Eduard Graf von Keyserling
Die dritte Stiege
Eduard Graf von Keyserling

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Am folgenden Tage erschien Bylin und theilte mit: »Ich habe unseren Mann aufgesucht. Auf Waffensatisfaction geht er in keinem Fall ein.« – »Das dachte ich mir,« meinte Lothar ingrimmig. »Ja, er ist Socialdemokrat; diese Art der Satisfaction ist gegen seine Ueberzeugung. Er hat mir seine Gründe auseinandergesetzt; ganz hübsch und interessant; – ein feiner Kopf.«

»Gut! aber was fangen wir nun an?«

»Sonst ist er mir in dem Bestreben, diese unverzeihliche Affaire zu arrangiren, entgegengekommen, und ich denke, auch wir müssen uns bemühen, coulant zu sein. Dieser Doctor also ist bereit zu erklären, er sei in seinen Ausdrücken zu weit gegangen, er nehme sie zurück; und das Gleiche erwartet er von Ihnen.«

»Wie, das ist Alles?«

»Ja« – Bylin lachte, »ganz correct ist es nicht. Aber mon cher, wenn Sie meinen Rath hören wollen, so acceptiren Sie das. Schließlich ist er der Beleidigte. Er scheint kein großes Gewicht darauf zu legen. Etwas Rechtes läßt sich nun einmal aus dieser Affaire nicht machen. Ist er mit dieser Form der Beilegung zufrieden, tant pis für ihn, und wir werden ohne Skandal die Geschichte los. Sind Sie einverstanden, so können Sie ihn um vier Uhr im Café finden; dort wird sich Alles machen.«

Lothar war mit dieser Wendung nicht ganz zufrieden; aber Bylin hatte vielleicht Recht, es war das Beste, diese Sache möglichst schnell und still aus der Welt zu schaffen.

Merkwürdig war es, daß die Erwartung dieses Zusammentreffens Lothar den ganzen Vormittag über beunruhigte. Das Gesicht seines Gegners sah er beständig vor sich; die unheimliche Ruhe in den groben Zügen während des Streites, das verächtliche Zucken, als er sich entfernte. Noch vor der festgesetzten Zeit war Lothar im Café, obgleich er das für falsch hielt. Bald darauf erschien auch Dr. Faltl. Er trug wieder seinen alten, grauen Rock und einen breitkrämpigen Filzhut auf dem Kopf. Seine Verbeugung war hastig und unbeholfen. Er setzte sich Lothar gegenüber an den Tisch. Lothar schwieg und wartete. Dr. Faltl schien befangen; er rieb sich mit der flachen Hand die Kniescheibe und sah gerade vor sich hin, als dächte er nach; endlich begann er zu sprechen, immer noch sein Knie reibend und gerade vor sich hinblickend.

»Ihre Gegenwart, mein Herr, ist mir ein Zeichen, daß Sie auf den Vorschlag, den ich heute Morgen Ihrem Freunde gemacht habe, eingegangen sind.« Lothar nickte leicht mit dem Kopfe. »Ja, denn also mache ich den Anfang, indem ich mein Bedauern ausspreche, mich gestern zu schroff ausgedrückt zu haben...« Er hielt inne, schaute zweifelnd zu Lothar hinüber und zog die Augenbrauen empor, was seinem Gesicht einen kindlichen und doch etwas verachtenden Ausdruck verlieh. »Ich weiß nicht,« begann er wieder, aber Lothar fiel ihm in die Rede: »In diesem Fall nehme auch ich die gegen Sie gebrauchten verletzenden Ausdrücke zurück.« Beide schwiegen nun. Lothar dachte daran, daß Bylin in seiner Lage sich jetzt mit einer hochmüthigen Verbeugung entfernt hätte; das war das Richtige. Dennoch blieb er. Die Neugierde, was der wunderliche Mann vor ihm noch thun und sagen würde, hielt ihn zurück. Faltl lächelte, als er sich wieder an Lothar wandte: »In Ihren Kreisen werden solche Auseinandersetzungen nach bestimmten Regeln vorgenommen. Da mir diese Regeln gänzlich unbekannt sind, so werden Sie sich auch nicht daran stoßen, wenn ich nicht Alles, was in solchen Fällen üblich ist, gesagt oder gethan haben sollte.«

»O! darauf kommt es hier so genau nicht an,« wehrte Lothar leichthin ab.

– »Natürlich! Schließlich ist die Absicht des Gutmachens das Ausschlaggebende; und die hab' ich. Auf die Vorschläge Ihres Freundes konnte ich nicht eingehen. Ich habe mich mit den Grundansichten der heutigen Gesellschaft so entschieden in Gegensatz gestellt, daß ich mich in einer – – einer Nebensache, in einer Sittenvorschrift, die ich für schief halte, nicht fügen kann. – Uebrigens,« dabei nahm sein Gesicht einen gutmüthigen, fast heiteren Ausdruck an, »wer das Glück erfahren hat, sich frei von den Vorschriften dieser Gesellschaft zu wissen, um nur seiner Ueberzeugung zu folgen, der möchte auch nicht den kleinsten Schritt zurückthun. Doch bin ich mit meinem gestrigen Verhalten wirklich unzufrieden. Nicht daß ich meinen Freund vertheidigte, – das war Pflicht, aber daß ich überhaupt in dieses Local hineinging, war falsch. Ich hatte mir längere Zeit Entbehrungen auferlegen müssen, ich hatte eine schwere Arbeit glücklich zu Ende gebracht; da sagte ich mir: nun kannst Du ein Mal Deinem Leibe ein Fest geben. Ich wollte einmal eine so feine und behagliche Stunde wie irgend möglich erleben. Ja, das war falsch. Ich gehöre in dieses Bankierlocal nicht hinein. Sich still von den Genossen fortschleichen, um zu schlemmen, ist unrecht.« Er stand auf: »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten.« Dann machte er wieder seine hastige Verbeugung und ging.

Lothar blieb noch lange nachdenklich sitzen. Dieser Mann hatte ihn beeindruckt; es that ihm leid, dem Armen »die feine, behagliche Stunde«, die er sich durch schwere Arbeit verdient zu haben glaubte, verdorben zu haben. Welcher Art mochte diese Arbeit gewesen sein? Das war es! Hinter diesem Manne ahnte Lothar ein bewegtes, wohlausgefülltes Leben, an dem er gern theilgenommen hätte; und dann – – die Worte: »und wer das Glück hat, sich frei von den Vorschriften dieser Gesellschaft zu wissen,« brachten einen angenehmen Hauch der Freiheit und der Frische mit sich, wie Seewind.

Der Gedanke an diese neue Bekanntschaft ließ ihn nicht mehr los. Der bisherige Abschnitt seines Lebens war schon zu sehr ausgelebt; hier war etwas Neues, etwas ganz Anderes, darum packte es. Von nun an fand er sich oft in diesem Café ein, um Faltl zu sehen. Es war eine Schrulle, wie jede andere, sagte er sich. Er setzte sich in die Nähe des Doctors, tauschte mit ihm einen steifen Gruß, reichte oder erbat sich eine Zeitung, wechselte zuweilen einige sehr gleichgültige Worte mit ihm; weiter kam es nicht. Dennoch unterhielt es ihn, Faltl zu beobachten. Er versuchte etwas von dem geheimnißvollen Treiben zu erfahren, das jenen umgab und welches ihm, er wußte es selbst nicht warum und es war eigentlich lächerlich, – plötzlich so anziehend schien. Häufig kamen Leute, um mit dem Doctor zu sprechen; junge Männer mit breitkrämpigen Hüten und langen Haaren, ältere Männer mit groben Händen und schwarzen Sonntagsröcken. Faltl flüsterte mit ihnen, hörte sie ernst an, gab kurzen Bescheid. »Reise gleich ab.« – »Kommen Sie in die Versammlung.« – »Sagen Sie den Genossen, daß ich einverstanden bin.« Unter den Leuten, die sich hier Rath holten, fand Lothar auch einen Bekannten, einen Studenten, der dasselbe Haus wie Lothar bewohnte. Er war diesem hübschen Jungen mit den blauen Augen und dem röthlichen Christusbart oft auf der Stiege begegnet, wußte, daß er Oesterreicher und Sozialdemokrat sei und Rotter hieß. Das zuthunliche, freundliche Wesen des jungen Mannes machte, daß Lothar sich zuweilen mit ihm unterhielt. Rotter hatte stets etwas Geheimnisvolles vor, von dem er andeutungsweise sprach; immer erwarteten ihn Genossen irgendwo. »Also der gehört auch dazu,« sagte sich Lothar und suchten den jungen Mann auf. Da erfuhr er denn, daß Faltl ein Licht der Partei sei, daß er aus Frankfurt a. M. hier angelangt, weil hier große Dinge im Werk seien. »O dieser Faltl!« meinte Rotter. »Der ist großartig! der versteht es, eiserne Disciplin zu halten! Wenn Sie ihn um seinen Rath bitten, was Sie thun sollen, dann giebt er Ihnen sofort ein Programm für das ganze Jahr, da steht genau darin, was Sie zu thun haben. Der ist großartig!« Solch' ein Programm war es gerade, dessen Lothar jetzt bedurft hätte, da er nicht wußte, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Eine eiserne Disciplin, ein Kreis von Genossen, er in Gefahr und Drangsal eng zusammen hielt, große Dinge, die im Werke waren, das reizte Lothar.

Er begann eifrig Volkswirthschaft und die sozialdemokratische Lehr- und Agitationsbücher zu studiren; im Herzen bereits fest entschlossen, sich überzeugen zu lassen. Rotter wurde sein täglicher Umgang. Dieser spürte wohl, daß sich hier eine Bekehrung anbahnen ließ und war stolz darauf, diese zu leiten. Dann begann Lothar auch die langhaarigen Genossen in ihren hochgelegenen Stuben zu besuchen; trank Nächte hindurch mit ihnen Thee, träumte vom Zukunftsstaat, trug breitkrämpige Hüte und verkehrte mit Handwerkern und Arbeitern. Nur bei den Führern, bei den älteren, ernsten Parteigenossen ganz aufgenommen zu werden, hielt schwer. In die eigentlichen Parteigeheimnisse wurde er nicht eingeweiht und zu keiner ernstlichen Arbeit benutzt. Als er Faltl um Instruktionen bat, fragte dieser ihn genau aus und meinte: »In Volkswirthschaft, das ist die Hauptsache, studieren Sie nur fleißig fort. Gute Federn brauchen wir; Ihre Aufgabe liegt vielleicht nach dieser Seite hin.« Lothar sah wohl, daß ein gewisses Mißtrauen ihm entgegengebracht wurde; das verdroß ihn. Schonungslos brach er alle seine früheren Beziehungen ab, kümmerte sich nicht um den Spott seiner ehemaligen Kameraden, sondern gefiel sich darin, seine Gesinnung offen zur Schau zu tragen. Dennoch fühlte er, daß hier in Leipzig die Hindernisse, die seiner rückhaltlosen Aufnahme in die Partei entgegenstanden, nicht überwunden werden konnten. Er beschloß nach Genf zu gehen, an die Quelle der großen Lehre, wo aus allen Weltgegenden die Märtyrer der heiligen Sache zusammenkommen und eine Art hohen Rathes der Partei bilden.

In Genf endlich wurde Lothar in das Allerheiligste der großen Lehre eingeführt. Er fand dort einen Kreis von Männern, die für ihre Ueberzeugung hart gelitten hatten und deren Bitterkeit gegen das Bestehende noch durch die Verstimmung des Flüchtlings und Verbannten erhöht wird. Diese Männer, alle voll Drang, etwas Großes für die Sache zu thun, waren hier zu verhältnißmäßiger Unthätigkeit verurtheilt; ihr Antheil an der Arbeit beschränkte sich auf Antreiben, Aufmuntern und ihre Ungeduld, daß endlich die große Entscheidungsschlacht geschlagen werde, war so heiß, daß sie das Geschäft des Anspornens mit wildem Ungestüm betrieben. Eine schwüle Luft steter Erwartung wehte hier. Man stand am Vorabend der Weltrevolution, das war gewiß; das gab den Männern etwas Nervös-Fieberhaftes. Was auch gethan und unternommen ward, war nur vorläufig, war, um die Zeit bis zum großen Augenblick hinzubringen. Hier wurde Lothar's Erziehung vollendet. Er lernte alles Bestehende als dem Tode geweiht, anzusehen; hier gelang es ihm fast an den Zukunftsstaat zu glauben, ihn zu erwarten, sich in Gedanken ganz in ihn hineinzuleben. Sein Vorbild und Meister, ein alter Revolutionär, der schon viele Jahre hier saß und hinaushorchte, ob seine Stunde nicht wieder schlagen würde, pflegte zu sagen: »Siehst Du, für uns giebt es jetzt nur eine Arbeit und die ist blutig, haßerfüllt, zerstörend, und nur eine Erholung – die ist: sich in die Zeit hineinträumen, da der Sieg erfochten sein wird. Die Gegenwart giebt uns die Arbeit, daher ist sie häßlich und schwer, Erholung und Genuß müssen wir von der Zukunft borgen.« Solch' ein samstägliches Beieinandersitzen und Sprechen von den Freuden des Zukunftssonntages war das ganze Leben dieser Männer.

Da machte es sich, daß die Wiener Genossen eine Deputation an den Meister sandten, um den Rath in einer wichtigen Angelegenheit zu hören. Die Sache in Wien ging lau. Anarchistische Clubs, die sich der Parteidisciplin nicht fügten, gewannen Einfluß auf die Bevölkerung; ein Jeder ging seinen Weg. Unter anderen Mitteln, diesem Zustande abzuhelfen, war der Gedanke aufgetaucht, eine Zeitschrift herauszugeben, welche in gemäßigter Form die Lehre vortragen, das Bestehende angreifen und den Grund zu einer organisirten Partei legen sollte. Dadurch konnte man auf weitere Kreise einwirken, sie in die Principien und Anschauungen der Partei hineingewöhnen. So schwierig das Unternehmen war, so schien es doch vom Glück begünstigt zu werden. Die Mittel fanden sich. Die Polizei gewährte mit überraschender Bereitwilligkeit die Concession. Der Meister sprach seine Befriedigung über den Plan aus, gab ihm seinen Segen und empfahl Lothar zum Mitglied der Redaction. So war denn Lothar in Wien, war Redactionsmitglied der »Zukunft«, hatte einen Lebensberuf, den auszufüllen – wie er meinte – ein Menschenleben nicht hinreicht. Für den Rest seines Lebens war gesorgt. – – –

Der Hof unter seinem Fenster war leer geworden, ein starker Duft von gebratenem Fleisch stieg empor und aus den geöffneten Fenstern tönte Tellergeklapper. Es war Zeit, in das Gasthaus »zum rothen Rössel« zu gehen, wo er gemeinsam mit Rotter die Mittagsmahlzeit einnehmen wollte.


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