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Aristide Maillol

(1925)

Rodin steht in seinem gewaltigen, lichtdurchströmten Ateliersaal in Meudon, der von dem riesigen weißen Balzac beherrscht wird, und zieht aus einem der großen Schränke, in denen er seine Skizzen aufbewahrt, eine kleine Tonfigur, die er zwischen gierigen Fingerspitzen liebkost: »Kennen Sie den, der das gemacht hat? Er ist unser stärkster Bildhauer.« So lernte ich Maillol kennen; etwa 1904 oder 1905. Bald darauf begann Maillol seine großen Stein- und Bronzefiguren, die auf den Ausstellungen des Salon d' Automne seinen Ruf begründeten und ihn zu einem Rivalen von Rodin in der Wertschätzung der Pariser Kunstkenner machten. Rodin und Maillol, zwei Antipoden, die mit Achtung voneinander sprachen, aber weit getrennte Wege gingen: Rodin, der Fortsetzer der französischen späten Gotik und des ›Dix-huitième‹, der Meister des Details, der realistischen Beobachtung, der zart oder stürmisch bewegten Oberfläche, der dramatischen Silhouette; Maillol, der Grieche, der Meister der Masse, der runden Fülle körperlichen Blühens, das ans Licht strebt, bei dem das Detail aber nur so viel Wert hat wie beim Obstbaum der weiße Blütenschleier, der seine Struktur und den mächtigen Drang seines Saftes einen Augenblick verklärt. Rodin, in genialer Hast Skizzen über Skizzen hinausschleudernd wie ein Improvisator, Maillol, langsam mit Überlegung und Berechnung schaffend wie ein Architekt. Dort Hunderte von Werken und Skizzen, genialen Anläufen, unerhörten Fragmenten, ein brodelnder Kessel unaufhaltsam in Fluß und Wandlung begriffener Formen; hier verhältnismäßig wenige jahrelang durchdachte Werke, die, je länger der Künstler an ihnen arbeitet, im Einzelnen immer einfacher, im Ganzen immer komplizierter werden. Vor einer antiken Venus im Louvre, die an der afrikanischen Küste jahrhundertelang vom Meer bespült und von den Wellen wie von den Händen eines großen Künstlers geglättet und vereinfacht worden ist, aber um so gewaltiger heute in unverwüstlicher Schönheit dasteht, sagte mir Maillol einmal: »Sehen Sie, diese Figur ist meine Lehrmeisterin gewesen. Von einem Rodin, der das durchgemacht hätte, wäre nichts geblieben. Diese Figur hat mich gelehrt, was Plastik ist. Eine Statue muß schön sein, auch wenn ihre Oberfläche zerstört und kieselglatt geschliffen ist.« Dann bleibt nämlich das Wesentliche ihrer Schönheit, wenn sie wirklich plastisch erfunden ist, das Wunder einer beglückenden Harmonie ihrer Massen.

Daher spielen die Extremitäten, Hände und Füße, die bei den Pathetikern der späten Gotik und des Barock oft erst den Akzent geben, bei Maillol eine geringe Rolle; manchmal sind sie fast nur angedeutet: das künstlerische Schwergewicht liegt bei seinen Figuren im Mittelpunkt der Körpermasse, im Becken, in den Schenkeln, in der Brust, im Rücken; der Torso von den Knien bis zum Halsansatz ist das plastische Motiv: das übrige, selbst Kopf und Arme, sind nur eine Begleitmusik zu dieser Grundmelodie, deren Massen wie die Töne eines musikalischen Motivs nur so und nicht anders sein können. Daher wehrt sich Maillol nicht ohne Bitterkeit gegen den Vorwurf, daß seine Bevorzugung eines bestimmten schweren Frauentypus die Schönheit seiner Plastik beeinträchtige. Denn das Modell ist gleichgültig, wenn es nur ein plastisches Motiv abgibt. Als Ausgangspunkt hat Maillol die Form gewählt, in der ihm bei den Mädchen seiner Heimat das Weib zuerst aufgegangen ist, einen etwas üppigen Typus mit schweren Brüsten, schweren Beinen und festem, vom Tragen von Kannen und Körben auf dem Kopf zu athletenhaftem Schwunge durchgebildeten Hals und Rücken. Aber diesem etwas schweren Frauentypus sucht er die süßen Harmonien zu entlocken, die er birgt. »Erinnern Sie sich«, sagte er mir vor kurzem, »wie d'Annunzio in meinem Atelier in Marly zu mir sagte, meine Statuen seien schön, nur hätten sie zu dicke Beine! Er bewies dadurch, daß er nichts von Plastik versteht. Was der Bildhauer sucht, ist Harmonie der Körpermassen. Zu der einen Harmonie gehören dicke Beine, zu einer anderen schlanke. Ich hätte auch Figuren mit schlanken Beinen bilden können; aber ich habe die Frauen und Mädchen von Banyuls vor Augen gehabt und die Harmonien gesucht, die sie mir darboten.«

In der Tat ist Maillol so fest wie wenige Künstler in einem ganz bestimmten Fleck Erde verwurzelt. Zwischen einer blauen, weit geschwungenen Bucht des Mittelmeeres und kleinen, runden, spitzen Hügelkuppen, die nach Maillols Ausdruck »Frauenbrüsten gleichen« und sanft zu den fernen Schneegipfeln der Pyrenäen aufsteigen, liegt das Fischerdorf Banyuls. Umgebung und Leben der Bevölkerung, die unter einem leichten französischen Anstrich ihre Ursprünglichkeit und ihre katalanische Sprache bewahrt hat, sind noch fast antik, antik-griechisch, ja homerisch. Die Männer fischen, oder abwechselnd pflegen sie im Frühling und Herbst ihre Weingärten. Die Frauen waschen ihre Wäsche wie Nausikaa im Bergbach, kurz bevor er in die Brandung mündet. Die älteren Matronen, herbe, dunkle Frauen, wandeln in schwarzen Umhängen und schwarzen Schleiern wie Priesterinnen. Die Mädchen stehen abends breitschultrig mit Kannen am Brunnen. Das einzig Dunkle in der umrahmenden Landschaft sind die schwarzen Pyramiden der Zypressen an der Gräberstraße, die wie in Pompeji zwischen weißen Grabmonumenten aus der Stadt in die Felder führt. Sonst ist das ganze Land auf zarte, aber feste Untertöne von Silbergrau, hellem Schokoladenbraun und Opal gestimmt, die durch eine sanfte Erdenschwere der blauen Glut des Himmels und des Meeres trotzen. Wenn Odysseus hier landete, würde er eine Heimat wie die seinige wiedererkennen: und diese Heimat ist die Maillols.

Gewiß ist Maillol, der als junger Malschüler mit einem winzigen Stipendium ein Jahrzehnt des Elends in Paris durchlebte und jetzt jedes Jahr mehrere Monate auf dem Lande bei Paris, in Marly (dem »königlichen« Marly Ludwigs des XIV.) in einem bauernhofartigen, selbstgebauten Atelier arbeitet, fremden Einflüssen nicht ausgewichen. Er gehört zum Freundeskreise der Künstler, die nach den großen Impressionisten in Paris in den Vordergrund rückten: Bonnard, Vuillard, Roussel, Maurice Denis, Matisse. Mit Picasso und dem sonderbaren, geniehaften, aus einem Vagabundenleben zu starkem Schaffen emporgewachsenen Spanier Manolo hängt er landsmännisch zusammen. Einen tieferen Einfluß haben aber auf ihn doch nur Gauguin und die frühen Griechen ausgeübt. Gauguin war sein um mehrere Jahre älterer Freund und hat ihm, wie er sagt, »die Augen geöffnet«. Er ist durch ihn aus dem Impressionistischen heraus zum Dekorativen und Monumentalen gekommen. Er hat damals, weil er nicht die Kraft zu haben glaubte, in der Malerei das auf der Akademie Gelernte zu vergessen, zur Stickerei gegriffen und für seine erste Gönnerin, die Fürstin Bibesco, große gobelinartige Wandteppiche gestickt. Daneben im selben Geiste Majoliken geschaffen und, um die tiefen weißen und blauen Glasuren zu erzielen, die die alten Majoliken so kostbar machen, in einem eigenen Ofen nach eigenen Rezepten gebrannt: Vasen, Wandbrunnen mit zarten Frauenfiguren, zum Teil im Hochrelief, die wie jüngere Schwestern der Frauen von Jean Goujon und Bernard Palissy anmuten. Dann versuchte er und brannte in seinem Ofen kleine Tonfiguren und kam so wieder zur Plastik, in der er sich bereits als junger Kunstschüler auf der Kunstschule zu Perpignan versucht hatte.

Aber Gauguin offenbarte ihm noch ein zweites, nämlich das Paradiesische im Verhältnis zwischen Mensch und Natur, die blütenhafte und geheimnisvolle Schönheit des Menschen, der wie ein junges Tier, ein Reh, ein Vogel durch nichts abgesondert ist von der Natur. Dieses Paradiesische, das Gauguin in Tahiti suchen ging, hatte Maillol ganz nahe in seinem Heimatdorf. Dort trennt die Menschen nur eine dünne, durchsichtige Schicht von Namen und Gebräuchen von der Natur, Madonnen, die in Wirklichkeit Quellnymphen, Heilige, die Berggötter, Feste, die noch die der örtlichen Urreligion sind; ihre Körper, ihre Gebärden, ihre Gefühle wachsen wie die Steineichen und der wilde Lorbeer aus dem Boden. Maillol brauchte nur darauf hingeführt zu werden und fand dann den Zauber, der von der ungelösten Verbundenheit von Mensch und Natur ausgeht, tausendfach in seiner Erinnerung als eigenes Gut.

Dieses Gefühl für das Paradiesische des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, wenn es nie gestört worden ist, beherrscht seine Gestaltung des Nackten. Er bildet wirklich nackte Menschen, nicht bloß ausgezogene; nicht dämonisch ausgezogene wie Rodin, nicht dekorativ und der Feierlichkeit wegen ausgezogene wie Marées oder Puvis de Chavannes, nicht pariserisch bis zur Nacktheit dekolletierte wie Toulouse-Lautrec oder Bonnard. Die Haut der Maillolschen Frauen und Jünglinge ist noch nie durch Hüllen oder Scham von der Sonne getrennt gewesen, sie hat zum Licht und zu den Augen der anderen Menschen die gleiche naive, völlig unethische Beziehung wie die Oberfläche eines Rosenblattes oder der Farbenstaub auf den Flügeln eines Schmetterlings. In dieser Naivität seines Nackten berührt er sich gefühlsmäßig mit den Griechen, so wie er sich in seinem Begriff der Plastik, daß sie nämlich nicht eine bloße Wiederholung der Natur, sondern eine Harmonie von Massen sei, technisch mit ihnen berührt. Daher mußte die Epoche der griechischen Plastik, die jenen Begriff der Plastik am reinsten in die Wirklichkeit umsetzt und gleichzeitig das Nackte am naivsten behandelt, das frühe fünfte Jahrhundert, auf ihn wie eine Bestätigung seines eigenen Kunstwillens wirken. In Olympia lehnte er, als wir zusammen dort waren, den Hermes des Praxiteles ab; aber die Giebelfiguren und Metopen des Zeustempels redeten zu ihm wie Brüder und Schwestern in seiner eigenen Sprache.

Die Griechen führten ihn also ebenso wie Gauguin nur tiefer in sich selbst und seine Heimat zurück. Die Gegensätze, die den modernen Künstler zersplittern und zur problematischen Figur machen, die Konflikte zwischen modern und antik, zwischen Mensch und Natur, zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit, sind für Maillol nicht vorhanden. Er ist innerlich ohne sie und steht daher in der modernen Welt mit seinem Werk abseits und allein. Das ist das eine, was ihn und seine Kunst kennzeichnet.

Das andere ist, daß sein Werk trotz seines klassisch unproblematischen Bodens kein kaltes ist, sondern ein warmes, ein nicht von Leidenschaft, aber von einer alles durchdringenden Zärtlichkeit glühendes. Jede Fläche seiner Figuren wird von dieser Zärtlichkeit erwärmt, die nicht wie die Flamme der Romantiker sengt und verzerrt, sondern wie ein in stiller, reiner Luft brennendes Licht oder wie die Sonne die Gegenstände ihrer Liebe gleichmäßig streichelt und erhellt. Die Schönheit der Natur erschließt sich Maillol ganz nur im Liebesglück. Stendhals »La beauté est une promesse de bonheur« definiert genau, was er als Schönheit empfindet und zu geben sucht. Jedes seiner Werke ist eine von Zärtlichkeit, von Liebesglück durchglühte Harmonie plastischer Massen.

Daher ist er wie manche der größten französischen Künstler durch und durch Lyriker: wie die Bildner, Glasmaler, Architekten der französischen Gotik, wie Poussin, Claude, Watteau, Fragonard, wie Ingres, Corot und Renoir. Die französische Lyrik, die überhaupt in Farben und Massen (architektonischen und plastischen) Größeres geschaffen hat als in der Dichtung – vielleicht weil die analytische Schärfe des Verstandes schwerer an Farben und Massen herankann als an Worte –, hat in Maillol einen neuen großen Lyriker europäischen Formats hervorgebracht. Jede seiner Figuren ist ein Liebeslied. Seine Handzeichnungen sind wie die einzelnen Verse eines Liebesgedichts, das als plastisches Werk erstehen soll. Seine kleinen Tonfiguren und Bronzen haben in den zarten, knappen Liebesgedichten der Antike ihre nächsten Verwandten; eine Verwandtschaft, die sinnfällig und zauberhaft hervortritt in seinen Holzschnitten zu Vergils ›Eclogen‹.

Doch in seinen monumentalen Werken, in den beiden ›Hockenden‹ bei Osthaus in Hagen und bei mir in Berlin, dem Steinrelief des umschlungenen Liebespaares, der ›Pomona‹ in Winterthur, der liegenden Ruhmesgöttin für das Denkmal Cézannes, der Trauernden für das Kriegsdenkmal in Céret, die in übermenschlichem Schmerz wie die Mutter aller Toten des Weltkrieges dasitzt – ja schon in der Holzfigur einer sich Enthüllenden, die zwischen seinen Statuetten und den monumentalen Werken seiner späteren Zeit die Mitte einnimmt, – wächst diese Lyrik über sich hinaus, vertieft und weitet sich, streift die Fesseln ab, die sie an den Einzelfall binden, sucht jenseits des Einzelnen und Zufälligen das Allgemeine und Typische. »Ich suche die Idee«, antwortet Maillol häufig, wenn man ihn bei seinem langsamen, bedächtigen Arbeiten, das oft kaum voranzuschreiten scheint, fragt, was er macht? Und in der Tat ist der Weg, den er beschreitet, der Piatos; der Weg von dem einzelnen Gegenstande, der seine Liebe reizt, an der Hand dieser Liebe zu dem Typischen, das sozusagen die Quintessenz von dessen Liebreiz enthält und das Plato und nach ihm Maillol dessen »Idee« nennen. Mit Begrifflichem oder gar mit einer akademischen »Idealfigur« haben solche als Schöpfungen des Gefühls entstehenden »Ideen« selbstverständlich nichts gemein. Zu ihnen leitet keine Regel, kein Kanon, kein Allerweltsrezept, sondern nur etwas im höchsten Grade Individuelles, nämlich die Liebe, indem sie alles, was ihr nicht zur Nahrung dient, aus ihrem Gegenstande fortglüht, ihn auf das allein vereinfacht, was ihre tiefere Zärtlichkeit befriedigt, und daher vordringt zu einer durch dieses Fegefeuer von allen Zufälligkeiten gereinigten quintessentialen Form, die nicht wie die akademische kälter ist als die Natur, sondern wärmer, schwangerer, erregender.

Diese Vereinfachung durch die höchst individuelle gefühlsmäßige Abstraktion der Liebe begleitet bei Maillol die Vereinfachung durch die plastische Abstraktion der Masse, von der bereits gesprochen wurde. Oder richtiger, sie werden bei ihm zusammen zu einem Akte der künstlerischen Phantasie, über dessen zwei Bestandteile er sich selbst nur dunkel Rechenschaft ablegt, weil sie vollkommen in ihm miteinander verschmolzen sind. Bei anderen Künstlern ist im Gegenteil oft nur die eine oder die andere dieser Schöpferkräfte vorhanden, oder sie geraten miteinander in Konflikte. Das Ergebnis ihrer absoluten Verschmelzung bei Maillol ist die ihm in jedem seiner Werke mit nachtwandlerischer Sicherheit gelingende vollkommene Synthese zwischen Form und Gefühl.

Trotz dieser Geschlossenheit, oder richtiger gerade weil seine Figuren eine so vollkommen in sich geschlossene Harmonie bilden, streben sie über sich hinaus und heischen Anlehnung an andere ähnliche Harmonien. Anders ausgedrückt: deswegen sind sie echte Monumentalwerke, die mit innerer Logik den Zusammenhang mit einer nach gleichen Prinzipien gestaltenden Architektur fordern. Nichts ist Maillol schmerzlicher, als daß er seine Figuren ohne diese Anlehnung, sozusagen ins Blaue hinein schaffen muß. Sie bleiben für ihn daher bei noch so großer Vollendung Fragmente. Immer wieder klagt er über »dieses dümmste aller Zeitalter«, das nicht einmal eine Architektur zuwege bringt. Die graue Steinfigur der ›Trauernden‹ in Céret, die von der schön geschwungenen, blauschwarzen Gebirgswand der Pyrenäen umrahmt wird, ist die einzige seiner Statuen, die den Anschluß an ein umfassendes und harmonisches Ganzes erreicht hat. Daher hat er sich gern einmal in die Architektur des Buches geflüchtet, um wenigstens in diesem kleinen Rahmen eine sichere Anlehnung für die Harmonie seiner Formen zu finden; aus diesem Drang sind die Holzschnitte zum Vergil entstanden. Auch hier ist der Gegensatz zwischen Maillol und Rodin grundlegend. Ein Werk von Rodin lehnt seinen Hintergrund, Architektur, Natur oder Buch, immer ab. Es leitet bloß in sich hinein, nicht aus sich hinaus in die Umgebung und in die Weite. Rodin war die Blüte des abgerissensten und kompliziertesten Individualismus. Maillols Kunst dagegen strebt auf dem Wege über das Individuelle wieder nach einer Gemeinschaft, die den Einzelnen mit der Gesellschaft, den Menschen mit der Natur, das Individuum mit dem Ganzen versöhnt und zu einer allumfassenden Harmonie vereinigt, in der dann das Kunstwerk als Teil und höchster Ausdruck dieser Harmonie seinen natürlichen Platz hat.

Die Göttlichkeit des Alls und die Vollendung alles dessen, was mit diesem Göttlichen, mit dem Licht, mit der Natur, mit den Sinnen und dem Herzen der Menschen in ungelöster, ungetrübter Verbindung steht, ist der Glaube, den Maillol mit tiefster lyrischer Inbrunst verkündigt. Dieser Glaube wird bei ihm ganz zu plastischer Form; oder richtiger umgekehrt, es ist zu sehen, wie die fortschreitende Vollendung der plastischen Form, je vollkommener sie wird, um so überzeugender diesen Glauben aus sich hervorbringt. Rodin sagte einmal, als wir zusammen Maillol in seinem Atelier besuchten, plötzlich mit monumentaler Kürze: »Die Griechen meißelten das Licht« (ont sculpté la lumière); und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: »aber die Künstler der Kathedralen haben es verstanden, an den Eingangsportalen ihrer Dome den Schatten zu meißeln!« Rodin empfand offenbar seine Abstammung von den Letzteren und das Trennende hierin zwischen ihm und Maillol, das unüberbrückbar Trennende der im Blute liegenden Weltanschauung. Er, dessen tiefste geistige Erlebnisse Dante und Baudelaire waren, gestaltete mit seiner Sehnsucht nach dem Lichte doch den Schatten, die Schönheit wurde unter seinen Händen Sünde. Maillol schritt auf einem Wege, auf dem er ihm geistig, aber nicht gestaltend folgen konnte, fort und vermochte dithyrambisch überzeugend zu singen, daß Schönheit Unschuld ist. Die Tore zum Paradiese standen offen; aber der Ältere, Nebelgeborene konnte nicht eintreten. Diesem Erlebnis, das auch auf Maillol einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck gemacht hat, soll nichts hinzugefügt werden. Es drückt sinnbildlich das Verhältnis Maillols zur ganzen modernen Kunst aus.


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