Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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2. Die Auswanderer werden bewillkommt.

Es war Nacht geworden, als unsere Auswanderer in die neue Heimat einfuhren. Jenes Tröpfchen, das am frühen Morgen eine so bedeutungsvolle Unterredung zwischen dem ehemaligen Anhänger Absaloms und Tille herbeigeführt, hatte sich im Laufe des Tages in einen feinen Regen aufgelöst, der den Weg verdarb und in den Seelen der Dahinziehenden eine trübe Stimmung bereitete. Keiner sagte es sich, aber allen war es, als ob sie Wochen bereits die endlose Straße des Weltmeeres zögen, über ihrem Haupte grauer Himmel und unter sich das wogende, falsche Element, und sonst gar nichts, weder zur Rechten noch zur Linken. Während der ganzen Fahrt war wenig gesprochen worden; keiner fand das gehörige Wort, das imstande gewesen wäre, die bitterböse Laune auf nur eine Viertelstunde zu bannen. Denn an allen nagte, in allen tönte noch der Schrei, der am Morgen aus Nachimes Brust gekommen. Und sie selbst, die in so unvermuteter Weise plötzlich in den Vordergrund der Familie getreten war, sie selbst saß den ganzen Tag schweigend auf dem schlechten Sitze des knarrenden Fuhrwerkes, ließ ihr Antlitz von dem feinen Regen benetzen und wischte die Tropfen nicht ab, daß es fast tränenüberschwemmt aussah. Mann und Kinder hatten sich vom Wagen herabbegeben, »weil es sich besser gehe«, wie sie sagten, vielleicht aber, weil sie nicht unterscheiden konnten: waren es Tränen? waren es Regentropfen, die auf Nachimes Antlitz glänzten. Sie wußten aber nicht, daß Nachime nicht weinen konnte!

Welche Schauer kamen über sie, als plötzlich gegen Abend aus Rebb Schlomes Munde der Ruf erscholl: »Jetzt! Jetzt! es kommt noch ein kleiner Berg, dann sind wir dort!« Wie zitterte und bebte sie und mußte sich krampfhaft an ihren Sitz halten, als auch dieser »Berg« überstiegen war, und nun mit einem Male das Dorf, in abendliche Regenschauer eingehüllt, vor ihren Augen dalag.

»Wo ist unser Haus?« schrie Tille und wollte schier vom Wagen herabspringen. Sie bog sich aber so weit vorwärts, daß sie mit dem Arm an Vetter Koppels Misrach stieß, daß er klirrend auf den Boden fiel und im Dunkel nicht zu finden war. Der Alte wimmerte und klagte, daß Tille ihm das »mit Fleiß« getan habe; schon lange könne sie seinen Misrach nicht ausstehen. Aber es sei ausgemacht, wenn man den Misrach nicht finde, so gehe er nicht mit, und auf der offenen Straße wolle er bleiben, sie könnten mit ihm machen, was sie wollten.

Anschel suchte am Boden umher und fand endlich die zum Glück unversehrt gebliebene Reliquie unter den Rädern des Wagens; nun war Vetter Koppel augenblicklich beschwichtigt.

»Und jetzt seid alle still,« gebot Rebb Schlome, »und bleibt alle auf dem Wagen. Muß man denn gleich wissen, daß Juden ins Dorf einziehen? Auch soll es nicht aussehen, als kämen Bettler herein.«

Nur unwillig folgte Anschel diesem Machtgebot; er wäre gern vorausgelaufen, hätte die Schwelle der neuen Heimat als der erste betreten, um die andern zu empfangen. In Nachime aber tönte eine unausgesprochene Frage. »Schämt er sich vielleicht, daß er ein Jud' ist? Ist ein Bauer vielleicht etwas Besseres?«

Sie saßen nun alle auf, und das Fuhrwerk bewegte sich knarrend vorwärts. Schon traten die ersten Häuser des Dorfes aus dem Nachtdunkel hervor, Lichter wurden sichtbar, die auf und nieder tanzten. Plötzlich knallte hart am Wege ein Schuß auf, und in demselben Augenblicke huschte eine dunkle Gestalt über die Straße und floh eiligst gegen das Dorf zu.

»Um Gottes willen, was ist das?« rief es wie aus einem Munde.

Anschel wollte rasch vom Wagen, aber mit übermenschlicher Gewalt hielt ihn die Mutter zurück.

»Wenn dir deiner Mutter Leben teuer ist,« rief sie, »so geh nicht herunter, du gehst in den Tod. Sie wollen uns alle totschlagen, weil wir im Dorfe wohnen wollen.«

»Sei kein Kind, Nachime,« sagte Rebb Schlome, wiewohl auch ihn die Furcht überkommen hatte, »was werden sie denn von uns wollen?«

Die vom Schusse erschreckten Pferde waren stehen geblieben; auf den kräftigen Zuruf des Fuhrmannes zogen sie wieder an; aber schon nach den ersten zehn Schritten hielten sie an; es war, als bannte sie etwas, das sie nicht vorwärts ließ. Dunkles Gewürm schien unheimlich am Boden zu kriechen; bald in dichten Ballen, bald auseinander sich ringelnd. In den Gebüschen seitwärts an der Straße schien ein eigentümliches Leben wach geworden zu sein; flüsternde Stimmen raunten sich etwas zu, was unverstanden zu den Ohren der Erschrockenen gelangte; dazwischen war es, als kicherten einige hie und da, die nicht zu beschwichtigen waren. Mit einem Male ging dieses Flüstern und Kichern in lautes Singen über; erst leise, dann allmählich anschwellend, gewann der wüste Chor, der aus hundert Kehlen zu kommen schien, Melodie und Bedeutung, bis man endlich den Text des Gesungenen genau begriff.

Nach der Melodie eines damals weitverbreiteten Gassenhauers auf eine Persönlichkeit, die in der Frankfurter Paulskirche mit tagte, klang es:

»Jüdlein schrieb uns einen Brief,
Drinnen steht geschrieben:
Wohnen will ich jetzt bei euch,
Denn ich bin durchtrieben.
Feld und Acker, die sind mein,
Möcht' ein Bauer werden –
Nirgends hat man's besser jetzt
Wie auf der grünen Erden.«

Ein donnerndes Gelächter folgte dem Absingen dieses Liedes, dessen Dichter sich wahrscheinlich mit unter den Sängern befand. Aufhorchend, in namenloser Verwirrung, ließen unsere Auswanderer den Strom über sich ergehen. Galt das ihnen? War es Spott, was sie da vernommen? Und was sollte noch folgen? – Als das Gelächter allmählich verklungen war, schien der ganze Spuk verschwunden; in den Gebüschen war es stille geworden; es mußte alles wie auf ein verabredetes Zeichen geschehen sein.

»Was sagst du dazu, Vater?« rief Anschel, der, der Erste von allen, die nötige Fassung erlangt hatte. »Soll ich ihnen nach?«

»Nicht, nicht, um Gottes willen nicht,« schrie Nachime, »sie schlagen dich tot. Hast du denn nicht gehört?«

»Ich hab' nichts gehört,« sprach Rebb Schlome dumpf vor sich hin. »Muß das uns angehen, was sie da gesungen haben?«

»Der Vater hat recht,« sagte Anschel, »das kann uns nichts angehen.«

»Und haben wir ihnen denn schon etwas gemacht?« wagte Tille dreinzusprechen.

»Es wird vergehen,« tröstete Rebb Schlome kurz. »Was können sie denn von uns wollen? Hab' ich Feld und Haus nicht um bares Geld gekauft? Hab' ich's gestohlen?«

Aber es »verging« nicht. Aus weiterer Ferne erschollen aufs neue die Lachgeister, und der wüste Chor schien die Stimmen zu einer Fortsetzung des frühern Gesanges zu sammeln. Deutlich vernahmen sie jetzt, nach einer andern Melodie folgende Worte:

»Jud' und Bauer gehören zusammen!
Klug sind beide und gewitzt;
Früher hat der Jud' dem Bauer
Den letzten Kreuzer wegstipitzt,
Doch gekommen ist die Freiheit ins Reich,
Und sie sind uns jetzt alle gleich:
    Der Jud' und der Bauer
    Der Fürst und der Graf
    Und der dicke Pfaff'!
Aber jetzt sind wir alle gleich.«

»Das ist kein Spott,« rief Tille freudig, nachdem auch diese Strophe vorüber, »habt ihr nicht gehört, daß wir jetzt alle gleich sind?«

Rebb Schlome schien derselben Ansicht zu sein; denn im Wagen hochaufgerichtet schrie er aus Leibeskräften gegen die Seite, woher der Gesang gekommen:

»Wir sind jetzt alle Brüder! kommt her, damit wir uns kennen.«

Nachime bat ihn aber mit hochaufgehobenen Händen zu schweigen, es sei alles verloren, wenn man das wilde Volk noch herbeirufe; wenn Gott sie heute beim Leben lasse, wolle sie an diese Nacht denken; so etwas sei noch keinem Judenkind zugekommen.

Mitten in diesen Klagen wurde sie plötzlich durch einen grellen Schein unterbrochen, der auf ihr Antlitz fiel. Nachime schrie auf, denn so rasch war die Beleuchtung auf ihr Auge gefallen, daß sie darin einen Schmerz empfand, als hätte jemand mit einem spitzen Instrument hineingestochen.

»Es brennt!« rief Anschel, »es brennt!«

»Wo, wo?« schrie Rebb Schlome entsetzt, – »doch nicht in unserm –«

Er hatte das Wort nicht ausgesprochen, als Nachime, das todblasse Antlitz von dem Flammenscheine, der auf dem Dorfe hervorkam, angeleuchtet, mit grauenvoller Stimme rief:

»Wo denn anders als in unserm Hause! Gott! Lebendiger im siebenten Himmel! Sie haben's angesteckt von oben bis unten. und alles ist verloren und alles ist aufgegangen. Jetzt kann man nur gleich zum Bettelsack greifen!«

Der Brandschein schien jetzt eine ungeheure Ausdehnung gewonnen zu haben; so weit das Auge reichen konnte, war der Himmel in die gelbroten Farben des furchtbaren Elementes getaucht. Dieser Anblick machte allen das Herz erstarren. Wie von einem Zauber festgebannt, starrten sie nach dem einen Punkte hin, wo in diesem Momente ihr Hab und Gut, ihre Gegenwart und Zukunft zu Asche verglühte und verkohlte.

»Gott, Allmächtiger!« rang es sich endlich aus der Brust Rebb Schlomes hervor.

»Stürmen sie denn?« fragte eine weinerliche Stimme aus dem Wagen; sie kam vom Vetter Koppel.

Anschel hatte bis dahin wie ein Träumender in das fürchterliche Schauspiel geblickt; diese Frage des kindischen Vetters aber ließ ihn aus dem dumpfen Brüten erwachen; sein Haar sträubte sich ihm empor, und eine Eiskälte hatte ihn befallen, daß er umzufallen glaubte.

»Sie stürmen nicht,« sagte er, indes seine Zähne vor Frost klapperten; »kein Federl regt sich in der Luft. Gewiß, gewiß haben sie die Glockenstränge abgeschnitten und die Spritzen vernagelt.«

Eine Weile darauf schrie er aber mit weithin schallender Stimme:

»Sie sollen's nicht umsonst getan haben, das schwöre ich ihnen zu.«

»Was willst du tun?« rief Nachime entsetzt.

»Bleibt, bleibt alle zurück,« schrie er atemlos, »ich geh' ins Dorf, ich will sehen, ob noch etwas zu retten ist . . . und wenn nicht . . .«

Umsonst hallte der Ruf der Mutter dem Dahineilenden nach; er hörte ihn nicht. Mit beflügelten Schritten eilte er vorwärts; jetzt war er um die Biegung der Gasse gekommen, die ins Dorf führt. Ein dunkler Schatten glitt hinter ihm; nun war er verschwunden.

Nachime hatte ihr Antlitz verhüllt, sie wollte die auflohende Flamme nicht sehen, in die jetzt nach ihrer Meinung der verkohlte Körper ihres geliebten Kindes fallen mußte. Wohin war er? Konnte er denn zurückkehren aus der Mitte jener Unmenschen, die ihnen Hab und Gut angezündet und ihrem Leben auf der Straße auflauerten?

»Es kann ihm ja gar nichts geschehen, Nachime . . .,« sagte mit einem Male Vetter Koppel, und erhob sich vom Wagen, »ich hab' ja noch meinen ›Mogen Dovid‹ bei mir, und so lange der bei mir ist, kann ihm ja gar nichts zustoßen.«

Fast als wollte er das alte Bild als eine Abwehr und Bannung gegen alle möglichen Gefahren, die Anschel bedräuen konnten, gebrauchen, hielt er den Schild König Davids hoch über seinem Haupt und rief gegen das Dorf und den flammengeröteten Himmel:

»Tut ihm nichts, tut ihm nichts! . . . Ich, Koppel, sag's – im Namen König Davids, befehle ich euch: Tut ihm nichts.«

Während sie auf das wunderliche Treiben des Alten schauten, hatte Nachime nicht bemerkt, daß sich ein zweites Kind aus ihrer Nähe losgerissen hatte.

Der Bocher hatte den Weg seines Bruders eingeschlagen.


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