Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

In der im vorigen Kapitel beschriebenen Gemüthslage war der Held unsrer Geschichte noch, als seine Schwägerin, die Gräfin von Storrmann, mit ihrer Familie nach *** kam, um daselbst ihrem einzigen Sohne die Blattern einimpfen zu lassen. Diese würdige Frau erfüllte alle Pflichten der treuesten Hausmutter und ließ sich die Erziehung sowohl dieses einzigen Sohns als ihrer drey Töchter äußerst angelegen seyn. Seelberg, der vorher von ihr war benachrichtigt worden, eilte zu ihr hin, sobald sie angekommen war, trug alles dazu bey, ihr den Aufenthalt in *** angenehm zu machen, und besuchte sie täglich. Er hatte sich in ein ziemlich einsames Leben zurückgezogen, aber wir wissen doch, daß er deswegen die Menschen nicht haßte, sondern vielmehr, daß sein inneres Gefühl von Wohlwollen und Mittheilung unaufhörlich gegen die rauhe Theorie, die er in Oberschirms Schule studiert hatte, kämpfte. Der Umgang mit der liebenswürdigen Storrmannschen Familie und der Anblick reiner, häuslicher Glückseligkeit thaten daher seinem Herzen wohl; auch fand von der andern Seite die Gräfin an ihres Schwagers Gegenwart sehr viel Vergnügen. Sein Verstand war durch so vielfache Erfahrungen sehr gebildet, sein Blick geschärft worden; er hatte viel Kenntnisse in verschiedenen Fächern eingesammlet; sein Umgang war leicht, unterhaltend und gefällig; seine Sitten waren geschliffen, und mitten durch eine gewisse Originalität, Bizarrerie und durch den systematischen Egoismus, den er von Oberschirm angenommen hatte, blickte doch oft ein so weiches, warmes Herz aus ihm hervor, daß man sich in der That nicht enthalten konnte, ihn zu lieben und sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Gewährte nun der Gräfin Storrmann die Gesellschaft ihres Schwagers Vergnügen, so schöpfte doch Dieser aus der ihrigen noch weit mehr und wesentlichern Nutzen. Gespräche unter Menschen von Kopf und Herz bleiben nicht lange auf leeren Gegenständen und auf den Alltagsmärchen haften, auf deren Angeln der Jargon des großen Haufens Jahre lang sich umdreht. Die liebenswürdige und verständige Frau und unser Philosoph redeten daher bald von interessantern Dingen: von wahrem Glück in dieser Welt, von Seelenfrieden, von dem, was man sich und Andern schuldig ist, von echter Philosophie des Lebens, und was sie sagte, war Balsam für sein Herz. Es schien diesem vortrefflichen Weibe vorbehalten, die Erziehung unsers Mannes zu vollenden, ihm Heiterkeit und dauerhafte Ruhe zu verschaffen, seine Grundsätze mit seinen Gefühlen auszusöhnen und ihm für den Rest seines Lebens eine unwandelbar selige, genußvolle Existenz zuzusichern. Dies gelung ihr nach und nach in vielfachen Unterredungen, in welchen sie ihn auf die liebreichste, bescheidenste und behutsamste Art zurechtwies, mit sanfter Hand und aus ihrer engelreinen Seele Trost und Heiterkeit in sein Gemüth senkte. Möchte jeder steife Philosoph eine so herrliche Wegweiserin haben! Der Rath eines weisen und tugendhaften Weibes wäre so Manchem von diesen überklugen Herrn heilsam – Doch ich will einige der freundlichen Gründe, deren sich die Gräfin bediente, hierhersetzen.

»Ihr System«, sagte sie unter anderm, »Ihr System von Freiheit und Unabhängigkeit von allem, was Vorurtheil und unnützer Zwang ist, Ihr Bestreben, nie die sichre Hand der leitenden gesunden Vernunft fahren zu lassen, Ihr Begriff von der strengen Gerechtigkeit, welche im Grunde alle übrigen Tugenden in sich schließt – Das alles ist wohl unwiderleglich wahr, und wenn es einen Menschen in der Welt gibt, der ganz und immer nach diesem Systeme handeln kann, so zweifle ich nicht, daß dieser Mann eine große Summe isolierter Glückseligkeit schmeckt und daß er auch positiv nie die Glückseligkeit Andrer stören wird, so wie der Mann, welcher sich in vier Wänden einschließt und niemand vor sich läßt, weder Gefahr läuft, auf der Landstraße angefallen noch gereizt zu werden, Andre anzufallen. Allein, mein lieber Bruder! eben gegen jene Vordersätze und gegen verschiedene entferntere Folgerungen, die man daraus ziehn kann, habe ich sehr viel zu erinnern. Ich glaube zuerst nicht, daß ein Mensch in der Welt existiere, der so sehr Meister über seine unwillkürlichen Gefühle, Leidenschaften, Triebe, Anreizungen, Schwächen seines Körpers und so sehr von allen möglichen Vorurtheilen frey wäre, daß er immer gleich richtig und kalt kalkulieren, seine Vernunft zu jeder Zeit lauter und ungetrübt erhalten, stets aus dem Kopfe unpartheiisch handeln könnte, ohne je von Menschlichkeit – denn ach! ich möchte es doch nicht gern Schwachheit nennen – unwillkürlich hingezogen zu werden zu einem Gegenstande, der nicht in das System gehörte. Und diese Möglichkeit gleichwohl angenommen, so zweifle ich dennoch, ob ein solcher Mensch alsdann wirklich dem Aufrufe der menschlichen Natur gehörig folgte, seine Bestimmung erfüllte, und ob es genug wäre auf dieser Erde, wenn man nur isoliert glücklich für sich lebte und nie fremde Ruhe störte. Freilich hätte man dann mehr gethan als unzählige andre Menschen; aber hätte man auch schon alles gethan, wozu der Schöpfer uns mit Geist und Körper ausgestattet, die er nicht umsonst so innig miteinander vereinigt, nicht umsonst unsern Nerven Reizbarkeit und unserm Blute Wärme gegeben hat? O! es gibt Freuden der Fantasie, die ich um alle Schätze der Welt mir nicht wollte wegraisonnieren lassen; ja! es gibt dergleichen, die unsrer Vernunft höheren Schwung geben, die uns fähig machen, auszudauern, Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten zu ertragen, nicht muthlos zu werden, große Handlungen zu begehen, deren Erfolg zwar nicht klar vor Augen liegt, wovon aber auch der wahrscheinliche Erfolg verdient, daß wir etwas daran wagen, indes der kalte Kalkulator die sichre Ungemächlichkeit und mögliche Verdrießlichkeit gegen den unendlich großen, aber ungewissen Nutzen abwiegt und also lieber diesen aufopfert. Mich, mein bester Bruder! hat es nie gereuet, wenn ich in der Aufwallung eines zu warmen Herzens etwas zum Vortheile meiner Nebenmenschen gethan hatte, war auch die Wirkung meiner Bemühungen nicht meinen Wünschen gemäß, wurde ich auch mit Undank belohnt oder verkannt – ich schlief dann doch ruhiger als in der Nacht nach einem Tage, an welchem ich eine Veranlassung, nützlich zu seyn, von mir geschoben hatte aus Furcht, mich in irgendeine Art von Verlegenheit zu setzen – Sey es immer Schwäche! aber ich will wahrlich lieber eigene Freude entbehren, wenn ich nur Andre glücklich machen kann. Es ist wahr, ich leide durch fremden Kummer oft mehr als durch eigene Widerwärtigkeiten; aber wie herzlich kann ich mich auch dagegen nicht freuen mit den Fröhlichen! Wenn man immer strenge ausrechnen will, ob man nicht die Pflichten der Gerechtigkeit gegen sich und die Seinigen übertritt, indem man für Andre sorgt, so fürchte ich, man wird zuletzt finden, daß alles, was nur zu erlangen ist, für unser liebes Ich muß herbeigeschafft werden, daß niemand unsre Sorgfalt verdient als wir und unsre Familie, und ich dächte doch, das führte dann zu dem der Gesellschaft so schädlichen Egoismus, zum Geize und vielleicht zu manchem andern Laster. Gewiß ist uns die Vernunft zugeordnet, um sie als Leiterin unsrer Gefühle zu Rathe zu ziehn; aber auch diese Gefühle haben wir doch wohl nicht umsonst. Sie scheinen uns gegeben zu seyn, damit die Dinge außer uns darauf wirken sollen, um uns hinzuziehn mit Liebe und Verlangen zu Gegenständen, die unsrer Aufmerksamkeit, unsrer Sorgfalt werth sind. Gestehen Sie es, mein Freund! ob nicht im Grunde Ihr System die edelsten Gefühle der Menschheit, die der Gegenstand des Lobes der Weisesten in allen Zeitaltern gewesen sind, ob es nicht Liebe, Freundschaft, Mitleiden, Enthusiasmus, Vaterlandsliebe, warme Gottesverehrung, Dankbarkeit und alle kleinen Freuden des Lebens, alle unschuldigen Ergötzlichkeiten, die keinen ernsthaften Zweck haben, ausschließt? Freilich ist es mir erlaubt, jemand die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihn hochzuschätzen; aber mit ganzem Herzen mich an ihn zu hängen, das darf ich nicht. Ich darf mich nicht grämen, wenn mein treuer Gatte stirbt, denn es gibt ja noch andre Menschen in der Welt, die ebensoviel werth sind als er, der Tod ist ein Grundgesetz der Natur, und Kummer schadet meiner Gesundheit. Ich darf dem Manne nicht danken, der mir Leben, Ehre oder Vermögen gerettet hat, denn er beförderte ja sein eigenes Vergnügen, indem er mir diente, that seine Pflicht, im Fall ich seiner Hilfe würdig war, oder handelte strafbar, wenn ich dieselbe nicht verdiente. Ich darf dem lieben Gott die Gerechtigkeit widerfahren lassen, einzusehn, daß er das allervollkommenste Wesen ist, aber ich darf nicht mit warmer Fantasie mich ahnungsvoll zu ihm hinaufschwingen, nicht mit gerührtem Herzen ihn mir gegenwärtig denken und dann mein Anliegen im andächtigen schmerzlindernden Gebete ihm vortragen – Kurz! alles was das Leben unter Menschen süß, angenehm und leicht macht, das wird da wegphilosophiert, alle schönen Künste, alle unschuldigen Freuden und Spiele verbannt – Lieber Gott! gibt es denn keinen Mittelweg zwischen dem Mißbrauche und dem mäßigen, vorsichtigen Genüsse wahrer und eingebildeter Güter? Und setzen Sie nun den Fall, ein feindseliges Schicksal verfolgte Sie – Zwar behaupten Sie, ein Mann von so festen Grundsätzen könne nie unglücklich werden – Aber können nicht körperliche Leiden, ein Armbruch, eine ansteckende Seuche, gegen welche auch Mäßigkeit und Vorsicht nicht schützen, Sie auf das Krankenlager hinstrecken und in Armuth stürzen, Neid, Verfolgung und Kabale Sie um Vermögen und Freiheit bringen? – Glauben Sie dann, aus der Vernunft gesponnene Trostgründe wären in solchen Fällen immer hinreichend gegen körperliche Schmerzen und anders Unglück, dahingegen Ein Ritt in das Land der Fantasie, Eine kleine unschuldige Zerstreuung Sie Ihr Leiden vergessen machen und sympathetische und andre Gefühle, welche Sie wegraisonnieren wollen, andre Menschen bewegen können, Ihnen zu Hilfe zu eilen?

Ich will Ihnen aber offenherzig bekennen, daß ich es Ihrem ganzen Systeme ansehe, daß Sie es einem Andern abgeborgt haben, und glauben Sie mir auch, es paßt nicht für Sie, und das macht Ihnen in meinen Augen keine Schande, sondern vielmehr Ehre. Sie haben zuviel und zuwenig, um so zu seyn, wie Sie gern scheinen möchten: zuviel gutes, menschliches Gefühl und zuwenig festen, unerschütterlichen Sinn, bey einem zu schwachen, reizbaren Körper. Sie sind durch mannigfaltige Schicksale zu sehr heruntergestimmt. Eine Maschine, die oft in die Höhe und wieder herabgespannt worden, wird am Ende schlaff, hält nicht mehr eine so starke Anstrengung aus, und ein Herz, das von der ersten Jugend an so vielfältig ist verwundet worden, behält immer Stellen, die nicht völlig geheilt sind oder die leicht wieder aufgerissen werden, und wenn dann nicht wieder wirkliche Wunden entstehn, so erzeugen doch die schmerzhaften Stellen Empfindungen von böser Laune, und das alles paßt ja nicht in Ihr System; Ihre Unglücksfälle haben Sie ein wenig kleinmüthig gemacht; Sie haben nicht so viel Entschlossenheit, Zuversicht zu Sich selbst, als dazu gehört, einer Philosophie gemäß zu handeln, die so sehr von der Philosophie der übrigen Menschen absticht. Dies kann Sie nicht beleidigen, denn wirklich ist diese Zuversicht und Festigkeit, die manchem guten Manne fehlt, auch zuweilen das Erbtheil des ärgsten Bösewichts. Sie würden durch den geringsten Umstand aus Ihrem Konzepte gebracht werden – Nein! das ist keine Philosophie für Sie. Sie brauchen, Ihrer Konstitution und Ihrem jetzigen Zustande gemäß, eine freundlichere, gefälligere Leiterin auf ebenem Wege, bis Sie wieder ein bißchen gestärkt worden sind, und dann wagen Sie immerhin, wenn Sie noch Lust haben, so eine Reise über Stock und Block!

Bizarrerie und Stolz, daß ich es grade heraussage! haben jenes System erfunden, insofern es übertrieben ist; denn, wie gesagt, daß man seine Gefühle nicht gänzlich Meister über die Vernunft werden lasse, daß man in wichtigen Dingen seiner Überzeugung folge, daß man nicht der Sklave elender Vorurtheile werde, daß man sich Andern nicht gänzlich aufopfre, daß man Wünsche einschränke und sich durch Schicksale nicht niederbeugen lasse – das ist eines verständigen Mannes werth – Aber lassen Sie uns dabey nicht unsre Menschheit ausziehn, und auch unter den Menschen lassen Sie uns nicht durchaus Aufsehn erregen, durchaus die Ersten oder die Letzten seyn wollen! Für einen Mann, der in sich Kraft fühlt, groß zu seyn, ist es wahrlich hohe Tugend, vertragen zu können, daß nur ein schwaches Licht auf ihn scheine, sich andern Menschen gleichzustellen und nicht ausgezeichnet, sondern auf dem ganz gewöhnlichen Wege nützlich zu werden, und wenn er etwas mehr kann und will, auf diesem alltäglichen Wege schnellern und festern Tritts zu gehn als gemeine Menschen.

Es ist keine Kunst, ein System zu erfinden, das herrlich und groß klingt, hübsch zu erzählen und mit Bestimmtheit und Feuer zu reden; aber immer unwandelbar diesen Grundsätzen gemäß zu handeln, ohne sich je von einer Lieblingsleidenschaft einen Streich spielen zu lassen – das ist eine ganz andre Sache!

Ich habe immer grade am wenigsten Denen getrauet, die den Faden zu dem Gewebe ihrer Handlungen auf den Fingern abzuwickeln wissen, und habe gefunden, daß die Personen am konsequentesten und weisesten handeln, die am wenigsten von Grundsätzen und Vernunft plaudern, so wie Die am gesundesten sind, die am wenigsten an Gesundheit denken, und Diejenigen mehrentheils am redlichsten handeln, die nie die Apologie ihrer Handlungen machen. Groß scheinen wollen und groß seyn, das sind zwey sehr verschiedene Dinge – Ach! wie wenig Menschen unter denen, welche an hohen Piedestals hinaufkriechen, erheben sich durch Herz und Kopf wirklich über das Gemeine, und wie Viele unter denen, die demüthig unter den Bildsäulen der Großen wegschleichen, sind in der That groß, durch Reinheit, Einfalt und Kindersinn, Gradheit und Treue! Es gibt wahrlich sehr viel mehr gute, schätzbare Menschen, als man gewöhnlich glaubt, unter dem Haufen derer, die wir so stolz übersehen, und Wenige, aus deren Umgange man nicht etwas lernen könnte; aber wir müssen unsre Erwartungen nicht zu hoch spannen. Wir verlangen lauter Virtuosi zu sehn, wollen nur Helden und Halbgötter bewundern und haben keinen Sinn für die echte Größe, die in treuer, unermüdeter Erfüllung häuslicher und geselliger Pflichten beruht, die eben deswegen von so viel größerm Werthe ist, weil sie, ohne Ansprüche auf Glanz und Nachruhm, übersehn, oft gänzlich verkannt, alle Bewegungsgründe aus reiner Liebe zum Guten hernehmen muß.

Lassen Sie uns tolerant seyn gegen die Schwächen Andrer, besonders gegen die Fehler der Menschen besserer Art! Auf feinem weißen Grunde sieht man freilich jeden Flecken leichter; aber es gibt auch solche Flecke, die man ohne Gefahr, die feine Glasur wegzuschaben, und ohne die wesentliche Masse mit anzugreifen, schwerlich abreiben kann.

Ehren wir alle Stände, die das Gesellschaftsband zusammenhalten! ohne ihre Nutzbarkeit strenge gegeneinander abzuwiegen! Welchen würden wir nicht reformieren, wenn wir die Menschen zu ihren ursprünglichen Bedürfnissen zurückführen wollten!

Ehren wir das hohe Alter! Hat es auch nicht immer studierte Weisheit gesammlet, so ist doch die Summe erworbener Erfahrungen und eine Laufbahn, ohne Schande und ohne Nachtheil unsrer Mitmenschen zurückgelegt, viel werth; und wer so lange gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens gekämpft hat, verdient wohl, daß wir ihm die Abendstunden heiter machen.

Suchen wir nicht angelegentlich neue Bekanntschaften, aber fliehen wir den Umgang nicht! Sammlen wir uns in der Einsamkeit und treten dann, gestärkt mit guten Vorsätzen, wieder in die Gesellschaft! Es ist gut, mit weisen Menschen umzugehn, um von ihnen zu lernen, aber es ist auch Pflicht, die Schwächern nicht zu fliehn, damit Diese von uns lernen können; allein immer von dümmern Geschöpfen umgeben zu seyn, das taugt auch nicht, denn dadurch kommen wir nicht nur nie weiter, sondern im Gegentheil zurück, und unsre Eitelkeit, unsre Zuversicht zu uns selbst wächst zum höchsten Grade des Hochmuths heran.

Wir sind unsern Brüdern und Schwestern Gefälligkeit und Dienstfertigkeit schuldig. Nicht, daß wir uns Jedem preisgäben und aufopferten, aber daß wir zu guten Zwecken ihnen die Hände bieten und unsre Kräfte mit den ihrigen vereinigen, zum Wohl des Ganzen, nach unsrer Überzeugung, wäre auch der Erfolg ungewiß. Wir dürfen nachgebend, geschmeidig seyn in unschuldigen Dingen, müssen nicht offenbar affektieren, immer unsern eigenen Weg gehn, uns auszeichnen und die Sitten und Gebräuche der Menschen, die mit uns leben, verachten zu wollen. Freilich, wo es Charakter und Pflichten gilt, da soll jeder unerschüttert seinen Grundsätzen und seinem Gewissen folgen; aber in gleichgültigen Dingen, in Kleidung, in Gebräuchen u. dgl., was schadet da ein bißchen Gefälligkeit, und wie sehr stößt man nicht durch das Gegentheil Leute zurück, auf welche man zum Guten wirken könnte, wenn man weniger strenge wäre? Auch sind wir schuldig, uns solche Eigenschaften zu erwerben, die uns zu angenehmen Gesellschaftern machen, unsre Launen nicht fremde Menschen empfinden zu lassen, Langeweile und Zwang zuweilen ohne Murren zu ertragen, denn gewiß bildet nichts so sehr den Charakter, lehrt Geduld und Ausdauern, stählt den Muth, macht uns stark und fest gegen die unvermeidlichen Streiche des Schicksals, als wenn wir uns in guten Tagen an einigen Zwang und an Verleugnung gewöhnen. Ein bißchen Kasteiung schadet nicht, und mag auch Epikurs System noch so artig gewendet, aufgestutzt und auf eine moralische Seite herausgekehrt werden, so kann ich mich doch nicht überzeugen, daß irgendein System in dieser Welt ruhig und glücklich machen könne, das nur genießen und nicht entbehren lehrt, man gebe auch dem Worte Genuß die reinste und modifizierteste Bedeutung!

Die mehrsten Menschen verbinden meiner Meinung nach einen falschen Begriff mit dem Ausdrucke Festigkeit. Von dem einmal anerkannten unfehlbaren Wege zur Wahrheit und Tugend, von einem edeln, unwidersprechlich guten, wichtigen Vorsatze nie abgeleitet zu werden, weder durch sophistische Gründe noch durch Leidenschaft, noch durch gefährliche Gelegenheit und loses Geschwätz Andrer verführt, das ist Festigkeit! Aber durch bessere Gründe überzeugt, durch Erfahrung belehrt, nicht unsern Irrthum bekennen, nicht abstehn wollen von dem, worauf unsre Eitelkeit einmal ihr Petschaft gedrückt hat; einen höchst unbedeutenden Plan bey veränderter Lage der Sache oder vorgefallenen Schwierigkeiten nach Zeit und Umständen durchaus nicht abändern wollen, weil wir den Orakelspruch gethan haben, wir wollten also handeln, das ist nicht Festigkeit, sondern närrischer Eigensinn und Hochmuth! Übrigens ist es freilich Pflicht, unaufhörlich an sich selbst zu arbeiten und zu verbessern, sich von Vorurtheilen und bösen Gewohnheiten loszumachen, immer zweckmäßig und so zu handeln, daß man sich Rechenschaft geben könne von dem nützlichen Zwecke jedes unsrer Schritte und womöglich jeden Abend sich selbst fragen dürfe, wie weit man es heute in größerer Vervollkommnung gebracht habe. Von schädlichen Fertigkeiten und bösen Gewohnheiten darf man nicht denken, sich nach und nach losmachen zu können; man muß den Muth haben, das Übel herzhaft auf einmal mit der Wurzel auszureißen. Dann kostet es einen einzigen schmerzhaften Augenblick und ein bißchen Nachwehe, und die Kur ist vollbracht; auf andre Art hingegen rottet man es nicht aus. Am schwersten aber wird die Überwindung verjährter, mit uns aufgewachsener Vorurtheile. Auch der vollkommenste Mann ist hiervon und von einer gewissen Vorliebe vor lange gehegte Meinungen nicht frey. Jedes Geschlecht hat dann auch seine ihm eigenen Fehler. Ich glaube aber, man thue uns Weibern Unrecht, wenn man unserm Geschlechte mehr dergleichen aufbürdet als dem Ihrigen. Unsre Bestimmung, unsre Erziehung und ein gewisser Zwang der Konvenienz geben unserm Verstande und Herzen eine Wendung, die von derjenigen sehr unterschieden ist, zu welcher Sie gebildet werden; durch die Zurückhaltung, deren wir uns von Jugend auf befleißigen, hinter welcher wir die wärmsten Empfindungen verschleiern müssen, durch die Gewißheit, daß unsre ganze bürgerliche und moralische Existenz darauf beruht, den Männern zu gefallen, werden wir leicht zu Verstellung und Koketterie verleitet; ist es daher Wunder, wenn auch zuweilen das dümmste Weib sich auf die Kunst, anders zu scheinen, als sie ist, besser als der klügste Mann versteht, wenn auch die häßlichste alte Frau nicht ohne Ansprüche auf Eroberungen ist, und wenn man auch das edelste Frauenzimmer zuweilen auf Verheimlichungen und auf kleine Buhlkünste ertappt?

Sie haben, dünkt mich, sehr recht, wenn Sie allgemeine Aufklärung für unmöglich halten. Ich glaube sogar, daß, so schändlich auch Diejenigen von jeher in der Welt gehandelt haben und noch handeln, die alles um sich her zu verfinstern suchen, damit sie dann im Dunkeln mit den kostbarsten Schätzen des Lebens davonrennen können, man auch sehr vorsichtig seyn müsse in Ausbreitung gewisser Sätze, von deren Wahrheit man fest überzeugt ist. Wenn auch hier nicht menschlicher Irrthum uns oft verleiten könnte, uns in unsern Meinungen über Dinge zu täuschen, über welche der liebe Schöpfer in dieser Welt einen Schleier gezogen hat, so sollte man doch auch nie vergessen, daß gewisse Vorurtheile zu fest in unsre Staatssysteme und bürgerlichen Verfassungen verwebt sind, als daß man die Einen wegreißen könnte, ohne die Andern zu erschüttern, daß man dies der alles entwickelnden Zeit überlassen und nichts nehmen solle ohne Ersatz. Was wir gewöhnlich Aufklärung nennen, das heißt Reinigung gewisser in unsre Religionssysteme eingeschlichener zu materieller Begriffe und Wegräumung gewisser politischer Vorurtheile; das macht den gemeinen Mann und den Mann von mittlern Fakultäten in der jetzigen Lage der Sachen gewiß nicht einmal glücklicher, nicht ruhiger, erleichtert nicht die Last des gedrückten Bauern, des unter mancherley Leiden und Abhängigkeit Seufzenden, sondern läßt ihn nur sein Elend härter empfinden. Übertriebene Religiosität erhält die Tugend manches schwachen Weibes (deren Effekt wenigstens für die bürgerliche Gesellschaft und das Familienband wohlthätig ist, sey auch der Bewegungsgrund verständig oder nicht!) und erhält die Hoffnung manches Despotensklaven auf die unmittelbare Vorsehung seines Gottes, so daß er ausdauert, bis indes bessere Zeiten kommen.

Ich möchte nicht der religiösen Schwärmerey und Andächteley, am wenigsten der Heucheley das Wort reden, aber das getraue ich mir doch zu behaupten, daß eine bloße Religion des Kopfs, besonders für Menschen von alltäglichen Gaben, gar keine Religion sey, so wie Freundschaft und Liebe, die bloß auf Raisonnement beruhen, mehrentheils kalte, lose Bande sind, und daß, wenn durchaus kein Mittelweg möglich seyn sollte, im Kopfe und Herzen gewöhnlicher Menschen Aberglauben weniger Unglück anrichtet als Unglauben. In den Händen ränkevoller Pfaffen und herrschsüchtiger Afterphilosophen aber sind Fanatismus und Freigeisterey zwey gleich gefährliche Mordgewehre, befördern gleich viel Unsittlichkeit und Verfolgungsgeist, und ich wüßte kaum zu wählen, wenn ich durchaus entweder ein Bonzen wie G*** in H*** oder M*** in H . . . oder B*** in H – – an die Spitze einer Hildebrandischen Hierarchie setzen müßte.«


 << zurück weiter >>