Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Viertes Kapitel

Sobald der Hauptmann sich mit Ludwig allein sah, ergriff er denselben freundlich bey der Hand, blickte ihm fest in die Augen und sprach: »Nun, junger Herr! Was heißt das? Warum haben Sie nicht den Muth, mir grade in das Gesicht zu sehn? Schlägt das Herzchen? Macht das Gewissen Vorwürfe? Haben wir einen Schritt gethan, dessen wir uns itzt schämen müssen? Kömmt die Reue schon so früh? Nicht wahr? das dachten wir nicht, als wir uns verleiten ließen, Freunden und Verwandten wegzulaufen, die es redlich mit uns meinten, die aus uns einen rechtlichen Kerl bilden wollten und denen wir itzt, zur Dankbarkeit, Unruhen, Sorgen und Bekümmernis machen? Aber der Zwang gefiel uns vielleicht nicht. Wir wollten zügellose Freiheit genießen, wollten vielleicht den Kopf nicht anstrengen oder geriethen in böse Gesellschaften und ließen uns hinreißen – Und nun stehen wir da, am Rande des Verderbens, haben nicht Muth genug, das Bubenstück vollends auszuführen, und nicht Gradheit des Herzens genug, reuevoll zurückzukehren und ernstlich an Besserung zu denken – Nicht wahr, mein lieber junger Herr! ich habe den Zustand Ihres Herzens so ziemlich errathen? – Aber ich sehe es Ihnen an, daß Sie noch nicht verhärtet im Bösen sind, und glaube, es ist der Mühe werth, Sie vor dem Abgrunde wegzureißen, an welchem Sie herumirren. Sagen Sie mir nur: was hat Sie bewogen, heimlich fortzugehn und hier Dienste zu suchen? Haben Sie auch wohl überlegt, was Sie gethan und was Sie vorhaben? Sie wollen Soldat werden? Doch wohl nicht als Gemeiner die Muskete tragen, vor dem Stocke zittern und bey wenigen Kreuzern Löhnung, schwarzem Brote und saurer Anstrengung Ihre Existenz verwünschen? Oder meinen Sie, man werde aus Ihnen sogleich einen Offizier machen, man werde einem Menschen, der nicht gehorchen kann, erlauben, Andern zu befehlen? man könne, wann man nichts lernen will, in einem Stande sein Glück finden, zu welchem so viel Kenntnisse gehören? Oder was erwarten Sie sonst von mir? Warum sind Sie zu mir gekommen? Dachten Sie vielleicht, ein Werbehaus sey ein sichrer Zufluchtsort für jeden Pflichtvergessenen und es sey so eine Eigenschaft unsers Standes, Müßiggang und Ausschweifung zu begünstigen? Nun! dann irrten Sie; aber ich will Sie weder beschämen noch betrüben, sondern Ihnen nützlich seyn. Also aus einem andern Tone! Den jungen Menschen, welcher mit Ihnen gekommen ist, will ich behalten. Er soll der Trommel folgen; das ist ihm sehr gesund, und wir wollen sehn, ob er Subordination vertragen wird; Sie aber, mein Lieber! will ich wieder in Ihres Vaters Hände, oder wem Sie sonst angehören, abliefern – Erschrecken Sie nicht! Es soll auf die beste, behutsamste Art geschehen. Verhehlen Sie mir nur nichts! Ich will Frieden für Sie bewirken, und wenn Sie Ursache haben, über etwas zu klagen, alles anwenden, daß Ihnen geholfen werde. Aber Offenherzigkeit erwarte ich, und die werde ich zu verdienen suchen. Da Sie haben Soldat werden wollen, so muß es Ihnen auf eine schlaflose Nacht nicht ankommen; wir wollen also zusammen aufbleiben, miteinander plaudern, und wenn ich Ihre Geschichte werde erfahren haben, dann wollen wir sehn, was weiter zu thun ist.« So redete der Kapitain mit Ludwig, und Dieser faßte Zutrauen und Liebe zu dem wackern und verständigen Manne; er entdeckte ihm seine ganze Lage, wurde von dem Offizier zu dem guten Vorsatze aufgemuntert, statt zu verzweifeln, alle Kräfte aufzubieten, sich Kenntnisse zu erwerben und das Versäumte nachzuholen, und so kam der Morgen heran.

Wir haben vorhin gehört, daß der Major von Krallheim frühmorgens eilig der Reichsstadt zufuhr. Als er vor das Thor kam, war dasselbe noch geschlossen. Der Hauptmann stand grade nebst Ludwig am Fenster, während die Kutsche vorbeifuhr und stillhielt; Seelberg erkannte seinen Vetter und rief: »ach! mein Vormund!« Der Offizier beruhigte ihn, sprang die Treppe hinunter, bat den Major auszusteigen, führte ihn in ein besondres Zimmer und unterrichtete ihn von allem. Sodann wurde der Frieden bald geschlossen, und der junge Mensch kam mit liebevollen Vorwürfen und väterlichen Ermahnungen davon. Sein Vetter führte ihm mehrmals die Sanftmuth seiner verstorbenen Mutter, welche Krallheim sehr geehrt hatte, zu Gemüthe; dies machte immer die wirksamsten Eindrücke auf sein Herz; und als er mit seinem Vormunde zurück zu dem ehrlichen Rektor Werkmann fuhr, Dieser, statt böser Worte, ihn in seine Arme schloß und nichts weiter sagte als: »Womit habe ich das um Sie verdient?«, da dachte er zu vergehn vor Scham und Reue, und von dem Augenblicke an wurde der Vorsatz fest und unwandelbar in ihm, durch unüberwindlichen Fleiß und gute Aufführung diesen Fehltritt auf immer auszulöschen – und er hielt Wort – Sein Ehrgeiz erwachte: »Wie?« sprach er zu sich selbst, »was andre junge Leute von meinem Alter lernen können, das sollte für mich unmöglich zu fassen seyn? Hab ich nicht Genie, vielleicht mehr als sie? Gedächtnis und Überlegung? – Und welche Ehre, wenn ich sie in kurzer Zeit einholen und dann hinter mir zurücklassen könnte! Wohlan! Es gelte um diesen Preis!« Gedacht; gethan! Er griff sich an, bot alle Kräfte auf; drey Tage lang wurde es ihm sauer; am vierten fing er an, den Nutzen seines Eifers zu fühlen und sich an Arbeitsamkeit zu gewöhnen; am sechsten Tage fand er Wonne in nützlicher Thätigkeit, und nach vierzehn Tagen war ihm diese Lebensart zu einem solchen Bedürfnisse geworden, daß er nicht mehr begreifen konnte, wie es möglich wäre, ganze Stunden verstreichen zu lassen, ohne etwas Nützliches zu lernen. Welche Freude dies in Werkmanns Hause verbreitete, wie sehr Ludwig nun vorgezogen, geliebt, gelobt, geehrt wurde und daß dies ihn doppelt anspornte, das alles läßt sich begreifen. Kaum verging ein Jahr, so war er seinen Mitschülern gleich, und nach drey Jahren war nicht nur in des Rektors Hause, sondern auf dem ganzen Gymnasio nicht ein einziger junger Mensch von Seelbergs Alter, der so viel Kenntnisse gehabt und die glänzendsten Talente mit einem so unbeschreiblich fertigen und treuen Gedächtnisse vereinigt hätte. Dabey wurde er allen Jünglingen als ein Muster von Bescheidenheit, feiner Lebensart und wahrer Frömmigkeit vorgestellt, und in den größten Häusern bat man es sich aus, daß er des Sonntags oder sonst in seinen seltenen Feierstunden (denn alle Stunden des Tages waren eingetheilt) zuweilen hinkommen und sich zeigen durfte, da man dann oft in seiner Gegenwart dem Vaterlande Glück wünschte, ein solches Genie unter seinen Edelleuten zu besitzen, sich auch wohl in die Ohren flüsterte: »Der kann einmal in jedem Betracht ein Mädchen glücklich machen.« Ob dieser Weihrauch seine Gehirnnerven nicht zu sehr angegriffen und wie es überhaupt mit der fernern Entwicklung seines Charakters aussah, als er im siebenzehnten Jahre auf Universitäten ging, das wollen wir hernach näher beleuchten. Jetzt noch etwas, so hier nicht am unrechten Orte steht!

Er hatte eine Verwandtin, welche Priorin in einem benachbarten Nonnenkloster war. Dahin wurde er eingeladen zu kommen und erhielt auch die Erlaubnis dazu in den Weihnachtsfeiertagen. Es waren viel Kostgängerinnen dort, welche daselbst erzogen wurden, und die Musik stand in großem Ansehn. Ludwig, den man noch für einen Knaben ansah, durfte ohne Zurückhaltung mit den jungen Mädchen reden, scherzen, zuweilen die Orgel spielen, und alte und junge Nonnen hatten Freude an ihm. Er durfte ihnen auch zuweilen schreiben und Noten schicken. Obgleich er nun für keine derselben irgendein ausschließliches Gefühl empfand, so that ihm doch dieser Umgang ungemein wohl und vermehrte seine von Kindheit auf gehegte Anhänglichkeit an das weibliche Geschlecht.

In einem von den ersten Häusern der Stadt, in welchen Ludwig Zutritt hatte, war ein junges Fräulein von vierzehn Jahren, reizend gebildet, dabey gutmüthig, munter, wohl erzogen und voll Talente. Sie lernte das Singen und hatte eine schöne Stimme. Man wußte, daß Ludwig das Klavier gut spielte; also bat man ihn einigemal, wenn er des Sonntags abends hinkam, Amaliens Gesang mit dem Generalbaß zu begleiten. Die Eltern hatten ihr Vergnügen daran, und Ludwig, für den die Musik Engelsfreude war, verlebte sehr glückliche Augenblicke in diesem Hause. Zuweilen fügte es sich, daß, wenn er irgendeine neue Arie mit dem Fräulein bloß übte, welches denn weniger angenehm anzuhören war, oder wenn die Eltern andre Geschäfte hatten, er sich mit Amalien allein befand; und dann schlug ihm, der nun in die Jahre kam, in welchen man zu fühlen pflegt, auf welchem Flecke das Herz sitzt, schlug ihm dies Herz gar mächtig gegen das Kamisol. Er sah alle Noten doppelt, griff falsch, und die kleine Sängerin fragte ihn oft in ihrer Unschuld: warum er so zerstreuet sey? Wenn er dann bis über die Ohren erröthete, so schlug auch sie die Augen nieder. Es erfolgte eine kurze Stille, aber keiner von Beiden hatte Langeweile noch Überdruß dabey; und die Arie wurde oft wieder von vorn angefangen, ohne daß sie die Geduld verloren. Wären die Augenblicke von der Art nicht selten gekommen und hätte Ludwig nicht durch ernsthafte, aneinanderhängende Arbeiten die Lebhaftigkeit der Eindrücke, welche solche Scenen auf ihn gemacht hatten, wieder gemildert, so fürchte ich, es würde mit seinen Studien nicht sonderlich ausgesehn haben. Jetzt aber gab dieser kleine Vorschmack von Weiberliebe seinem Geiste einen gewissen Schwung und seinem Herzen eine behagliche Wärme. Wenn er durch den Schulzwang, durch den steifen Vortrag mancher von den Lehrern des Gymnasiums, durch die gar pünktliche Stundenreihe und durch die größtentheils trockenen Wortkenntnisse, deren Erlernung er fast den ganzen Tag widmete, ein wenig pedant wurde, so verfeinerte sich von der andern Seite sein Geschmack durch weiblichen Umgang, sein Witz wurde geschärft, er bekam auch Lust zur Dichtkunst, las Bücher in dem Fache der schönen Wissenschaften, in welchen der Rektor Werkmann nicht fremd war, und behielt das Gefühl für die schönen Künste, besonders für die Tonkunst.

Indessen war Werkmann bey der Auswahl der Bücher, welche er unserm Ludwig zu lesen gestattete und vorschlug, äußerst vorsichtig, und dies besonders, insofern es Poesie betraf, mit welcher er den jungen Seelberg doch auch gern bekanntmachen wollte. Er war überzeugt, daß in den Jahren, wenn die Einbildungskraft am lebhaftesten ist und allerley sinnliche Regungen zu erwachen anfangen, daß da Gedichte mancher Art dem Jünglinge höchst gefährlich werden können. Da er also alle solche Werke von ihm entfernte, in welchen bloß die Fantasie gekitzelt wurde, und solche, in welchen romanhafte Liebe oder wohl gar das, was die Franzosen sehr uneigentlich bagatelle nennen, mit reizenden Farben geschildert wurde, so blieb bey dem damaligen Zustande unsrer und der ausländischen neuen Literatur kein großer Reichthum von poetischen Werken übrig, die er ihn lesen lassen durfte. Er bemerkte ferner, daß Idyllen und andre Gedichte von der Art, in welchen Naturgemälde, ländliche Scenen und einfältige Sitten dargestellt waren, wenig Eindruck machten auf diesen Jüngling, dessen Sinn und Aufmerksamkeit schon von solchen einfachen Gegenständen ab auf Beobachtung der Welt, in welcher wir leben, und der Menschen, von denen wir umgeben sind, geleitet war. Fabeln schilderten wohl menschliche Sitten, aber in einem Gewande, das dem jungen Seelberg läppisch vorkam und ihm daher diese Seelenspeise widrig machte; Satyren mochte ihm der Rektor nicht in die Hand geben, da er schon an ihm einen Hang, Lächerlichkeiten und Thorheiten auszuspähn und zu verspotten, bemerkte. Mit den lateinischen Dichtern des Alterthums war er bald fertig. Unter den Griechen hätte er ihn so gern den vortrefflichen Homer lesen lassen, fest überzeugt, daß besonders die Odyssee herrliche Nahrung für Kopf und Herz gewesen seyn würde; allein es war zu viel in andern Kenntnissen nachzuholen gewesen, als daß er so weit mit ihm in der griechischen Literatur hätte fortrücken können, daß Ludwig den Vater Homer in der Grundsprache verstanden hätte; Vossens unvergleichliche Übersetzung war noch nicht heraus, und ehe er ihm solche Travestierungen, wie die von der Hand der Dame Dacier sind, von den Meisterstücken des Alterthums vorlegen wollte, eher hätte er ihm das Vademecum für lustige Leute zu lesen gegeben. Indessen erforderten nun einmal Ludwigs ungeheure Lebhaftigkeit, seine Einbildungskraft und sein unruhiges Herz, bey den zum Theil trockenen Arbeiten, womit er sich immer beschäftigte, noch einige besondre ätherische Nahrung, um dieselben nicht auf gefährliche Abwege gerathen zu lassen; und da glaubte Werkmann, nichts sey geschickter, dies Feuer auf eine für die Sittlichkeit wohlthätige Weise zu unterhalten, ohne daß es in Flammen ausbräche, als wenn er sein höheres Gefühl, seinen Enthusiasmus, auf religiöse Gegenstände leitete. – Nicht, daß er geglaubt hätte, das Wesen der Religion beruhe mehr auf Gefühl als auf nüchterner Wachsamkeit über uns selbst und auf richtiger Ordnung unsrer Triebe nach dem göttlichen Willen zu Erfüllung unsrer Pflichten in unsern individuellen Lagen; aber er war davon überzeugt, daß, da der Mensch nun einmal sinnlich ist, die Fantasie, besonders in gewissen Jahren, nicht ganz darf vernachlässigt werden, daß eine bloße Religion des Kopfs gar keine Religion und daß Emporstreben der Seele zu der allmächtigen Urquelle ein seliges Gefühl ist, das uns stärkt und abzieht von dem Sehnen nach unreinen, gröbern Gegenständen. Hiebey nahm Werkmann noch besonders Rücksicht auf die in unsern Zeiten unter jungen Leuten so sehr überhandnehmende Irreligiosität, wozu der sogenannte Forschungsgeist unsers Jahrhunderts nicht wenig beiträgt, indem dieser durch rastloses Grübeln nach dem Unergründlichen nach und nach den Boden, worauf zeitliches und ewiges Glück gebauet werden muß, locker, hohl und unfruchtbar macht. Mit Einem Worte! der Rektor suchte unserm Ludwig für Religion und Gottesverehrung Wärme einzuflößen. Er las mit ihm Klopstocks Messias und Bodmers Noah, ermunterte ihn, in Stunden, wo das pochende Herz emporquoll, sich ausdehnte und herauswollte, einen Gegenstand aufzusuchen, den es allmächtig, zärtlich, warm umfassen könnte, indes die Fantasie unbestimmt und unruhig herumirrte, diesem Herzen zum Wegweiser zu dienen; in solchen Stunden ermahnte er ihn, sich emporzuschwingen zu dem Schöpfer der Welten und dann, voll des großen Gegenstandes, mit Begeisterung und Dichterfeuer die Majestät Gottes zu besingen, der alle diese großen, dunkeln Gefühle zu Harmonie zu stimmen weiß, wenn wir seinem Geiste nicht widerstreben. Ludwig schlug diesen Weg ein, und es that ihm wohl; die Feierlichkeiten des öffentlichen Gottesdienstes und stilles Gebet in einsamen, gefühlvollen Augenblicken erfüllten sein Herz mit seliger Andacht. Er machte geistliche Gedichte, Oden und Lieder, welche, wenn sie keine Meisterstücke waren, doch inbrünstige Gottesverehrung, lebhafte Einbildungskraft und echtes Dichtertalent verriethen. Er komponierte ein paar von Klopstocks erhabenen Hymnen, und die Stimmung, welche er dadurch erhielt, veredelte wirklich seine Gefühle von Freundschaft und Liebe, nahm ihnen das gröbere Sinnliche, ohne seinen Geist zu zerstreuen noch ihn vom fleißigen Studieren abzuhalten.

Auf diese Art nun erreichte Seelberg das siebenzehnte Jahr, war in toten und lebendigen Sprachen, in verschiedenen Zweigen der Geschichte, in Erdbeschreibung, Alterthumskenntnis, mathematischen Wissenschaften, Philosophie, Naturlehre, Beredsamkeit, Dichtkunst, Musik und in Leibesübungen für sein Alter sehr weit vorgerückt, und der Rektor glaubte, er sey jetzt, was die Wissenschaften beträfe, vorbereitet genug, auf Universitäten gehn zu können, in Betracht seiner Jugend und seines reizbaren Nervensystems aber nicht wohl ohne Führer dahin zu schicken; Krallheim billigte daher den Vorschlag, dem jungen Menschen einen Hofmeister mit dahin zu geben, und es kam nur auf die Wahl desselben an. Es war begreiflich, daß man ihm keinen steifen Pedanten noch einen Menschen zugesellen durfte, den er weder schätzen noch lieben, noch Vergnügen in seinem Umgange fühlen könnte. Ein Subjekt nun zu finden, in welchem diese Rücksichten mit den übrigen erforderlichen Eigenschaften eines Mentors zusammenträfen, das war keine leichte Sache. Während hiernach vielfältig Nachfragen geschahen (doch nicht in den Zeitungen, wie wenn man einen Hühnerhund zu kaufen sucht), machte Ludwig Bekanntschaft mit einem hübschen und wackern jungen Manne, Namens Krohnenberger, einem Vetter des Rektors. Dieser hatte vor einigen Jahren Leipzig verlassen, woselbst er die Rechte studiert, war sodann Instruktor bey einem jungen Grafen geworden, der aber kürzlich gestorben, und wünschte er nun als Hofmeister mit einem Cavalier auf Universitäten zu gehn. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen, viel Bescheidenheit und Sanftmuth, und war doch dabey ein munterer, launiger Gesellschafter und schöner Geist. Wirkten nun die äußerlichen Vorzüge oder die Verwandschaft, in welcher er mit Werkmann stand, oder die ihm, wie den mehrsten unsrer heutigen vielwissenden Jünglinge, so eigene Redseligkeit, mit welcher Krohnenberger von allen Zweigen der Gelehrsamkeit, besonders aber von Psychologie, Erforschung und Leitung des Menschen, von praktischer Philosophie, von Einfalt und Natur und von Erziehungswesen zu sprechen wußte, oder was war es sonst, das den ehrlichen Rektor so sehr für diesen Mann einnahm? Genug! sobald er bemerkte, daß Ludwig Zuneigung zu seinem Vetter bezeugte, wurde der Entschluß in ihm reif, Diesem die Hofmeisterstelle bey Jenem zu verschaffen. Er redete desfalls mit dem Vormunde: »Ich sage es nicht etwa aus Vorliebe«, sprach er, »weil Herr Krohnenberger mein Verwandter ist; aber dieser Mann hat alle erforderlichen Eigenschaften zu einem Führer Ihres Herrn Mündels. Er hat zugleich solide und angenehme Wissenschaften, kennt die Welt und das menschliche Herz, ist von dem jungen Herrn geliebt, spricht von Allem mit Vernunft und Feinheit, urtheilt richtig, hat die Alten und Neuern studiert und ist kein Pedant.« – Nun! das war er denn auch wahrlich nicht, und hätte er so gewiß alle übrigen guten Eigenschaften besessen, welche ihm Werkmann voll guten Glaubens anrühmte, als er gewiß kein Pedant war, so wäre nichts an der Wahl auszusetzen gewesen. Aber wer ist leichter zu hintergehn als ein Mann, der die Menschen nur aus seinem Studierzimmer beobachtet, der, gewöhnt, leicht zu übersehende, leicht zu erforschende Knaben um sich zu haben, nicht vorbereitet auf die mancherley Vermummungen und Ausschmückungen mit falschem Golde ist, in welchen die Menschen in der größern Welt auftreten! Übrigens war Krohnenberger kein eigentlich böser, schlechter, aber ein schwacher, leichtsinniger Mensch, ein schöner Geist, das heißt ein leerer Kopf, der, ohne gründliche Kenntnisse von irgendeiner Sache zu haben, von Allem zu reden wußte, indem er einen oder den andern von denen in unzähligen Journalen aufgesammleten Brocken preisgab, je nachdem er glaubte, daß dieser Bissen dem Manne, welcher ihm gegenüberstand, schmackhaft seyn könne. Mit seinen Sitten sah es nicht weniger leichtfertig aus. Er war immer so wie die Gesellschaft, in welche er gerieth, fromm mit den Frommen, empfindsam mit den Empfindsamen, liederlich mit den Liederlichen, übrigens von sehr gefühlvollem Herzen, wie alle schönen Geister, mitleidig, seinen letzten Heller hingebend dem, der ihn ansprach; und dabey fehlte es ihm nicht an Naturgaben; aber er hatte von jeher zu keiner fortdauernden Anstrengung Geduld und Muth gehabt – So war der Hofmeister beschaffen, welchen Werkmann vorschlug und welchen der Herr Major, ohne die geringste Widerrede, von seiner Hand annahm und seinem Mündel zugesellte!

Damit ich indessen zeige, daß es unserm Rektor doch nicht gänzlich an Beurtheilungskraft fehlte und daß er wohl wußte, was an den Leuten war, insofern er nur Zeit und Gelegenheit gehabt hatte, sie gehörig zu studieren, so will ich hier das moralische Bild hersetzen, welches er von Ludwigs Charakter entwarf, als er denselben den Händen seines neuen Führers überlieferte: »Wir sind jetzt allein«, sprach er, nachdem er ihn bey der Hand genommen und in sein Studierzimmer geführt hatte. »Wir sind jetzt allein, und nun will ich Ihnen, mein lieber Vetter! mit aller Freimüthigkeit meine Meinung über die Anlagen zum Guten und Bösen sagen, welche Sie in Ihrem Zöglinge antreffen werden und auf welche Sie, der Sie das menschliche Herz kennen, Ihre fernern Beobachtungen und Ihre Arbeit stützen können. Der junge Herr von Seelberg hat einen durchdringenden Verstand; er begreift schnell, ordnet gut und behält das einmal Gefaßte in einem Gedächtnisse, das vielleicht wenig Menschen in dem Grade besitzen. Es wohnt in ihm eine solche Lebhaftigkeit und unruhige Thätigkeit, daß alles daran gelegen ist, diese ohne Unterlaß zu beschäftigen und ihr Grenzen zu setzen, wenn sie nicht auf schlimmen Wegen herumirren soll. Dies habe ich dann gethan und habe ihn, solange er mir anvertrauet gewesen, so ohne Unterlaß beschäftigt, daß für jeden Andern diese unausgesetzte Anstrengung vielleicht üble Folgen für die Gesundheit gehabt haben würde; allein für ihn war sie nothwendig. Schaffen, wirken, handeln ist das Element, darin er lebt und webt. Durch die strenge Ordnung nun in Eintheilung der Zeit, an welche ich ihn gewöhnt habe, würde wohl jeder Andre ein steifer Pedant geworden seyn; aber auch dagegen sicherte mich sein Temperament, und so sehr er sich endlich an diese einförmige, planmäßige Lebensart gewöhnt hatte, so machte er mir doch oft Geniestreiche, die genugsam zu erkennen gaben, daß, wenn man ihm das Gebiß, welches ihm angelegt wird, nicht mit Honig bestreicht und es ihn so wenig als möglich fühlen läßt, er bey der ersten Gelegenheit durchgehn wird. Um ihn nun aber zu bewegen, diesen Zwang freiwillig zu übernehmen, ja darnach zu ringen, habe ich seinen Ehrgeiz rege machen und ihm zeigen müssen, welchen Ruhm, welche Ehre, welche innere Würde und Zuversicht eine so consequente, nützlich-thätige Lebensart gewährt, und hier ist es nun freilich geschehen, daß man ihn oft mehr, als heilsam war, geschmeichelt hat, wodurch er zwar angespornt worden, aber zugleich eine gar große Zufriedenheit mit sich selbst erhalten, die immer zugenommen, je mehr er gefühlt hat, daß seine Naturgaben ihm große Vorzüge vor Andern gäben. Indessen ist er klug genug zu empfinden, daß man mit einem aufgeblasenen Hochmuthe sich keine Achtung noch Liebe erwirbt, und deswegen hat er gar fein eine gewisse stolze Bescheidenheit angenommen, die ihn hübsch kleidet, von der sich aber der Weisere nicht täuschen läßt, indem sie nichts mehr und nichts weniger sagt als: wie wird der Mann die Augen aufsperren, wie wird er mich verehren, wenn er sieht, daß hinter dieser edeln Simplizität so viel Geist, Talent und Erudition steckt! Er hat ein überaus einschmeichelndes Wesen, und nicht leicht wird es ihm mißlingen, jemand für sich einzunehmen, wenn er es darauf anlegt. Sein herrlicher Humor, in welchem er die naivsten Einfälle hat, würde unnachahmlich schön seyn, wenn sich nicht zuweilen Bitterkeit und Satyre, zu welcher er leider! in den letztern Jahren vor seines Vaters Tode die Anlage bekommen, mit hineinmischten. Wir haben aber, um ihn von dieser Spottsucht zu heilen, das Mittel gewählt, durchaus nie über Einfälle (wenn sie auch noch so komisch waren) zu lachen, die auf andrer Leute Unkosten gingen, hingegen in lautes Jauchzen auszubrechen, sobald er einen ganz unschuldigen, feinen Scherz vorbrachte. Unglücklich für ihn ist die Ebbe und Fluth seiner Launen. Hieran ist theils fehlerhafte Behandlung von Seiten seines Vaters, theils seine leicht zu kränkende und zu verstimmende Laune, theils sein äußerst reizbarer, verzärtelter Körper Schuld, den wir, ich gestehe es gern, auch wohl hätten ein bißchen härter gewöhnen können, wenn nicht meine Frau immer gefürchtet hätte, diese zarte Pflanze, den einzigen Stammhalter einer angesehenen Familie, zu Grunde zu richten. Zu zeitig ist der junge Mensch mit der Welt und mit den Schwächen der Menschen bekanntgeworden. Ich fürchte, daß ihm dies nicht nur früh Überdruß und Ekel im geselligen Leben erwecken, sondern auch, daß sein Charakter, der schon zu gekünstelt ist, zuletzt gar kein Gepräge mehr behalten, daß sein ganzes Wesen Verstellung, Umformung nach den Sitten Andrer, um Jeden zu seinen Zwecken zu nützen, und seine ganze Laufbahn eine Spekulation seyn wird, wie er aller Orten glänzen, genießen und herrschen könne. Was mir indessen wieder Hoffnung macht, daß die sanfteren Gefühle und das Wohlwollen, so seine Mutter in sein Herz gesenkt, nicht ganz daraus weichen, sondern früh oder spät ihre Rechte reklamieren und ihn auf die bessere Bahn leiten werden, ist, daß er so viel Sinn hat für Freundschaft und Liebe. Er hängt mit ganzer Seele an Denen, die seine Zuneigung besitzen. Freilich ist diese aber leider! auch oft durch Schmeicheley zu gewinnen, und ich fürchte, er wird einst mit aller seiner Menschenkenntnis vielfältig von falschen Freunden betrogen werden. Er kann sich so sehr an einen geliebten Gegenstand anschließen, daß er bey dem Abschiede von demselben (wäre es auch nur ein Abschied auf einige Monate) fast konvulsivischen Schmerz zeigt. Sein Herz ist aber auch so gewaltig anschließend und dabey so weich, so sich hingebend und empfänglich für Sympathie und Liebe, daß er durchaus keine gleichgültige Leute vertragen kann. Jedermann muß ihm etwas seyn, und wer ihn nicht liebt, den kann er gar nicht leiden, den verachtet er oder geht so lange um ihn herum, bis er ihn gewonnen hat. Aber er will auch Jedem alles ausschließlich allein seyn, und (sey es nun aus Ehrgeiz, Eitelkeit oder aus einem bessern Gefühle!) er ist so eifersüchtig in der Freundschaft, als nur irgendein Liebhaber in der Liebe seyn kann. Sein Hang zum schönen Geschlechte nimmt mit jedem Tage zu. Er hat aber die höchste, beste Meinung von den Vorzügen des weiblichen Charakters vor dem unsrigen – Ich zittre, wenn ich daran denke, was aus ihm werden würde, wenn er sich verlieben, in der Wahl irren und dann die Augen öffnen sollte. So lieb mir's nun auch immer gewesen, daß er das Frauenzimmer hochschätzt, und sosehr ich hoffe, daß ihn dies von niedrigen Ausschweifungen abhalten wird, so habe ich mich doch sorgfältig bemüht, alles von ihm zu entfernen, was seiner überschwenglichen Zärtlichkeit und Empfindsamkeit gefährliche Nahrung geben könnte. Indessen mußte man seiner Fantasie durchaus einen Spielraum lassen. Es war schlechterdings unmöglich, einen solchen Enthusiasten ganz nüchtern zu erhalten und bloß an kalte Überlegung zu fesseln, weil er allem seinem Dichten, Trachten, Wirken und Empfinden einen romanhaften Schwung gab, welches vorerst auch wohl also bleiben, ja! wachsen wird. Noch sind manche Triebe, manche Leidenschaften in ihm verborgen, die kaum schon Namen haben und die noch auf keinen festen Gegenstand gerichtet sind. Es ist ein Schwarm junger auswandernder Bienen. Ich stand da und beobachtete, wo hinaus wohl der Schwarm ziehen würde; ich wußte, daß da, wo die Königin sich ansetzt, alle Übrigen auffallen. Mancher Schwarm hat anfangs zwey Königinnen, bis Eine weichen muß. Noch war es nicht bestimmt, ob bey ihm Liebe, Ehrgeiz oder Eitelkeit den Trupp anführen würde; aber das war gewiß, daß, wenn der junge Schwarm in einen Sumpf geriethe, er verderben, oder wenn er sich an einen schwachen jungen Zweig hinge, er mit demselben herabstürzen, oder wenn er ein lebendiges Geschöpf feindlich anfiele, dasselbe tödlich verwunden würde. Nun war aber der Schwarm noch zu unruhig, zu wild, zu wenig an Ordnung gewöhnt, als daß ich ihn hätte einfangen können; er würde nicht im Korbe geblieben seyn. Deswegen suchte ich ihn hinauf in das Freie, himmelwärts zu treiben, damit er vorerst noch austoben möchte in der weiten Atmosphäre, wo er keinen Schaden leiden noch zufügen könnte, bis er ruhiger würde; doch ließ ich nicht ab, ihn zu beobachten. Ich hoffe, Sie verstehen mich! Da einmal ohne Enthusiasmus nichts mit ihm zu machen war, so habe ich den edelsten aller Enthusiasmen, den Enthusiasmus für Gottesverehrung in ihm erweckt. Wenn irgend Gefühle überspannt seyn mußten, so war mir's lieb, daß es die religiösen Gefühle waren. Sie verstehen auch wohl, daß ich keinen religiösen Schwärmer aus ihm habe ziehen wollen und daß dies bey ihm gar nicht zu befürchten war; aber der Gedanke, den ich in ihm herrschend gemacht: alles nur darum zu thun, Gott zu gefallen und sich ihm zu nähern, der höchsten intellektuellen und moralischen Vervollkommnung nachzustreben und der Liebling zu seyn Dessen, der uns Alle mit Liebe umfaßt, um ganz in ihm zu weben, ihn zu fühlen, ihn zu hören, sich mit ihm zu vereinigen; dieses Streben, dieser hohe Schwung der Gottesliebe hat ihn abgezogen von dem kleinen Liebeln und den mancherley romanhaften Grillen, in welche er sonst nur gar zu leicht sich verirrt haben würde. Daß dies Ressort nicht immer Stich halten wird, wenn er in die größere Welt kömmt, wenn er seltener Muße findet, sich zu sammlen und zu konzentrieren, wenn zahllose Reizungen von allen Seiten seine Seele nach dem Irdischen zurückziehen und physische innere Anforderungen hinzukommen werden – Das sehe ich wohl ein; aber alsdann, mein Herr! fängt Ihr wichtigstes Geschäft an. Ein Surrogat müssen Sie alsdann nothwendiger Weise ausfinden, ein Gefühl erwecken, das nicht hinleite auf einen abstrakten Gegenstand, ein edles, aber ein mächtiges Gefühl, das sein ganzes Wesen beherrsche – Ich glaube, Sie müssen dann sorgen, daß er in ein tugendhaftes Mädchen verliebt werde, damit er in dieser neuen Begeisterung alles Gute thue, um seiner Dulzinee würdig zu werden – Weiter habe ich Ihnen nichts von unserm jungen Menschen zu sagen; aber dafür stehe ich ein, daß ich ihn treu geschildert habe.«

Ja! das hat der ehrliche Werkmann, und da wir, liebe Leser! aus diesem treuen Bilde nun gesehen, inwieweit sich Ludwigs erste Anlagen entwickelt und was wir ungefähr in der Folge für ihn zu fürchten und von ihm zu hoffen haben, so wollen wir dies Kapitel schließen und in dem folgenden die Geschichte seines Lebens fortsetzen!


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