Eduard Graf von Keyserling
Die dritte Stiege
Eduard Graf von Keyserling

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VIII.

Der Sonntagmorgen war so heiß und hell über Wien aufgestiegen, daß man die Augen nicht aufhalten konnte, ohne geblendet zu sein und den Mund nicht aufthun durfte, wollte man die Kehle nicht voller Staub haben. Der Hof des Hauses Nr. 2 der Margarethenstraße log so voller Gluth, daß die Passanten vor der Hauptstraße in die Margarethenstraße unter dem Thorweg zögerten, ehe sie sich in den heißen Raum hinein wagten. Dennoch gingen die Hausbewohner fleißig ab und zu. Auf allen Stiegen war Leben. Die Köchinnen kamen vom Gemüsemarkt heim, die Arme in die Schürzen gewickelt. Sonntäglich geschmückte Ladendiener stürmten die Treppe hinab und gingen pfeifend ihren Sonntagsvergnügungen nach. Im Café wurde vom frühen Morgen an hinter den niedergelassenen, gelben Strohvorhängen Billard gespielt.

Auch auf der dritten Stiege war es lebhaft. Mit klingenden Goldsächelchen behangen, rauschte Fräulein Würbl hinab, um die Messe in der Universitätskirche zu besuchen, während Frau Pinne, von der Messe in der Paulanerkirche kommend, mühsam die Stiege hinankeuchte. Hinter den gelben Thüren rumorte es – Tellergeklapper, Stimmengewirr. Zuweilen flog eine Thüre auf, und ein Kleidungsstück ward lärmend in den Vorraum hinausgestäubt. Dabei zog ein warmer Bouillon- und Zwiebelduft die Stiege entlang.

Im vierten Stock, beim Telegraphenbeamten Gerstengresser, herrschte große Unruhe. Herr Gerstengresser hatte heute keinen Dienst, und wenn er keinen Dienst hatte, dann machte er mit seiner Familie eine Landpartie. Er verstand es überhaupt nicht, wie man eine freie Zeit anders verwenden konnte. Auch die Mädchen waren frei; Ella brauchte nicht in die Post –, Elsa nicht in das Café –, wo sie Kassirerin war, zu gehen. Es sollte früher gegessen werden, daher stand Frau Gerstengresser seit 8 Uhr Morgens in der Küche. Herr Gerstengresser – einen alten Leinewandrock über dem zerknitterten Hemde, Morgenschuhe an den Füßen, ging vom Einen zum Andern und wurde überall fortgeschickt. »Franziska!« ermahnte er in der Küche: »Du sollst Dich tummeln. Schauen wir, daß wir fortkommen.«

Franziska war an solchen Landpartiemorgen meist unfreundlich und ausfahrend. »Wo brennt's denn, daß's solche Eile hat?« meinte sie, »und wenn das Fleisch nachher hart ist, wer wird raunzen?«

Herr Gerstengresser schlich leise fort zum Zimmer seiner Töchter. »Mäd'l, tummelt Euch. Die Mutter ist mit dem Essen gleich fertig.«

Aber auch die Mädchen schickten ihn fort. »Vater, komm' nicht! Jetzt kannst Du nicht herein!« Elsa schnürte gerade Ella, die ein wenig stark war; und Elsa mußte mit all' ihrer Kraft ziehen.

»Den Poldl will ich wecken,« beschloß Herr Gerstengresser. »Meiner Seel'! der liegt noch im Bett!«

Leopold Gerstengresser lag allerdings noch im Bett, kehrte das Gesicht der Wand zu und regte sich nicht; das ärgerte seinen Vater.

»Was ist das? Wo bist' den gestern gewesen? Hat man so was gesehen! Schlaf' nur, wir gehen fort.«

»Geht!« scholl es aus dem Bett zurück.

»Ja, bist Du denn krank?«

»Freilich, ich habe Kopfweh.«

»Das will ich glauben. Wenn einer die ganze Nacht herumvagirt. Eine Schand' ist dies Leben und ich will's nicht haben. Steh' nur auf, dann wird's schon mit dem Kopfweg besser. Ist das ein liederlicher Bub'! Glaubst – wir werden mit dem Essen warten?«

»Eßt nur,« meinte Leopold verdrießlich.

Herr Gerstengresser zuckte die Achseln. Was war das mit dem Buben? In letzter Zeit war er wie umgewandelt. War er krank? Man sah ihn viel mit dem Mädl vom dritten Stock. Ja, aber dabei war ja doch nichts Besonderes. Ob er mit Herrn Punzendorf, dem Chef der Seidenwaaren-Handlung, in der Leopold Commis war, darüber sprechen sollte? Aber der weiß von seinen jungen Leuten gerade so viel, als er sie hinter dem Ladentisch sieht. Herr Gerstengresser seufzte. Der Poldl war solch' ein hübscher, fescher Junge, er hätte ihn gern glücklich, glücklicher, als er selbst im Leben gewesen war, gesehen!

Frau Gerstengresser steckte ihr erhitztes Gesicht zur Thüre herein. »Steh' auf, Poldl,« rief sie, »heute giebt's Apfelstrudel. Du Alter, Du könntest wohl anfangen, Dich anzukleiden; wann kommen wir sonst fort?«

Ja, darin hatte die Frau recht. Herr Gerstengresser begab sich in sein Zimmer, setzte sich vor den Spiegel und begann seine eingefallenen Wangen zu rasiren. »Ella,« rief er, »gieb mir heute Deine Pomade.« Er wollte sich den struppigen, grauen Schnurrbart, der ihm zu sehr in die Zähne wuchs, zurückstreichen.

Die Mädchen waren fertig und standen im ersten Zimmer um den gedeckten Tisch und warteten, daß die Mutter das Essen bringe. Sie selbst konnten nichts angreifen, ihrer schönen Kleider wegen. Ella hatte sich mit unsäglicher Mühe in eine knappe rothe Taille hineingezwängt und war dennoch nicht zufrieden; sie fand sich nicht schlank genug.

Elsa, die Kassirerin, war zu sehr erhitzt, sie hatte sich zu sehr beim Schnüren ihrer Schwester angestrengt. Sie selbst kannte Ella's Sorge nicht, denn ihre feine, schlanke Gestalt schlüpfte mühelos in das engste Mieder und das knappste Leibchen. Ihr Kopf erschien durch das sich wirrlockende Haar fast zu groß für den zierlichen Körper. Das Gesicht mit den weitoffenen, runden Augen trug den geduldigen und müden Ausdruck der geplagten Kassirerinnen, und doch konnte es wieder plötzlich, wenn es lachte, lustig und kindlich aussehen.

»Ob der Poldl nicht mitkommt?« fragte Elsa. Sie ging an die Thüre ihres Bruders, guckte in das Zimmer: »Poldl, das Essen ist fertig.« Keine Antwort. »Poldl, schau, komm mit. Es ist lustiger, wenn Du mit bist.« Im Bett blieb es still. Elsa entfernte sich wieder. Was war mit dem Poldl geschehen? Sie liebte diesen Bruder über Alles und sorgte sich um ihn. War die Mitzi im dritten Stock an allem schuld? Das dumme Mädl. Was wollte sie denn? Der Poldl war der hübscheste Junge im ganzen neunten Bezirk; warum quälte sie ihn noch? Hatte er Geld nöthig? Ach! heute konnte Elsa ihm keines geben, beim besten Willen nicht. Leopold hatte ihr so eine Geschichte erzählt, er erzählte ihr Alles; vorigen Sonntag hatte ein vornehmer Herr im Theater an der Wien der Mitzi den Vorschlag gemacht, sie zum Sacher zu führen. Die Mitzi hatte es nicht angenommen, aber sie hatte es dem Leopold immer wieder vorgehalten. Wo sollte der arme Bub' das Geld hernehmen, um sie zum Sacher zu führen? Da war nicht zu helfen! Am besten wär's, er käme mit dem hochnasigen Mädl ganz auseinander.

Die Mutter trug die Suppe auf. »Eßt nur,« sagte sie, »ich miß mich frisiren.« Herr Gerstengresser erschien im langen schwarzen Sonntagsrock und frisch rasirt. »Also der Poldl kommt wirklich nicht,« versetzte er streng. »Mit dem Buben ist's nicht richtig. Da werd' ich Ordnung schaffen müssen.« –

»Aber wenn er krank ist,« wandte Elsa ein, die stets bereit war, Leopold zu vertheidigen.

»Ach!« erwiderte Herr Gerstengresser ärgerlich. »Die Krankheit, die man sich im Bierhause holt, das kennt man!« –

»Kann er denn nicht ohnedem auch Kopfweh haben?« –

»Ach geh'!« –

Ella betheiligte sich nicht an diesem Streit. Steif und gerade saß sie auf ihrem Stuhl und aß ihre Suppe, vorsichtig mit der Linken die üppigen Maschen an der Brust niederdrückend, damit kein Tropfen sie beflecke. Sie kannte das, an solchen Landpartietagen lag eine gewisse Gereiztheit in der Luft; und man plagte sich doch nicht die Woche über, um sich am Sonntag zu streiten. Sie hatte es durchgesetzt, daß nach Weidling statt nach Vößlau, wie die Mutter es wollte, gefahren wurde, denn ihr Postschreiber wollte auch in Weidling sein. Alles Uebrige ließ sie kalt, und sie schob ein Unckerl nach dem anderen in den Mund – gleichmüthig, wie sie die Briefe in den Schalter warf.

»Mutter, komm essen,« rief Herr Gerstengresser.

»So wie ich in der Küche stehe, kann ich nicht unter die Leute gehen« – scholl es ingrimmig aus dem Nebenzimmer zurück.

Ella machte sich schon an den Apfelstrudel.

»Warum ißt Du denn Deinen Strudel nicht?« fragte der Vater Elsa

»Weil ich nicht mag,« war die kurze Antwort.

»Bist Du vielleicht auch krank?«

»Ja, vom Bierhause.« Dabei erhob sie sich, ergriff ihren Teller, auf dem ein Stück Strudel lag, und trug ihn zu Leopold hinein. Vielleicht aß er das, wenn er aufstand.

Endlich konnte man aufbrechen. Schief auf einem Stuhle sitzend, verzehrte die Mutter ihren Theil des Mittagmahles, während die Töchter sich vor dem Spiegel die Hüte aufsetzten.

»Vorwärts, vorwärts!« trieb Herr Gerstengresser an.

Die arme Mutter mußte zwischen dem Aufsetzen ihres Hutes und dem Umstecken ihres Tuches ihr Stück Apfelstrudel hinabwürgen.

»So nimm es doch mit,« rief ihr Gatte in höchster Ungeduld. – Nun waren sie auf der Stiege; alle ernst und ein Jeder gegen den Anderen gereizt.

Leopold hörte das Rascheln und Schelten des Aufbruches; dann ward die Thüre geschlossen, – es klappte die Stiege hinab – jetzt war es still. Die Sonne schien blendend hell in das Gemach, die Fliegen summten unerträglich laut an den Fensterscheiben... Leopold vergrub sein Gesicht in das Kissen. Er mochte dieses Licht nicht sehen. Dieser Tag war ihm zuwider, er konnte sich nicht dazu entschließen, ihn zu beginnen. Und wenn er so dalag und an Nichts dachte, ließ ihn ein Gedanke, der ihm doch jählings durch den Kopf schoß, wieder auffahren. Er schaute um sich. Etwas mußte ja doch geschehen. Dort – neben der Thüre, am Nagel, hing der schöne, braune Sommerüberzieher, den er sonst so liebte. Heute konnte er ihn nicht ansehen. Gedrückt sank er wieder in sein heißes, zerwühltes Bett zurück.

Das war gewiß, solche Qualen, wie er sie die beiden letztvergangenen Sonntage ausgestanden, wollte er nicht mehr ertragen. Gott! ist es ein Fluch, arm zu sein! Warum mußte auch dieses unglückliche Mädl auf den Gedanken gerathen, sich als Statistin verwenden zu lassen? Er hatte sie zu häufig in das Theater geführt, und die bunten Röcke hatten ihr den Kopf verdreht. Wie friedlich und hübsch war es, wenn sie beisammen im vierten Stock des Theaters saßen, eng an einander gedrängt, verloren in der Menschenmenge! Und dann später, wenn sie Arm in Arm in ein verstecktes Vorstadtgärtchen wanderten, etwas kalte Küche, ein Stück Torte, einige Glas Wein genügten, um sie glücklich zu machen. Und nun! Wenn die Mietzi in irgendeinem abenteuerlichen Anzuge auf der Bühne stand und engelschön aussah, dann dachte sie gewiß nicht an ihren Poldl; sie warf blanke Blicke in die Logen zu den alten Herren und Offizieren hinüber, die sie mit ihren Operngläsern anstarrten. Und wenn er sie nach Schluß der Vorstellung im Dreihufeisen-Gäßchen erwartete, dann trat solch' ein Offizier an sie heran und flüsterte ihr etwas zu. Die Mietzi that sehr empört, aber dennoch war sie verändert. Sie quälte ihn mit den Erzählungen ihrer Triumphe. Gestern hatte ein Graf sie zum Sacher führen wollen; heute hatte ein Baron ihr einen Schmuck versprochen. Das Biergärtchen war ihr zu klein. An jenem Schaufenster hatte sie eine hübsche Pelerine gesehen. So ging es fort. Und er, der arme Junge, hatte in letzter Zeit gerade gar kein Geld; Mietzi merkte das und war gereizt darüber. Nein, sie entschwand ihm, das merkte er. Hatte er früher schon das Mädchen geliebt, jetzt mit den Theatercostümen und Erfolgen machte es ihn toll. O! hätte er Geld! Das dumme Geld! Alte Bankiers mit krummen Nasen und dicken Bäuchen, die hatten Geld wie Heu, und er, der fesche Poldl, der das Leben so hübsch zu genießen verstand, mußte mit leeren Taschen einhergehen. Das war eine schreiende Unbilligkeit des Schicksales.

Stöhnend wandt' er sich auf die andere Seite; – und nun plötzlich durchlebte er im Geiste wieder jenen furchtbaren Augenblick im Geschäft. Eine dicke Dame, auf den abstehenden, blonden Locken ein rothes Seidenhütchen, geschmückt mit einem Strauß kleiner, goldener Beeren, stand vor dem Ladentisch –; er sah sie wieder so deutlich, als stände sie vor seinem Bett. »Ich bitte mir seidene Shawls zu zeigen, – von den ganz großen.« Leopold schleppte die theuern, Lyonner Shawls herbei, eine Schachtel nach der anderen. Die Dame konnte sich nicht entscheiden und diese Unschlüssigkeit brachte den Commis zur Verzweiflung. Er war heute ohnehin krank vor Mißmuth, denn Mietzi hatte ihm mitgetheilt, daß sie am Abend auftreten würde, und er hatte keinen Kreuzer, um in das Theater zu gehen. Der Laden unter den Tuchlauben war so finster, daß das Gas angesteckt werden mußte. Die Dame wühlte noch immer in der Seite und Leopold nannte die Preise: »18 Gulden, dieser kommt auf 25, ein sehr schönes Stück – dieser kommt auf 30 zu stehen.« Die Dame wollte nächstens wiederkommen. – »Sehr wohl, küß die Hand, gnädige Frau.« Alle Mühe war umsonst gewesen.

Aergerlich begann Leopold die Shawls zusammen zu legen und fortzupacken; und, was ihm bisher noch nie begegnet war, die Preise klangen ihm dabei immer wieder und wieder in den Ohren: 30 – 25 – das giebt 55 –; welch' ein Sonntag! Das Fräulein an der Kasse wechselte einem Herrn Geld. Die beiden anderen Commis bedienten einige Damen am anderen Ladentisch. Wie es gekommen, wußte Leopold jetzt selbst nicht mehr so recht, – aber zwei Shawls saßen unter seinem Rock. Ja – und jetzt steckten sie in seinem Ueberzieher, dort an der Thüre. Wie fremd und wunderlich das war! Er ein..... Nein! Es war vielleicht nur ein Traum gewesen, und der Ueberzieher war leer. Und wenn nicht,... noch war ja nichts geschehen. Er konnte morgen die Sachen wieder an ihren Ort stellen. Der Sonntag war dann allerdings verloren. Gleichviel! vor allem wollte er aufstehen! Es würde sich finden. Jetzt brauchte er an diese Dinge noch nicht zu denken. – Bleich und müde erhob er sich. Sorgsam wie immer kämmte er sich die Lockenhäkchen über die Ohren, drehte das Schnurrbärtchen hinauf, band sich die Cravatte um. Das ein wenig überwachte Aussehen stand ihm gut, wie er meinte. Mietzi konnte unmöglich diesen hübschen Jungen, mit den großen blauen Augen, eines alten, jüdischen Bankiers wegen, verlassen! Nun war er bereit. Er griff nach dem Ueberzieher; die Seitentaschen waren arg angeschwollen, drum legte er ihn nur so über den Arm und ging hinaus.


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