweiung gekommen. Er war in diesem Augenblicke der alte, zornige Wojtech, dem die Elbe nicht tief genug war, um alle aufzunehmen, die er haßte. Vielleicht war dieser plötzlich wieder sich aufraffende Zorn nur das Anzeichen seines gesundeten Lebens . . . Wie dem auch immer sei, auf Nachime machte die feindliche Weise des Knechtes einen fast freudigen Eindruck.

»Jetzt erst glaub' ich's recht,« jubelte sie, »daß Gott uns Segen gegeben hat, und daß alles gut geht. Möcht' der Knecht so reden, wenn es anders wäre? Möcht' er sich nicht die Hände reiben? Aber so geschieht ihm vielleicht Arges genug und ist ihm winn und weh, daß er nicht mit schlechter Nachricht kommen kann: Frau! An den Körnern zeigt sich das schwarze Gift. Wie hat das nur Anschel geheißen?«

Merkwürdig, von jenem schwarzen Gifte war ein Tropfen in ihre Seele gespritzt worden, klein, aber mächtig genug, um sie nicht von der Freude über den stets anwachsenden Erntereichtum überschäumen zu lassen. Sie konnte sich des Wortes nicht erinnern; aber der Schall, die Wirkung war in ihr geblieben. Also auch auf ihrem Felde hätte das schwarze Gift wohnen können? Und wenn sie heuer davon verschont waren, wer stand ihnen dafür, daß die schwere Heimsuchung sie nicht schon im nächsten Jahre traf?

»Wie hat das schwarze Gift geheißen, von dem Anschel gesprochen hatte?« rief sie Tille zu, als sich Wojtech ohne Gruß und Wort wieder entfernt hatte.

»Ich weiß nicht, Mutter,« sagte Tille.

»Du warst ja doch dabei?« bemerkte Nachime.

»Ich hab' nicht zugehört,« meinte das Kind.

Nachime konnte einige zürnende Worte wegen diesem Unaufmerksamkeit nicht unterdrücken, sie hätte jenen giftigen Ausdruck gern ihrem Gedächtnisse eingeprägt, vielleicht, um ihn jedesmal in Bereitschaft zu halten, mochte sie ihn brauchen oder nicht. Schweigend, ja trübe nahm das Kind die Vorwürfe hin; für Tille war überhaupt heute kein freudiger Tag. Es nagte etwas an ihr, das Trauer und Zorn zugleich war.

Der letzte Wagen war heimgekehrt; es war Anschel, der ihn einlenkte. Mit ihm war auch Rebb Schlome gekommen; auch Elieh und der Vetter Koppel hatten sich eingestellt. Bei Mondlicht wurden die letzten Garben in die Scheuer geschafft. Wojtech war, trotz der Gegenbemerkung des müden Anschels darauf bestanden, daß das noch heute geschehen müsse; »das Korn,« meinte er grimmig, »wolle auch schlafen, gestern habe es noch sein Nachtquartier vom lieben Herrgott gehabt. Ob ihm das die Juden heute mißgönnen wollten?«

Es war ein eigentümliches Schauspiel, wie sich Nachime an diesem Abend betrug. Sie hatte dem eintretenden Manne kein Wort des Willkommens zugerufen; ihr Gruß galt den Kindern, sie fragte um dies und jenes – ihm wandte sie sich nicht zu. Gegen die Kinder war sie freundlich, ja heiter, und konnte sogar lachen, als ihr Anschel vom Vetter Koppel erzählte, wie emsig er sich an der Arbeit beteiligt, und »richtig« während des ganzen Tages eine Garbe zustande gebracht habe!

»Wie aber bist du dazu gekommen, Elieh,« fragte sie, »den ganzen Tag da draußen zuzubringen? Bist du denn so etwas gewöhnt?«

»Ich hab' mir's einmal ansehen wollen,« entgegnete dieser . . .

Nach dem reichlichen Nachtessen schlief Rebb Schlome sogleich im Sitzen ein. Er hatte schweigend sein Mahl verzehrt und zu Nachime auch nicht einmal aufgeblickt; jetzt hatte ihn die Müdigkeit übermannt. Als die Kinder ihn so sahen, stockte ihr Gespräch und sank zum leisesten Geflüster herab. Dadurch wurde Nachime aufmerksam und blickte nach ihm hin. Wie erschrak sie! Der Schlummer hatte die harten Züge seines Antlitzes milde, fast weich gemacht; ein unbestimmter Zug, wie von schwerem Kummer, schwebte um den Mund, und die Augen schienen eben geschlossen, um die hervorquellenden Tränen nicht sehen zu lassen. So war er ihr nie vorgekommen, seit sie ihn kannte; in guten wie in schlechten Tagen hatte er immer das Straffe und Bestimmte seines Gesichtes zu bewahren gewußt. Nun hatte der Schlummer das Geheimnis verraten; dieser Mann konnte auch sein Weh nicht verbergen . . . Ihr zog sich das Herz zusammen von innigstem Mitleid, je mehr sie nach ihm sah; sie mußte aufstehen und ans Fenster treten, um nicht Zeugen dieser tiefinnigsten Bewegung zu haben.

Nach einer Weile rief sie mit leiser Stimme Tille zu sich.

»Weck doch den Vater,« sagte sie, das Gesicht beinahe abgewendet von ihr, »da auf dem steinharten Sessel ist kein gesunder Schlaf für ihn . . . er ist zu müd' . . . wie leicht könnt' ihm das schaden! Sag ihm, er soll lieber ins Bett.«

»Mutter, ich darf ja nicht,« bemerkte Tille flüsternd.

»Warum? warum?« fragte Nachime heftig, wenn auch noch so leise.

»Ein Kind darf ja seine Eltern nicht wecken,« sagte Tille, »das ist ja eine große Sünde.«

Das hatte Nachime in diesem Augenblicke vergessen. Sie blieb noch eine Weile vor dem Fenster, dann sahen sie die Kinder die ganze Länge der Stube auf den Zehen durchschreiten und beim Vater stehen bleiben. Verwundert blickten sie auf dieses Tun; aber Nachime ließ es nicht dabei. Leise, fast zu leise berührte sie mit der Hand das Antlitz des Schlummernden, der davon nicht erwachte. Dann neigte sie sich zu ihm herab und flüsterte ihm zu, doch so, daß es alle in der Stube vernahmen:

»Schlome, warum gehst du nicht schlafen? Du bist ja müd'.«

Schlaftrunken fuhr Rebb Schlome auf, blickte um sich mit weit aufgerissenen Augen; aber Nachime war schnell in den Schatten zurückgetreten, er konnte sie nicht gewahren. Er sank nach vergeblichem Bemühen, den Schlummergewalten zu widerstehen, wieder auf seinen Sitz zurück. Auf Nachimes Antlitz zeigte sich tiefe Betrübnis.

Aber der Ton der geflüsterten Worte, ihr geistiger Eindruck mußte in die feinsten Gänge seines Gehörs gesunken sein. Nach einigen Augenblicken wachte er mit einem Male wieder auf, fuhr mit der Hand wie ein aus schönen Träumen Erweckter über die Stirne und sah mit hellen Augen um sich. Dann reckte er sich gewaltig, wie neugeboren, und seine volle Muskelkraft ward dabei erst recht sichtbar.

»Gut' Nacht alle,« sagte er mit frischem Tone. und aufrechten Ganges ging er in die Schlafkammer.

Weit ruhiger sah Nachime am andern Morgen die Einheimsung des Feldreichtums. Aus den Erschütterungen des vorigen Tages hatte sich ein Gefühl der Friedsamkeit abgeklärt; der volle Klang ihrer eigenen Seele, als sie zum ersten Male nach so langer Zeit an ihren Mann ein Wort des Mitleids gerichtet hatte, durchzitterte auch heute ihr Gemüt; er war nicht daraus geschwunden, sie war ruhiger geworden.

Nur einmal fiel sie aus dieser selbstbereiteten friedsamen Stimmung. Sie wollte wieder beten; es drängte sie heute mehr der Dank als das stürmische Bedürfnis ihres Gemütes dazu. Aber die fromme »Tochter Israels« hatte heute wunderbarerweise für sie keine Anziehung. Sie war von dem Büchlein in einer zu düstern Stunde treulos verlassen worden; es hatte sich nicht bewährt. Dafür griff sie nach dem »Sidur«, worin die täglichen Gebete standen, und nun begann sie von dem: »Wie schön sind deine Wohnungen, o Jakob!« bis zu dem: »Höre, o Israel!« Plötzlich blieben ihre Blicke auf der unten am Rande stehenden »jüdisch-deutschen Übersetzung« haften. Ohne Absicht, fast gegen ihren Willen las sie:

»Du wirst zu essen haben im Überflusse! Aber hütet euch, daß euer Herz nicht wanke und ihr abweichet, sondern Götzen dienet und euch vor ihnen anbetend neiget. Sonst würde der Zorn des Herrn über euch entflammen, er würde die Himmel verschließen, daß kein Regen komme und die Erde nicht hergäbe ihren Saft, und ihr würdet gar bald zugrunde gehen in jenem guten Lande . . .«

Weiter konnte Nachime nicht lesen, es ward ihr dunkel vor den Augen; entsetzt legte sie das Buch beiseite, sie hätte um den Preis ihres Lebens nicht fortfahren können.

»Und das Mutterkorn,« fiel das Wort ihr mit einem Male ein, das sie gestern vergebens gesucht, »und das Mutterkorn? Ist das noch nicht das Ärgste? Gibt es etwas noch Ärgeres? Kann einem noch weher geschehen? Gott, Lebendiger! Wie vielfach kann man gestraft werden?«

Nachime war nahe daran, in die krankhafte Aufregung des gestrigen Tages zu verfallen; es wirbelten und wogten die alten Geister wieder in ihr, denen sie so leicht zum Spiele werden konnte. Zum Glücke fuhr Anschel um diesen Augenblick mit einer neuen Last ein.

»Nun, Anschel,« fragte sie, »ist auch heute nichts am Getreide zu sehen?«

»Was, Mutter?« fragte er vom Wagen herab.

»Ich mein', das Mutterkorn, oder wie du's geheißen hast,« gab sie zögernd zur Antwort.

»Wo fallst du aus, Mutter,« rief Anschel erstaunt, »das Korn ist blank wie Gold, es ist nicht ein ›Fleckele‹ daran zu sehen.«

»Ich hab' nur gemeint,« sagte Nachime fast beschämt von dieser Zurechtweisung, »es könnt' aber doch sein.«

Der Tag verging ohne weitere Anfechtungen. Die Einheimsung hatte ihren ungefährdeten Gang; kein Zwischenfall trat dazwischen. Wieder ward bis spät in die Nacht an dem mühevollen Werke gefördert, es schien kein Ende zu nehmen. Matt und zerschlagen kehrten sie zurück, verschmähten die Abendkost und suchten sogleich die Ruhe auf.

Der nächste Morgen war ein Freitag. Nachime hatte sich in aller Frühe vorgenommen, den Sabbat diesmal in alter Weise, wie in der »Gasse« zu begehen. Die Ernte war unter Dach und Fach, so sollten denn alle einmal wieder wissen, worin das Duftendsüße eines solchen Sabbats bestehe. Sie dachte dabei nicht an Kochen und Backen allein – ein anderes regte sich in ihrer Seele, das sie nicht abweisen konnte, das immer wiederkam, sobald sie es verscheucht hatte. Sie war es sich bewußt, ein Sabbat mit dem besten »Kochen und Backen« wäre nichts, wenn sie sich nicht als die »alte« Nachime dabei zeigte; es dämmerte in ihr etwas wie Vergessenheit des Früheren, wie Versöhnung auf.

Mit freudiger Lust ging sie diesmal an ihr Werk. In aller Frühe hatte sie die Magd mit Gänsen und Hühnern zu dem Schlächter geschickt, der mehrere Stunden fern von ihnen in einem Dorfe wohnte. Fisch und Backwerk wollte sie mit eigenen Händen bereiten. Sie wollte ihnen allen zeigen, daß sie auch in diesem Punkte wieder die alte Nachime geworden war. Für die Krone des morgigen Sabbats aber hatte sie ein mit »Weinbeeren und Rosinen« voll besäetes »Barches« (weißes Brot) ausersehen; wenn Mann und Kinder davon kosten würden, meinte sie im gerechten Stolze auf ihre Kunst, so sollte es ihnen auf der Zunge »schmelzen«, und sie mußten dann gestehen: »Das kann nur eine Nachime.«

Mitten unter diesen Vorbereitungen schreckte sie plötzlich eine Frage Tilles auf.

»Mutter, warum wartest du nicht lieber mit so einem Sabbat?«

»Warum soll ich warten?« entgegnete Nachime, »so einer kommt nicht sobald. Alles ist herein, wenigstens die Hauptsache, das Korn.«

»Meinst du?« sagte das Kind nach einer Weile. »Mir hat gestern in der Nacht Anschel gesagt, sie werden heut' kaum fertig werden. Das Korn wird dann geschnitten zwei Tage lang auf dem Felde liegen bleiben, und da weiß man nicht, ob ihm das nicht schadet. Es kann ja unterdes regnen und hageln.«

»Warum sagst du zwei Tage?« meinte Nachime, deren Kopf sich zu verwirren begann.

»Morgen ist Sabbat,« sagte Tille, »und übermorgen ist Sonntag. Da darf man auch nichts arbeiten.«

»Und sie können heute nicht fertig werden?« fragte Nachime tonlos.

»Wenn sie in den Sabbat hinein arbeiten wollen, ja,« sagte das Kind, »sonst nicht.«

»Und was werden sie tun?« fragte Nachime nach einer Pause schwer aufatmend, als fürchtete sie zu viel gefragt zu haben.

»Ich weiß nicht, Mutter,« sagte Tille leise.

Das wollte Nachime jedoch nicht glauben; sie bestand darauf, Tille müsse mehr wissen, als sie sagen wolle. Das Kind beteuerte aber bei allem, was ihm heilig sei, nichts zu wissen, als was ihm Anschel gesagt habe.

»Und . . . meinst du, sie werden es tun?« fragte Nachime wieder und sah Tille mit einem forschenden Blicke an, der in das Innerste dieser Kindesseele dringen sollte.

»Ich weiß nicht,« wiederholte das Kind.

»Bestimmt werden sie es tun,« rief nun Nachime mit überquellender Heftigkeit. »Was liegt deinem Vater daran, daß er das Haus versündigt, was liegt ihm am Schabbes? Das ist wieder so etwas, was nur ihm ähnlich sieht. Er wird auf seinem harten Kopf bestehen und in den Schabbes hineinarbeiten lassen. Was liegt ihm daran? Dann soll man hören, was man von Nachime Hahn und ihrem Haus alles in der ›Gasse‹ ausrufen wird; die Augen werden wir nicht aufheben dürfen vor den Leuten, und anspeien werden sie uns!«

Mit steigender Verwunderung hatte das Kind die zornigen Ausbrüche der Mutter vernommen.

»Mutter,« rief sie, »haben sie es denn schon getan?«

»Deinem Vater sieht alles ähnlich,« schrie sie darauf, »nach dessen Kopf soll auch der heilige Schabbes tanzen.«

Tille schwieg; sie sah das nutzlose Bemühen ein, in die Aufregung der Mutter mit einem beschwichtigenden Worte einzugreifen. Merkwürdig war es aber für sie, als sie bemerkte, daß die Mutter trotz ihres Zornes in den Vorbereitungen für den Sabbat sich nicht unterbrach; ja, daß sie im Gegenteil mit einer Art Gier sie fortsetzte. Was bedeutete das? Das scharfblickende Kind konnte den Zusammenhang zwischen Wort und Tat nicht finden; es verstand die Mutter nicht.

Aber auch Nachime verstand sich selbst nicht. Nachdem sich die stürmische Aufregung gelegt, mußte sie sich fragen: »Weißt du denn, ob sie es tun werden? Ob sie gar daran denken? Was fährst du auf wie ein wild' Tier?«

Diese Fragen bildeten dann einen leichten Übergang zu anderen schwereren und inhaltsvolleren. Sie dachte sie nicht laut; sie wollte sie nicht einmal denken; aber wie aufgeschreckte Bienen umschwärmten sie ihre Seele, sie mochte hingehen, wo sie wollte. Verräterisch kamen sie aus ihren geheimsten Verstecken, richteten sich in die Höhe und ließen nun nicht mehr von ihr ab.

»Zwei Tage soll das Korn ungeschnitten auf dem Felde liegen bleiben? verfaulen und verwittern? Will das Gott?« So lauteten die ersten diese Fragen. »Nein, das kann Gott nicht wollen,« antwortete sie sich selbst, »wegen zwei oder drei Stunden später ›Schabbes‹ machen – konnten sich ja die Menschen nicht an ihrem Gute und Habe schaden? Wovon sollten sie leben? Konnten sie von bloßer Luft sich ernähren?«

Anfangs drängte Nachime diese Antworten gewaltsam in sich zurück; aber sie hätte die Kraft eines Riesen besitzen müssen, um sie festzubannen. Die zwei arbeitslosen Tage, das faulende Korn auf dem Felde verließen sie nicht mehr; ihnen zum Trotze, davon war sie überzeugt, werde es in diesen zwei Tagen regnen und hageln, daß man meinen werde, die Erde gehe zugrunde. Sollte man nicht zuvor retten, was zu retten war?

Dabei kam ihr eine Erinnerung aus der Kindheit zu Hilfe. Am heiligen Jom Kippur brannte es einmal in der »Gasse«. Heulend verkündeten die Sturmglocken den Ausbruch des furchtbaren Elementes. Da stürzten die Leute, »so wie sie waren,« mitten aus dem Gebete, in ihren weißen Sterbekitteln zur Brandstätte und legten Hand an die verderbliche Glut. Was die Leute damals am heiligen Jom Kippur getan, um nicht das Ihrige zu gefährden, war das nicht auch für sie angezeigt? War das Ihre weniger gefährdet?

Dann klammerte sie sich an den Sonntag. Wenn man am Sabbat nicht arbeiten dürfe, murrte sie, so sei das gut. Gott wolle es so. Aber warum am Sonntag feiern? Habe der jüdische Bauer so viel, daß er mit einem Tage so verschwenderisch umgehen könne? Das sei unerhört und da solle der Kaiser eine Änderung treffen, wenn er wolle, daß es jüdische Bauern gebe! . . .

Ein Umstand war es besonders, der diesen Fragen und Zweifeln beständige Nahrung gab. Anschel kam heute nicht nach Hause, Wojtech oder ein anderer der Knechte geleitete die Feldlast in die Scheuern. Sie hätte sich ja so gern mit ihm ausgeredet. Vielleicht hätte er sie eines Besseren belehren können! Dennoch wagte sie nicht, den Knecht zu fragen, was draußen auf dem Felde vorgehe; vielleicht hätte sie Antworten vernommen, die sie nicht hören wollte – und wieder, wenn sie fragte: Wird man heute fertig? »Ja, spät in der Nacht!« gehört.

Um die späten Nachmittagsstunden war sie mit dem »Sabbatmachen« bereits fertig. Sie selbst drehte heute die Dochte für die Lampe, sie selbst breitete das weiße Linnen auf den Tisch; sie vermied jede Dienstleistung Tilles, wo sie nur konnte. Sie tat aber alles mit Hast, nichts mit jener weihevollen Bedächtigkeit, mit der sie sonst den Sabbat bereitete. Der Abend war bereits niedergesunken; Nachime sah auf die Uhr; sie zeigte ihr, es sei hohe Zeit zum »Entzünden« der Lampe. Der Sabbat war da. Dennoch zögerte Nachime damit. Wollte sie sich selber täuschen? Glaubte sie dadurch den Sabbat, dessen Gegenwart sie in den feinsten Nerven ihres Lebens empfand, hinausgerückt zu haben?

An einen Trost, wie schwach er ihr auch selbst vorkam, klammerte sie sich in solchen Augenblicken. Auch Elieh war noch nicht zurückgekehrt. Wenn er draußen bleiben konnte, so war ja der Sabbat noch nicht entweiht worden. Als sie nach einiger Zeit wieder auf die Uhr und hinaus in die Abenddämmerung sah, verbarg sie sich nicht länger, daß der Sabbat mit aller Macht angebrochen war; sie vermochte nicht mehr ihn wegzuleugnen. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Lichte, womit sie die Lampe anzünden wollte, und an der ersten Zinke leuchtete schon die zuckende Flamme . . .

Da trat Elieh mit dem Vetter Koppel ein.

»Gut' Schabbes, Mutter!« grüßte er beim Eintritt.

Nachime erschrak so sehr, daß ihr der übliche Gegengruß auf den Lippen erstarb; aber gleich darauf fuhr sie mit dem Lichte so schnell an den Zinken der Lampe vorüber, daß in einem Nu von allen die Flamme leuchtete.

»Bist du heute so spät fertig geworden, Mutter, daß du dem Schabbes ein Stück Leben abgeschnitten hast?« fragte Elieh darauf mit jener tonlosen Stimme, die gerade jetzt Nachime bis ans Herz drang.

»Sie sind ja auch noch nicht zurück,« bemerkte Nachime schwer atmend.

»Wenn du auf die mit dem Schabbes warten willst, Mutter,« sagte Elieh in der früheren Weise, »so wirst du noch lange warten.«

»Ich hab's ihnen nicht geheißen, sie sollen so lange arbeiten,« meinte Nachime achselzuckend, »mich geht's nichts an.«

Kaum hatte sie diese Selbstentschuldigung ausgesprochen, als es sie eiskalt vom Rückenwirbel bis zur Zehe überfuhr. Sie hatte nicht nur eine Unwahrheit gesagt, sie hatte auch auf andere eine Anklage gewälzt, die ebensogut sie selbst traf. »Was geht's mich an?« hatte sie geheuchelt! Es ging sie also nichts an, daß in ihrem Hause die Sünde der Sabbatentweihung begangen werden konnte, ohne daß sie sich dagegen mit Leib und Seele stemmte. Wozu war sie denn da? Es war ihr in der Stube zu eng geworden. Elieh hatte das Abendgebet für den Sabbat begonnen; jedes Wort der heiligen Sprache, das lauter über seine Lippen drang, grub sich wie mit Widerhaken in ihr Herz; das Gebet erschien ihr wie ein Vorwurf, sie vermochte es nicht anzuhören. Sie verließ die Stube und begab sich in die Küche. Aber auch hier duldete es sie nicht lange. Der Duft der Speisen, das Festliche des Sabbatschmuckes tat ihr nicht wohl. Sie ging von da in den Hof, sah eine Weile den Knechten zu, die eine soeben angelangte Garbenlast in die Scheuer schafften. Vom Hof ging sie auf die Gasse hinaus. Wollte sie ihnen entgegengehen? sie zur Eile mahnen? Aber der Sabbat war ja schon entweiht, was tat jetzt eine Stunde mehr oder weniger? Es kam ja nicht mehr darauf an, daß sie zurückkamen. Was wollte sie also?

Eilig ging sie wieder zurück; aber bei jedem Schritte, den sie vorwärts tat, blickte sie hinter sich. Kamen sie doch? Sie lauschte. Überall im Dorfe war Ruhe; alle Arbeit hatte aufgehört; kein Hoftor stand mehr offen. Nur bei ihr allein war keine Ruhe; weit offen standen die Torflügel, um noch in später Nachtstunde die Mühe des Tages, den Schweiß der Arbeit zu empfangen. Ruhelos war nur des Juden Haus. »Und ich soll eine Bäuerin sein?« überkam sie wieder das Weh der ersten Tage, »und mein Mann will ein Bauer sein. Da soll man nur hersehen, ob das geht! Am Schabbes hat man nicht genug, es muß auch noch ›ihr‹ Sonntag dazu kommen! Wenn das Getreide auf dem Felde fault, wenn alles zugrunde gerichtet wird, weil man sonst den Sabbat und ›ihren‹ Sonntag entweiht, . . . da soll ich eine Bäuerin sein? Er hat's ja nicht glauben wollen.«

Sie kam wieder in den Hof zurück; die Nacht war völlig herabgesunken. Als sie hereintrat, hörte sie, wie Vetter Koppel zu jemandem sagte:

»Und du wirst sehen, ich krieg' ihn doch.«

»Wieso, Vetter?« hörte sie Tille fragen.

»Ich geh' selber in den dicken Wald,« antwortete dieser.

Wie vom Blitz getroffen stand sie unter dem Eindrucke dieser Worte. Die dunkle Drohung des kindischen alten Mannes trat mit einem Male mit allen Schauern an sie heran. »Das auch noch!« rief es in ihr entsetzensvoll. Eiligst ging sie wieder auf die Gasse hinaus; es schien ihr, der Vetter folge nach. Aber weiter zu gehen vermochte sie nicht; der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. Angelehnt an ihr Haus stand sie wohl eine halbe Stunde lang. Was ging nicht an ihrem äußeren und inneren Gesichte vorüber! Der ganze Jammer einer Menschenseele, das volle Weh der Sünde hatte sie erfaßt; nicht der kleinste Stachel ward ihr geschenkt!

Von der Dorfkirche hatte die Luft schon eine geraume Weile die zehnte Nachtstunde an ihr Ohr getragen, als sie fernes Wagengerassel und Peitschenknall vernahm. Sie horchte auf; es kam immer näher. Kamen sie endlich? Was sollte sie ihnen sagen, wie sie empfangen? Das befiel sie jetzt mit stürmischer Gewalt. Sollte sie ihnen gar nichts sagen? Nicht ein Wort des Zornes, der Entrüstung über die freche Entweihung des Sabbats entgegenrufen?

Durch die Nacht hindurch sah sie eine dunkle Masse immer näher auf sich zukommen.

Nur das eine war ihr in diesem Augenblicke klar; sie durfte sie nicht draußen vor dem Tore erwarten; in der Stube, am weißen Linnen des Tisches, im Lichte der siebenzinkigen Lampe, da war ihre Stelle. Was sie ferner tun wolle, dessen war sie sich nicht bewußt. Es war kein Zorn in ihr, eher Bangigkeit und ahnungsvolles Grauen. Was sie dachte, vollführte sie schnell. Sie saß schon eine geraume Weile in der Stube, im vollen Scheine der Lampe, als der schwerbelastete Wagen durch das Hoftor einfuhr.


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