Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Theil

Erstes Kapitel

Zuvörderst versichre ich, daß es mich herzlich freuet, den Helden meiner Geschichte endlich einmal mit Ehren über seine Universitätsjahre hinausgeführt zu haben. Man macht einigen unsrer neuern deutschen Schriftsteller nicht ohne Grund den Vorwurf, sie stellten in ihren Romanen nur Studentencharaktere dar, und meint, es sey doch etwas gar Langweiliges für einen gesetzten, vernünftigen Mann, wenn man ihn in keine andre Gesellschaft als solcher ungebildeten Menschen führte, die im Grunde noch gar keinen Charakter hätten. Indessen darf man sich darüber nicht wundern, wenn man bedenkt, daß die mehrsten Derer, die Romane schreiben, sowie überhaupt die mehrsten unsrer heutigen Büchermacher entweder selbst nur noch unbärtige Jünglinge oder Leute sind, die keine andre Welt als die akademische kennen. Das ist nun zwar bey mir der Fall nicht, folglich kann ich mich dieser Entschuldigung nicht bedienen, wenn man mein Buch wegen des nämlichen Fehlers anklagt; allein ich habe etwas viel Besseres, wie ich mir einbilde, zu meiner Rechtfertigung zu sagen. Der Zweck meines Buchs ist nämlich, zu zeigen, durch welche Modifikationen sich in meinem Helden Charakter, Neigungen, Gefühle und Systeme nach und nach geformt, entwickelt und ihn zum Denken und Handeln bestimmt haben. Da nun der Grund hierzu bey ihm so wie bey allen Menschen vorzüglich in den Kinder- und Jünglingsjahren gelegt worden, so mußte ich auch bey diesen Perioden seines Lebens mich länger aufhalten und in mehr Details eingehn, als ich in der Folge thun werde, indem ich entschlossen bin, von nun an die Zeiträume enger zusammenzufassen.

Um zu zeigen, daß es mir mit dieser Abkürzung ein wahrhafter Ernst ist, will ich Sie auch, hochgeneigte Leser! mit der genaueren Reisebeschreibung der beiden jungen Herrn von einer Stadt zur andern verschonen. Dagegen aber müssen Sie mir gestatten, damit ich mein Hauptaugenmerk nie aus dem Gesichte verliere, Ihnen, bevor wir weiter gehen, eine allgemeine Skizze von Seelbergs Charakter, wie er jetzt war, vorzulegen; und dann wollen wir sehen, auf welche gute und böse Wege ihn diese Stimmung in der größern Welt, in welche er nun trat, führte.

Ich habe im dreizehnten Kapitel des ersten Theils dieser Geschichte einen Unterschied festgesetzt unter zweierley Gattungen von Mißtrauen gegen Rechtschaffenheit und Treue und dabey erwähnt, daß Ludwig damals nur noch von jener unschuldigen Art von Unglauben an die Würde der Menschen angesteckt war, von dem Unglauben, der sich auf Selbsterkenntnis, auf Bewußtseyn eigener Schwäche gründet, sich aber dennoch mit Duldung, Bruderliebe und Wohlthätigkeit verträgt. Jetzt hingegen, da er von vermeintlichen Freunden so schändlich war betrogen worden und, wie er glaubte, auch nicht einen einzigen ganz edeln Menschen angetroffen hatte, jetzt bekam er täglich eine größere Meinung von seinem eigenen werthen Ich und eine schmählichere von andern Leuten. Er besuchte also fremde Städte und Länder so, wie ein neugieriger hartherziger Mann Narren-, Kranken- und Zuchthäuser besucht; nicht als Arzt und Philosoph, der die Krankheiten des Leibes und der Seele studieren will, um Mittel zur Hilfe, Besserung und Erleichterung zu finden, sondern als Einer, dem die Fratzen der Narren und die Verwünschungen der Eingekerkerten Spaß machen, indem er sich dabey seiner Gesundheit und seiner Sicherheit freuet. Er suchte aller Orten Genuß, Lust, Abwechselung. Es fiel ihm nicht mehr der Gedanke ein, für Andre zu leben, Andern zu dienen, sondern sein Ich war ihm der Mittelpunkt alles Wirkens. War er vorher, aus Temperamentshang und Mangel an Überlegung, freigebig und verschwenderisch gewesen, so fing er nun an, den Werth des Geldes kennenzulernen und, um nicht wieder in Verlegenheit kommen zu können, ein guter Wirth zu werden, das heißt bey solchen Menschen: da zu sparen, wo ihm das Geld keine sinnliche Freuden verschaffen konnte, um immer einen gespickten Beutel zu haben da, wo sich Gelegenheit fand, zu genießen und zu schwelgen. Hatten ihn aber vorher die Anforderungen seines reizbaren Körpers und seine verwöhnten Begierden ohne feine Auswahl zu allerley Ausschweifungen hingerissen, über welche ihm nach geschehener That mehrentheils seine Vernunft Vorwürfe machte, so kalkulierte er jetzt besser. Er sündigte mit Raffinement, mit Vorsatz, sooft für den sinnlichen Genuß üppige Freuden zu erwarten und keine gefährliche Folgen zu befürchten waren, und die Überzeugung, daß niemand ihm helfen könnte noch würde, wenn er Vermögen oder Gesundheit (denn er hatte ebenso nachtheilige Begriffe von der Geschicklichkeit der Ärzte als von der Gutwilligkeit der Reichen) aufopferte, hielt ihn jetzt von Handlungen zurück, gegen welche ehemals die Stimmen der Religion und der Tugend vergebens gewarnet hatten, denn für diese Stimmen hatte er kein Ohr mehr. Er glaubte nicht mehr an Unschuld und Tugend, weil diese Gefühle in ihm schliefen und der Umgang mit schlechten Menschen und das Lesen schlechter Bücher den Sinn dafür erstickt hatten. Was die Religion betrifft, so haben wir schon gehört, daß sie seit langer Zeit nicht mehr ein Gegenstand seiner warmen, innigen Herzensergießung, sondern seines kalten Raisonnements geworden war, und von dieser Periode an konnte man sagen, daß er den ersten Schritt zu seiner sittlichen Verschlimmerung gethan hatte; denn was vermag die bescheidene Vernunft gegen ein feuriges Temperament und gegen stürmische, unaufhörlich die sanftere Stimme überschreiende Begierden? Wie leicht wird nicht der Sophist mit jener fertigwerden, wenn seine Empfindungen gegen ihre Gründe streiten? Kurz! Raisonnement ist zu schwach gegen Leidenschaft, und sollen Religion und Tugend die bösen Begierden in uns ersticken, so müssen beide auch einen Grad von Leidenschaft in uns erregt haben, deren reines Feuer jede wilde Flamme niederschlägt. Nur ein von heiliger Liebe zu dem unendlich gütigen Vater durchdrungenes Herz kann sich von niedrigen, unedlen Trieben losreißen, und ein einziger Vorwurf des geängsteten Gewissens, wenn es uns sagt, daß wir uns der höchsten Liebe unwerth machen, der Liebe des Wesens, an welchem wir mit ganzer Seele hängen, und daß wir das heiligste, süßeste Band zwischen unserm Vater im Himmel und uns zerreißen, Ein solcher Vorwurf ist für Den, welcher je die Wonne dieses Verhältnisses geschmeckt hat, mächtiger, uns vom Bösen abzuhalten, als hundert Appellationen an die gesunde Vernunft. Ist nicht selbst im bürgerlichen Leben der Wunsch, Liebe und Zuneigung nicht zu verscherzen, ein schärferer Sporn, gut und freundlich zu handeln, als die Idee, die Gerechtigkeit nicht zu verletzen? Wir sind nun einmal sinnlich.

Sobald Seelberg erst eine gewisse habitude im Laster erlangt hatte, so suchte er auch Gründe hervor, welche die zuweilen sich erhebenden innern Anklagen widerlegen mochten, und schuf sich ein Lehrgebäude, bey welchem er als ein ehrlicher Mann – ausschweifen könnte, und da ihm hierbey die Religion, auch als System betrachtet, im Wege stand, so mußte dieselbe fortphilosophiert werden, welches nicht viel Mühe kostete, da der Schritt vom Zweifel zum Unglauben nicht groß ist und da ich (das gestehe ich frey) alle theoretische Beweise für die Echtheit der geoffenbarten Religion a priori, alle Beweise, die sich nicht auf das Gefühl des Herzens und die Erfahrung von der Wohlthätigkeit ihrer Lehren gründen, für unmöglich überzeugend zu führen halte. Ich meine wahrlich, die Dogmatik sey ein gänzlich unnützes Ding, wovon die guten Apostel, welche so herrliche Pflichten predigten, gar nichts gewußt haben. Ich meine ferner, wer überzeugt sey, daß die Lehre Jesu ihn glücklich machen könne, der bedürfe keines weitern Beweises für ihre Echtheit, und wer das nicht sey und ihre Kraft auch nicht praktisch an sich prüfen möge, für Den sey es wohl einerley, was er glaube. Auch habe ich noch immer gefunden, daß Der, welcher gradeweg und treu seine Christenpflichten erfüllte, sich's gar nicht einfallen ließ, über gewisse dunkle Lehren ängstlich nachzugrübeln, Beweise von Wundern, Weissagungen und dergleichen aufzusuchen; fuhr ihm aber einmal ein Zweifel von der Art durch den Kopf, so war er sehr bald damit fertig und überließ solche Grübeleien den Herrn Geistlichen, deren Fach das ist. Wo ich hingegen Unglauben oder gar Religionsspott fand, da traf ich auch immer unreine Sitten an, und so wie ein böser Nachdrucker sich ein Privilegium von eben dem Fürsten zu erschleichen weiß, der schon über das nämliche Buch, aber unter anderm Titel, dem rechtmäßigen Verleger ein ausschließliches Recht ertheilt hat, so erzwingen solche sogenannte Freigeister von der Vernunft, auf deren göttlichen Ursprung sie pochen, einen Freiheitsbrief gegen die deutlichen Dokumente, die der Schöpfer selbst in unser Herz geschrieben hat und wovon das, was in der Bibel steht, nur eine Kopie ist.

Sobald also Seelberg anfing regelmäßig auszuschweifen (wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf), und nachher, als er allen Glauben an Tugend und den Sinn für Unschuld und Rechtschaffenheit verlor, da verwandelten sich auch seine Religionszweifel in offenbare Verachtung und Verleugnung derselben. Einst hatte er darüber ein Gespräch mit einem redlichen frommen Geistlichen, zu dem er von Ungefähr in Gesellschaft gerieth – ich sage: von Ungefähr, denn er floh, und das thun gewöhnlich die Leute seiner Art, diesen ehrwürdigen Stand wie der Dieb den Polizeidiener. Nach mancherley Gesprächen über Religion, zu welchen er den Pfarrer nöthigte, forderte er ihn auf, indem er ausrief: »Sagen Sie mir doch, ob denn der Verbrecher weniger geworden sind, seit uns das Licht der Religion leuchtet? Sagen Sie mir doch, ob Sie der großen, edlen Thaten mehr aufweisen können und der Schurkereien und Schelmereien weniger seit der Zeit, da das Christenthum ausgebreitet ist, weniger als ehemals unter den blinden Heiden, den Griechen und Römern? Sagen Sie mir doch, ob vormals mehr Königsmorde, Straßen-, Kronen-, Länder- und Ehrenräubereien als gegenwärtig vorfielen? Sagen Sie mir doch, ob nicht in solchen Provinzen, in welchen am eifrigsten die christliche Religion gelehrt und getrieben wird, am mehrsten Laster im Schwange gehn? Sagen Sie mir doch, ob man je etwas in der Welt von Verfolgungen um des Glaubens willen gehört gehabt als seit der Zeit, da das Christenthum, welches doch so herrlich Duldung und Bruderliebe predigt, die Menschen gelehrt hat, sich verschiedener Meinungen wegen zu erwürgen?«

»Wenn ich durchaus auf dies alles antworten soll, mein Herr!« erwiderte der Pfarrer, »so hören Sie denn dies Wenige! Der Verbrecher mögen wohl vielleicht nicht weniger geworden seyn, weil die christliche Religion die menschliche Natur nicht umschaffen kann; aber sie hat uns einen Weg gezeigt, der den Bösewicht vor Verzweiflung zu bewahren vermag, indem sie ihn vor Verstockung warnet und verspricht, ihn mit liebreicher Hand in den Schoß des besten Vaters zurückzuführen, wenn er sich bessert. Sie hat uns außer den innern und äußern Vortheilen, welche Rechtschaffenheit und Tugend gewähren, noch einen Bewegungsgrund mehr gegeben, gut zu seyn, nämlich den, daß wir durch Ausübung jeder Pflicht dem gütigsten, liebreichsten Wesen gefallen und ihm näher kommen. Es kann seyn, daß unter den Heiden manche laut gepriesene schimmernde Tugenden, die aber oft nur glänzende Verbrechen oder wenigstens Fantasmen sind, in größerer Zahl und in höherem Grade geherrscht haben als bey uns; allein mehr stille, unerkannte, von niemand als dem einzigen Gotte gesehene edle Thaten werden gewiß unter den Christen ausgeübt, weil diese mehr Veranlassung, mehr Gründe dazu haben; weil unsre Religion uns mit manchen Tugenden bekannt macht, die von den Heiden verkannt wurden, wie zum Beispiel die Liebe der Feinde; weil sie uns andre von einer so liebenswürdigen Seite vorstellt, daß ein gutgeartetes Gemüth mit Enthusiasmus dafür erfüllt werden muß; weil sie uns die Abscheulichkeit mancher Laster und mancher leidenschaftlichen Ausbrüche, wie zum Beispiel der Rache, mit lebhaften Farben schildert. Was Sie übrigens unter den Ländern verstehen, in welchen die christliche Religion am eifrigsten getrieben wird, weiß ich nicht. Sie werden doch wohl nicht die Häufung gottesdienstlicher Ceremonien und kirchlicher Versammlungen für wesentliche Kennzeichen halten, daß an solchen Örtern, wo diese die besten Stunden des Tages ausfüllen, am mehrsten Religion herrsche? Die echte Religion Christi, das lassen Sie Sich sagen, ist kein Ding, so in Ländern getrieben wird, wie Sie Sich vorhin ausdrückten, sondern ein Feuer, das nur die Herzen einzelner Menschen aus allen Kirchen, in allen Gegenden der Erde erwärmt und die, welche es erwärmt, auch gewiß glücklich und zu guten Menschen macht. Nicht die Lehre Jesu, sondern der Geist des Zeitalters und die Herrschsucht der Menschen hat die Religionsverfolgungen verursacht. Indessen ist es auch nicht sehr zu verwundern, wenn eine Lehre, die so wenig gemacht ist, den bösen Leidenschaften der Menschen zu schmeicheln, zu Widersprüchen und sophistischen Auslegungen Anlaß gegeben, doch waren die, welche sich verschiedener Meinungen wegen verfolgten, gewiß keine echte Christen, sondern sie nahmen die Religion zum Vorwande ihrer unfriedlichen Gesinnungen und würden leicht einen andern gefunden haben, sich die Hälse zu brechen, wenn dieser nicht gewesen wäre. Sind nicht unsre Deisten, unsre Pfaffenfeinde und unsre gelehrten Journalisten zehnfach intoleranter und feindseliger als unsre neueren Orthodoxen?«

Ludwig wandte hiergegen wiederum manches ein, persiflierte, wo seine Gründe nicht hinreichten, und kam dann auf einige spezielle Lehren der Religion, gegen welche er längst widerlegte, aus den Büchern, die er ehemals in Göttingen gelesen, geschöpfte Einwürfe vorbrachte, zum Beispiel: von dem natürlichen Hange, den der Mensch zum Bösen hätte, für dessen Urheber er den Schöpfer erklärte, welcher wie jeder Künstler die Unvollkommenheiten seines Werks verantworten müßte, worauf ihm der Pfarrer nur antwortete: daß das Universum höchst vollkommen erschaffen, daß der Mensch nicht der Mittelpunkt der ganzen Schöpfung und daß der freie Wille, womit Jener ausgerüstet, die Gewalt, einen für ihn selbst guten oder schlimmen Weg zu gehn, ein herrliches Geschenk sey, das ihn in den Stand setzte, sein eigenes Glück zu bauen, daß, wenn ihn aber seine Begierden öftrer auf Abwege als auf die rechte Straße leiteten, dies von der üblen Lenkung dieser seiner Federkräfte, nämlich der Leidenschaften herrühre, die aber ebensowohl auch den edelsten Handlungen den Ursprung gäben, daß übrigens der Mißbrauch seiner so unschätzbaren Freiheit im Grunde niemand als ihm selbst wesentlich schade und daß dadurch die Vollkommenheit des ganzen Gebäudes im Mindesten nicht gestört werde.

Sodann kam Seelberg auf das Erlösungswerk und fand: daß es lächerlich sey, anzunehmen, Gott habe je darüber zürnen können, daß die Menschen also sind, wie sie ihrer schwachen Natur nach nothwendig seyn müssen, und es habe einer Art von Aussöhnung, besonders eines Blutopfers bedurft, um den über die Unvollkommenheiten seines eigenen Werks erzürnten Schöpfer zufriedenzustellen.

Hierauf sprach er überhaupt von Moralität und freiem Willen: »Wenn der Schöpfer«, sagte er, »den Trieben, die in uns wirken, eine solche Kraft gegeben hat, daß sie uns mit Gewalt zu gewissen Handlungen hinreißen, trotz allen künstlichen, konventionellen Vorkehrungen, die das Ding, so wir Vernunft nennen, dagegen zu treffen sucht; wenn Furcht vor Strafe und Schande, Überzeugung des Bessern, Aussichten von Elend, Schmerz und Jammer uns nicht zurückzuhalten vermögen, diesen Naturtrieben zu folgen, wie wir denn täglich davon die Beispiele wahrnehmen, so sehe ich nicht ein, wie wir Verantwortung davon haben können, wenn wir diesen Trieben, das heißt, der Natur gemäß handeln, da diese Triebe stärker sind als alles, was wir ihnen entgegenzusetzen versuchen, und warum ein Mensch deswegen verdammt werden sollte, weil er seine Natur nicht hat verleugnen können.«

Der Pfarrer wußte wohl, daß man in der Welt nie den Mann überzeugt, dessen Herz bey dem Gegentheile dessen, was wir ihm beweisen wollen, sich besser zu befinden glaubt. Er stritt deswegen sehr ungern über Glaubenslehren, weil er wußte, daß ein solcher Streit immer mala fide geführt wird; doch konnte er auch den Gedanken des Vorwurfs nicht ertragen, er schweige darum bey solchen Anfällen, weil er nichts zum Besten seiner Sache zu sagen wüßte. In dieser Verlegenheit befand er sich auch itzt. Was er also antwortete, sollte weniger eine förmliche Widerlegung der so oft schon widerlegten Einwürfe als vielmehr ein Zeugnis seyn, daß ihm die Lehren, welche Seelberg angriff, theuer und heilig wären. »Mein Herr«, sagte er also, »diese Gegenstände sind so oft in den vortrefflichsten Werken solcher Männer, die von der Wahrheit der Religionslehren zwar nicht mehr überzeugt als ich, aber geschickter waren, den Grund ihrer Überzeugung Andern vor Augen zu legen, daß ich mich in meinem oder Ihrem Namen schämen müßte, wenn ich glauben wollte, Sie stritten über dergleichen Gegenstände, ohne das, was hierüber schon so vielfältig ist vorgebracht worden, gelesen und durchdacht zu haben. Also nur so viel! Das große Versöhnungsopfer Christi ist wohl von einigen Lehrern der Religion nicht immer aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet worden. Dies göttliche Geheimnis von der Menschwerdung Gottes ist zwar auch weit über unsern Gesichtspunkt erhaben, und warum sollte es auch das nicht seyn, da so sehr viel, ja beinahe alles in der Natur, uns Geheimnis ist? Wenn wir nicht begreifen können, wie es zugeht, daß lebendige Geschöpfe wiederum ihres Gleichen zeugen können, wenn wir nichts wissen von dem Wesen des uns belebenden Geistes und von dem Zusammenhange der sichtbaren und unsichtbaren Welt, so ist es wohl nicht zu verwundern, wenn wir noch weniger fassen können, wie es möglich gewesen, daß die höchste Gottheit sich mit der menschlichen Natur habe vereinigen können, daß es dieser Vereinigung bedurft, um eine durch den Fall der Menschheit zerrissene Verbindung mit der göttlichen Urquelle wieder anzuknüpfen, und wie diese göttliche Natur auch alle Leiden und Verfolgungen habe erdulden, ja! selbst den schimpflichsten Tod sterben müssen, den die widerstrebende Bosheit dem Gottmenschen zubereitete und der zugleich Bestätigung seiner göttlichen Sendung und der Vortrefflichkeit seiner Lehre war. Ich sage, wir begreifen das nicht, können aber fest überzeugt seyn, daß Gott, unser liebreicher Schöpfer, nicht zugeben würde, daß so viel tausend seiner Geschöpfe Glück, Seelenruhe und Seligkeit auf einen Irrthum baueten und darauf lebten und stürben, wenn es wirklich Irrthum wäre. Und was bedarf es abstrakter Beweise für eine Lehre, deren wohlthätige Folgen für die ganze Menschheit so sichtbar sind, eine Revolution, der wir Aufklärung, Freiheit und Berichtigung aller unsrer moralischen und politischen Begriffe zu danken haben? Übrigens, mein Herr! wundert es mich gar nicht, daß, nach den Ideen, welche Sie von Moralität zu haben scheinen, von der Befugnis jedes Menschen, seinen Trieben zu folgen, und von der Unmöglichkeit, gewisse Leidenschaften nach und nach durch vernünftige Vorstellungen und Mittel zu dämpfen, daß Sie bey diesen Gesinnungen lieber nicht an die Wahrheit der christlichen Religion glauben. Was soll man mit einem beschwerlichen Hofmeister machen, wenn man sich vorgenommen hat, ihm nicht zu folgen? In diesem Augenblicke würden die stärksten Beweise Sie weder überzeugen noch beruhigen; aber ich versichre Sie, daß Der, dessen Herz den wohlthätigen Einfluß des Christenthums an sich selbst empfindet, Der, dessen inneres moralisches, nicht verwahrlosetes Gefühl in allem mit diesen Lehren harmoniert, der seinen Wandel nach etwas einrichtet, das, wie Prior sagt, erhabener als der Schul-Jargon von Tugend und Laster und höher ist als der tote Buchstabe des Gesetzes, daß Der gar keine Beweise für die Echtheit der seligmachendsten Lehre fordert. Ich hoffe, dieses Gefühl wird auch einst in Ihnen erwachen – Doch, noch eins! Wissen Sie irgendeine bessere Lehre, die beruhigender und vernünftiger ist, die uns mehr Trost gibt, mehr Zweifel auflöset, eine gesundere Philosophie enthält, uns tiefere Blicke in die menschliche Natur und in das Innere der Schöpfung thun läßt und uns bestimmtere Nachricht von unserm vergangenen und künftigen Zustande gibt, so beglücken Sie mich durch Mittheilung derselben! Ich bin bereit, sie anzunehmen und mein Christenthum öffentlich zu verleugnen.«

Seelberg that nun bey diesen und ähnlichen Beantwortungen seiner Einwürfe das, was die Franzosen battre la campagne nennen. Er kam aus dem Hundertsten in das Tausendste, hielt sich bey einzelnen Stellen der Widerlegung auf, wo etwa der Ausdruck nicht bestimmt genug gewesen, wo nicht alles war gesagt worden, was man hätte sagen können, und gegen das Wenige, so der Vertheidiger vorgebracht, sich manches noch erinnern ließ. Sodann kramte er sein Systemchen aus, welches er sich auf seine eigene Hand vom Universum zusammengeflickt hatte, ein System, das freilich unendlich mehr Lücken als das der Theologen und obendrein noch eine ungeheure Menge von Widersprüchen zeigte, im Ganzen aber seiner Meinung nach ganz neu war, obgleich es aus ægri somniis bestand, die, vor ihm, ältere Philosophen, Epikur, Cartesius, Boulanger, Spinoza und Helvetius und Gott weiß wer sonst noch! sehr viel zusammenhängender geträumt hatten. Allein das ist das Fach solcher neuern Weltweisen nicht, dergleichen Werke zu lesen, aus welchen sie ihre unbestimmten Ideen berichtigen oder wenigstens sich und Andern viel unnütze Worte ersparen könnten, wenn sie lesen wollten, wie man ihre Ideen schon vor Jahrhunderten gehabt hat. Da kam denn aber ein Gemische von Materialismus und Idealismus und Deismus und Atheismus zum Vorschein. Bald waren das Universum und die Gottheit Eins; bald war alles von Ewigkeit her also gewesen; bald hatte sich alles durch Sympathie nach und nach harmonisch vereint und geformt; bald war alles, was wir sehen, hören, denken und empfinden, Täuschung; bald war die Moral die von der Natur selbst geordnete Richtschnur zu Erhaltung der Harmonie; bald diese nämliche Moral ein Fantom – Doch, ich schweige von solchen Armseligkeiten.

So sah es indessen mit Ludwigs Sittlichkeit und Religiosität aus, und in ihm schlief jede Federkraft, jedes Streben, etwas Nützliches für Welt, Menschen und Gesellschaft zu thun. Alles konzentrierte sich auf den abgeschmacktesten Egoismus, wozu dann noch eine unermeßliche Einbildung von seinen Verstandeskräften und seinem Vermögen, über Gegenstände aus allen Fächern der Gelehrsamkeit zu entscheiden, eine Verkältung des Herzens, eine Begierde, witzig zu seyn, alles, auch das Ernsthafteste und Ehrwürdigste von der lustigen Seite anzusehn, und ein Hang zu hämischem Spotte und zu kleinen, unedlen Neckereien sich gesellte.

Dies Bild, so wie ich es da aufgestellt habe, liebe Leser! ist wohl das Bild eines sehr verächtlichen Charakters, und man wird sagen, daß nicht leicht eine Schurkerey gedacht werden könne, deren nicht ein Mensch fähig seyn sollte, welcher aus Grundsätzen untugendhaft, ein Verächter der Religion, eitel, Egoist, sparsam in Geldsachen, ohne solide Gelehrsamkeit, unthätig und untheilnehmend ist, keinen Freund und keine Geliebte, aber einen Hang zur schlimmsten Art von Satyre hat – Und doch verzweifle ich nicht daran, Sie noch einst mit dem Helden meiner Geschichte wieder auszusöhnen, ja! um Ihnen dies wahrscheinlich zu machen, so erlauben Sie mir, Ihnen Folgendes vorzustellen: Ludwig war noch kein Mann, folglich hatten gute und böse Dispositionen bey ihm noch nicht durch die Fertigkeit, seinen Systemen gemäß zu handeln, irgendeinen Grad von Festigkeit erlangt. In den Jünglingsjahren hat man in der That noch keinen bestimmten Charakter, besonders wenn man wie Seelberg sanguinischen Temperaments, folglich leicht zu reizen, leicht umzustimmen, leicht froh zu machen und in der Fröhlichkeit fähig ist, Empfindungen des Wohlwollens in sich erregen zu lassen. Dazu kam dann auch noch ein Überrest von den ersten Eindrücken aus seiner zarten Jugend, die nicht so leicht verlöschen, ein gewisser Instinkt, ein heimliches Sehnen nach einer friedenvollern Existenz und ein Thätigkeitstrieb – welches alles itzt zwar in ihm schlummerte, aber oft unwillkürlich erwachte, wie ich davon ein paar Beispiele bey Gelegenheit zweier Vorfälle erzählen werde, die ihm auf seiner Reise begegneten.

Jetzt wurde aber wirklich von vielen Seiten alles dazu beigetragen, ihn in seiner Verirrung zu erhalten. Leuchtenburg, sein Reisegesellschafter, suchte aller Orten die Fehler der Menschen auf, um seine Anekdotensucht zu befriedigen. Er besuchte in allen Städten die mit ihm brüderlich verwandten Reformations- und Aufklärungszünfte und schloß sich an den Haufen der Malkontenten, die deswegen auf Fürsten, Regierungen und Klerisey schimpften, weil sie nicht an der Spitze standen, sondern eine kleine Figur im Staate spielten. Hatte nun Leuchtenburg entweder in Seelbergs Gesellschaft oder, wenn Dieser sinnlichen Vergnügungen nachrennte, ohne ihn den ganzen Tag durch sich so herumgetrieben, so kramte er, wenn sie des Abends miteinander allein waren, seinen ganzen Vorrath von gesammleten hämischen Bemerkungen aus. Selten begegnete es ihm, zu erzählen, er habe eine nicht viel Lärm machende edle Handlung erfahren, einen wahrhaftig großen Mann entdeckt; denn die großen Leute dringen sich den Reisenden nicht auf, sind auch mehrentheils die am wenigsten Bemerkten, Unbekanntesten im Volke, und wenig Reisende haben Gelegenheit dazu und Sinn dafür, die stillen, häuslichen Verdienste zu bemerken und den großen Mann in seinen Familienverhältnissen kennenzulernen, da doch hiernach allein der wahre Werth eines Menschen bestimmt werden kann. Die öffentlichen, auf dem bürgerlichen Schauplatze vorgehenden Handlungen werden theils von Konventionen regiert, denen sich Verfasser und Schauspieler unterwerfen müssen und die fast allen diesen Handlungen eine gewisse Gleichförmigkeit geben; theils wirkt der Zauber der Kunst, die Schminke, der Putz und die Erleuchtung durch ihre Illusion so mächtig, daß man das Wahre nicht von dem Falschen unterscheiden kann, und endlich ist es überhaupt unbillig, wenn man auch nur auf einen Augenblick vergißt, daß man da nur Schauspieler sieht, denen ihr Prinzipal, das Schicksal, eine Rolle zugetheilt hat, die ihnen oft unnatürlich genug ist. Da aber Seelberg hierauf wenig Rücksicht nahm, so sah er freilich Dinge genug, die seinen Widerwillen gegen die Menschen vermehrten – Aller Orten Schein für Wahrheit verkauft, Heucheley für Tugend und Gottesfurcht; Dummheit und Unwissenheit in dem Gewände verschlossener Weisheit oder prahlender Unverschämtheit. Die auf die höchsten Stufen irdischer Hoheit Erhabenen, die von dem Volke als die Besten und Weisesten Gepriesenen oft, in der Nähe betrachtet, die gemeinsten, mittelmäßigsten Menschen; berühmte Gelehrte und Bücherschreiber, deren Manche im gemeinen Leben nicht fähig waren, ein einziges verständiges, zusammenhängendes Gespräch, das nur gesunde Vernunft verrathen hätte, über irgend einen Gegenstand zu führen; Philosophen und Sittenprediger, die niedrige Sklaven der unmäßigsten Begierden waren, und Künstler, worauf die Nation stolz war, die kein Kunstgefühl, nicht den geringsten philosophischen Sinn, nicht einen Gran eigenen Geschmacks, Originalität noch wahren, feinen Studiums hatten, und mehr dergleichen Erscheinungen.

Was sodann Seelbergs religiöse Stimmung betraf, so wurde auch diese auf seiner Reise nicht veredelt. Er traf, besonders in den katholischen Ländern, unter dem vornehmen und gemeinen großen Haufen (und den kleinern lernte er ja nicht kennen, wie wir gehört haben) nur zwey äußerste Punkte an, nämlich entweder die niedrigste, platteste Bigotterie oder die frecheste Irreligiosität und von Zügellosigkeit der Sitten begleitete Verspottung alles dessen, was den Bessern das Ehrwürdigste ist; Geistliche, welche die Religion lästerten, sich aber doch reichlich dafür bezahlen ließen, die Diener und Verkündiger dieser Religion zu seyn (welches nun freilich höchst schändlich und abscheulich ist).

Alle diese Beobachtungen nun wirkten in Seelbergs Denkungsart und Charakter Bestärkung in den bösen Anlagen, mit welchen er ausgereiset war. Da er ferner bey dem Herumziehen täglich mit andern Menschen von so verschiedenen Arten lebte, so interessierte ihn fast Keiner mehr. Er lernte auch, für jede Gesellschaft einen andern Ton annehmen, weil sein Genuß vermehrt und seiner Eitelkeit geschmeichelt wurde, indem man ihn gern sah, wenn er sich den Leuten gleichstellte, und der ganze Zweck seiner Reise kein andrer war als der: sich zu belustigen. Über diese Geschmeidigkeit und öftere Umkleidung in andre Formen aber ging nach und nach alle Eigenheit und Bestimmtheit verloren. Weil indessen doch ein Mensch von so viel Ansprüchen wie Seelberg gern etwas Ausgezeichnetes vorstellen mag, so nahm er zwischendurch wieder, besonders im Äußern, eine gewisse Bizarrerie an, die er sich selbst für Originalität verkaufte und worin auch Signor Leuchtenburg ihn bestärkte. Die beiden jungen Herrn kleideten sich daher auf eine ganz ausgezeichnete Weise, redeten eine gewisse Kraftsprache und machten allerley Geniestreiche, so daß sie in einer Stadt den Ruf von angenehmen Gesellschaftern, in einer andern den von sonderbaren Menschen hatten, indes man ihnen in einer dritten das Zeugnis gab, es fehle ihnen zwar nicht an Verstande, aber es sey noch nicht recht geordnet in ihren Köpfen, und man sie in mancher Stadt für Thoren hielt, aber aus keiner einzigen ihnen nachsagte: »Da reiset wieder ein Paar recht edler Jünglinge hin!«


 << zurück weiter >>