Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Zweites Kapitel

Wir reden jetzt von einer Periode in Ludwigs von Seelberg Leben, in welcher der Grund zu den mehrsten Verirrungen gelegt wurde, in die er nachher mit Kopf und Herzen gerieth. Sein Vater, nachdem er noch zwey Jahre hindurch auf dem alten Fuße fortgewirthschaftet hatte, fing nun an schwächlich zu werden; Unmäßigkeit und der vielfach Verdruß, den er sich zugezogen, hatten seine Gesundheit untergraben; jetzt kam er von seinem Hange zu rauschenden Freuden gänzlich zurück, trennte sich beinahe von allen Menschen, unter denen er so viel Feinde hatte, und schuf sich, in seiner isolierten Existenz, ein System von philosophischer Lebensart. (Denn mit diesem Namen benennen wir gewöhnlich, am Ende einer inconsequent und planlos durchrennten Laufbahn, eine Lebensart, wozu nicht Grundsätze und reife Überlegung, sondern Überdruß, Noth, Eigensinn, verstimmte Laune oder gekränkter Stolz uns treiben, drücken dann den falschen Stempel der Philosophie auf das Produkt unsrer Thorheit, hängen das Schild eines Minerventempels über den Eingang eines Hospitals und den Philosophenmantel über den zerrissenen Hannswurstrock.) Der alte Seelberg las Bücher über moralische, am mehrsten aber über spekulative, abstrakte Gegenstände, raisonnierte mit den Wenigen, die ihn umgaben, über Unsterblichkeit der Seele, über Nichtigkeit irdischer Freuden, über Zusammensetzung des Weltalls, über Monaden, Materialismus, Engel und Schutzgeister und hätte gern aus seinem Hause eine Akademie gemacht. Diese künstliche Existenz aber, die im Grunde gar nicht für ihn paßte, gewährte ihm auch keinen Frieden, noch machte sie ihn zum bessern Menschen, als er vorher gewesen. Seine Leidenschaften waren nur stumpf geworden, allein sie hinkten unaufhörlich um den Genius der spekulativen Philosophie herum, der seine Marktschreierbude mitten unter ihnen aufgeschlagen hatte, und der nämliche Mann, der mit hinreißender Beredsamkeit über die Armseligkeit aller Güter dieser Welt deklamierte, zitterte vor Zorn und Rache, wenn er sich der Demüthigungen erinnerte, die er hatte ertragen müssen. Er lebte in immerwährendem Kampfe mit sich selbst, konnte es sich nicht verbergen, wie sehr er Ursache hatte, sich wegen des Vergangenen Vorwürfe zu machen, und hätte sich doch so gern davon überredet, daß er nur durch die Ungerechtigkeit des Schicksals und durch die Falschheit der Menschen litte. Diese innerlichen Bewegungen erzeugten dann in ihm die unerträglichsten Launen, und die Ausbrüche derselben trafen unglücklicher Weise größtentheils den armen Ludwig.

Der gute Junge war seinem Vater zu milde, zu weiblich und nicht gelehrt genug, welches Letztere doch wahrlich seine Schuld nicht war, da Seelberg bis itzt sich nicht im mindesten darum bekümmert hatte, ihm Kenntnisse beizubringen, und er bis in sein jetziges zehntes Jahr noch keinen andern Unterweiser als seine Mutter gehabt hatte. War es nun, daß die Sanftmuth seines Charakters den Vater an Wilhelminens herrliche Eigenschaften erinnerte und ihm dann sein Gewissen sagte, wie glücklich er hätte seyn können, wenn nur der geringste Theil ihrer Vollkommenheiten bey ihm Wurzel gefaßt hätte, oder fürchtete er, der Sohn möchte einst, wenn er besser als er würde, seinen Vater verachten? – genug! er liebte den Knaben nicht, war ungerecht gegen ihn, konnte ihn nie sehn, ohne mit ihm zu schmälen, und beklagte sich gegen jedermann darüber, daß der Junge so dumm und so unmännlich wäre. Und hierin irrte er doch sehr; Ludwig hatte herrliche Naturgaben, aber sie waren nicht ausgebauet; seine Mutter hatte theils selbst hierzu nicht wissenschaftliche Kenntnisse genug gehabt, theils glaubte sie, es sey damit noch nichts versäumt, wenn nur das Herz rein erhalten würde; endlich hatte sie auch des kleinen Knaben sehr geschont und ihn nicht angreifen wollen, weil er überaus schwächlich zu seyn schien und die zu zärtliche Mutter es nicht über sich gewinnen konnte, irgend etwas mit ihm zu wagen.

Das große Genie und der recht dumme Tölpel kündigen sich oft in der ersten Jugend auf einerley Art an. Beide scheinen an Leib und Seele gleich links zu seyn: die Dummen, weil sie sich nicht Anstrengung genug geben können oder zu faul sind zu entwickeln, zu ergründen, zu fassen und einzudringen; jene aber, weil sie entweder in der Höhe ihres Flugs die nöthigen kleinen Details, welche zu Anordnung des Ganzen gehören, verachten und übersehen, oder weil ihre zu große Lebhaftigkeit sie zerstreuet, ihr zu unruhiger Thätigkeitstrieb ihnen nicht erlaubt, bey einer Sache lange zu verweilen. Es gibt Mittel, dergleichen Geister früh zu fixieren, aber mehrentheils beurtheilt man sie falsch und wählt die unrichtigen Mittel. Mit gereizter Nacheiferung und Erweckung des Ehrgeizes verfehlt man bey ihnen selten den Zweck, und dann kömmt man mit einem Solchen in einer halben Stunde weiter als mit einem kalten, fleißigen Jungen von stumpfen Organen in halben Tagen.

Seelberg, der überhaupt, wie wir gesehn haben, bey allen seinen Handlungen nur seinen leidenschaftlichen Eingebungen, selten aber einer nüchternen Überlegung und Nachforschung folgte, gab sich nicht die Mühe, seines Sohnes Anlagen kennenzulernen, sondern, weil er einmal gegen ihn eingenommen war, so erklärte er ihn gradezu für einen Schwächling an Geist und Körper, konnte nicht begreifen, wie ein so gescheiter Mann als er einen solchen Sohn habe zeugen können, ging hart mit ihm um, neckte ihn unaufhörlich, zog ihn seiner vermeinten Dummheit wegen auf und hoffte ihn dadurch anzuspornen; allein er betrog sich. Ludwig fühlte die Ungerechtigkeit dieses Betragens; seine Zuneigung wendete sich weg von seinem Vater, und nun sah er auch deutlich grobe Fehler an demselben. Die Vergleichung, die er zwischen ihm und seiner guten Mutter anstellte, und bey welcher Vergleichung die harte Behandlungsart des Einen gegen die liebreiche Führung der Andern der Waagschale den größten Ausschlag gab, verdrängte endlich alles Gefühl von kindlicher Liebe aus seiner Seele und erbitterte ihn gegen den, welchen zu ehren ihm seine Mutter doch zur heiligen Pflicht gemacht hatte.

Hierzu kam, daß Seelberg sehr unglücklich in der Wahl der Hofmeister war, die er seinem Sohne gab. Er vertrauete ihn zuerst der Führung eines steifen Magisters an, der nicht die geringsten Grundsätze von Erziehung, auch keine Disposition und Stimmung dazu hatte. Dieser rauchte den ganzen Tag durch Tabak, trank Merseburger Bier dazu, und da er fast immer einen rauhen Hals hatte, so nahm er die Zuckerbildlein, welche Ludwig ehemals von seiner Mutter zum Weihnachtsfeste geschenkt bekommen hatte und welche dieser als ein Heiligthum aufbewahrte, schmolz sie an seiner gelehrten Lampe wie der große Chemiker Moises das goldene Kalb der Israeliten und fraß sie dann auf. Dagegen aber konnte er in den langen Winterabenden mit dem alten Herrn über die systemata harmoniæ prastabilitæ, causarum occasionalium und influxus physici wacker deraisonnieren. Da indessen dieser finstre Gelehrte einst seinen Prinzipal sein Übergewicht von Erudition fühlen ließ, so mußte er fort, worauf er nach Jena und Leipzig ging, Mitarbeiter an zwey großen gelehrten Journalen, auch Mitglied der bernburgischen Gesellschaft wurde und viel über Erziehung schrieb. Nach ihm kam ein polyhistorischer Schwätzer, welcher mit der Hausmagd Zwillinge erzeugte und sich, sobald die Sache sichtbar wurde, in der Nacht davonmachte, ohne die glückliche Niederkunft abzuwarten, worauf er bey des Herrn Döbblin Gesellschaft in Berlin Schauspieler wurde. Ihm folgten kurz nacheinander noch Einige, die auch nicht viel mehr taugten, bis auf ein paar würdige und geschickte Männer noch, die es aber nicht lange in Seelbergs Hause aushalten konnten – Mit Einem Worte! Ludwig rückte in Wissenschaften und Sprachen bis zu seinem dreizehnten Jahre beinahe gar nicht fort, außer, daß von den wirklich zuweilen sehr gelehrten und verständigen Gesprächen seines Vaters mancher gute Brocken hängenblieb, wie man denn überhaupt eher das behält, was nicht absichtlich für uns gesagt wird, als das, was man uns nach einer vielleicht für uns nicht passenden Methode schulmäßig eintrichtern will. Aber er lernte doch viel – viel Gutes und noch mehr Böses. Die Kinder sind die aufmerksamsten, stillsten Beobachter, und ich möchte fast sagen, die besten, unbefangensten Menschenkenner. Von seiner ersten Jugend an hatte Ludwig in seines Vaters unruhigem Hause unter einer zahllosen Menge von Originalen aller Art und allerley Standes gelebt; seine Hofmeister hatte er noch genauer kennengelernt, sie oft, selbst bey dem Unterricht in den Wissenschaften, übersehn, ihre Unwissenheit, wenn es auf Klarheit der Begriffe und deutliche Darstellung ankam, gemerkt, ihre Gebrechen ausfindig gemacht, dabey die mannigfaltigen großen Fehler und Blößen seines Vaters, der ihn täglich weiter von sich stieß, studiert, und daraus gelernt, denselben und überhaupt Alle, mit denen er lebte, wenn es grade sein kleines Interesse erforderte, durch Schmeicheley und andre Künste bey den schwächsten Seiten zu fassen.

 

Nun verlor also Ludwig viel von der edeln Einfalt seines Charakters, bey der ihn seine würdige Mutter erhalten hatte, verlor an Liebe, Demuth, Gradheit, Nachgiebigkeit und Duldung. Er fing an, Menschen kennen, aber auch geringschätzen und zu seinen Zwecken nützen zu lernen; er wurde gleichgültiger gegen Familienband und Blutsverhältnisse; er lernte Schwachheiten bemerken, Schwachheiten ausspähen, gegen Schwachheiten erbittert werden, nach den Umständen sich schmiegen und sich gegen Menschen verstellen, die er nicht schätzte. Er lernte von sich selbst eine hohe Meinung hegen, Zurücksetzung fühlen, durch oft erlittene ungerechte Zurücksetzung eingebildet von seinen Vorzügen, aus Gegenkraft herrschsüchtig, aus Gefühl seines innern mißkannten Werths stolz werden. Endlich, weil sein Vater ihn nicht liebte, so wurde er auch schlecht in Kleidern gehalten, und dadurch entstand bey ihm ein gewisser Hang zur Pracht, wie es denn in der menschlichen Natur liegt, das zu wünschen, was uns versagt wird.

Allein bey dieser moralischen Verschlimmerung, die unmerklich bis zu seinem dreizehnten Jahre zunahm, ging dennoch nicht alles verloren, was Wilhelmine in ihres Sohns junges Herz gelegt hatte. Er behielt den Sinn für Liebe und Freundschaft, aber dieser Sinn vereinzelte sich mehr, umfaßte nicht mehr so alles um ihn her. Er sehnte sich, aber vergebens, in seines Vaters Hause nach einer sanften Seele, an die er sich hätte sympathetisch anschließen können, trauerte manche Stunde darüber, daß er keine fand, und dies erbitterte ihn um desto mehr gegen die, mit denen er leben mußte. Er war empfänglich für reine Freuden des Herzens, und die Musik (das Einzige, worin er gründlichen Unterricht bekam, weil grade ein guter Tonkünstler dort wohnte, Ludwig bald sehr viel Talent dazu zeigte und in Kurzem große Fortschritte darin machte), die Musik, sage ich, trug nicht wenig dazu bey, ihn äußerst empfindlich und reizbar zu machen. Er wurde gerührt von großen Handlungen, wenn er dergleichen erfuhr, fühlte sich hingezogen zu edeln und weisen Menschen, wenn er so glücklich war, solche anzutreffen. Man entzog ihm aber allen weiblichen Umgang, und das that ihm wehe. Übrigens blieb sein Nervensystem sehr zärtlich, bey einer weichlichen, an manche unnütze Bedürfnisse gewöhnten Lebensart in einem Hause, wo immer eine Art von Wohlleben geherrscht hatte. Aus diesem Allen nun ließen sich in seinen nachherigen Handlungen die häufigen Widersprüche zwischen Gefühlen und Grundsätzen, zwischen Drang der Seele und verständiger Überlegung erklären; sie bekamen in diesen Jugendjahren ihre erste Entstehung. So war, zum Beispiel, Ludwig aus Menschenkenntnis oft zu mißtrauisch und zu verschlossen und dann wieder aus Hang des Herzens zu hingebend, offenherzig und plauderhaft. Aus natürlichem Humor, welchen seine Mutter ungetrübt erhalten hatte, war er fröhlich, dagegen machten die frühen Vexationen, die er von seinem Vater hatte erdulden müssen, daß er so leicht aufzubringen, so leicht zu verstimmen war. Da er oft unbilliger Weise gelitten hatte, so war er auch nicht immer gerecht gegen Andre, glaubte, ein bißchen Druck könne wohl nicht schaden, sondern läutere, prüfe und bilde die Menschen. Aus Ehrgeiz war er rachsüchtig, aus Menschenliebe bald entwaffnet und sehr versöhnlich. Seines Vaters thörichte, unzweckmäßige Verschwendung, wovon er täglich die traurigen Folgen gesehn und oft erfahren hatte, wie wenig wirkliche echte Freuden, wie wenig wahren Genuß eine solche Lebensart gewährt, endlich wie wenig Achtung und Zuneigung, ja! nur einmal Anhang man dadurch gewinnt, diese Verschwendung und seiner Mutter gute Lehren erweckten in ihm zwar einen Geist von Ordnung und Sparsamkeit; ungeachtet dessen aber wurde er doch erst in seinen männlichen Jahren ein guter Wirth, denn da er in der Jugend weder durch Beispiel noch durch eigene Erfahrung den Werth des Geldes und die Vortheile einer guten, ordentlichen Wirthschaft hatte kennengelernt und er nachher, als Jüngling, eine Menge Wünsche, Liebhabereien und Bedürfnisse zu befriedigen hatte, so war er fast nie ohne Schulden und verrechnete sich immer in seinen Überschlägen. Seines Vaters Ausschweifungen hatten ihm wohl einen großen Widerwillen gegen alle Unmäßigkeit eingeflößt, und doch – wenn die Gelegenheit da war, so widerstand seine reizbare Maschine selten, und die Sinnlichkeit lief mit der Vernunft davon –

So waren die Anlagen, mit welchen Ludwig im dreizehnten Jahre seines Lebens das väterliche Haus verließ, nachdem der alte Seelberg an den Folgen eines hitzigen Fiebers gestorben war – So waren die Anlagen beschaffen! – Das übrige Gute und Böse kam, wie wir sehn werden, von Außen, durch Schicksale hinein; aber diese Schicksale waren nicht des Ungefährs, sondern waren sein Werk und würden jeden, der mit andern Dispositionen in die Welt getreten wäre, nicht betroffen haben.


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