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Nationalität

(1906)

Fichte definiert in seinen Reden an die Deutsche Nation den Begriff »Deutsch«. Er sagt: »Deutsch ist ...«. Und dann kommt eine Liste der Vorstellungen und Grundbegriffe seiner Philosophie. Er fügt hinzu: »Deutsche macht man ...«; und das Mittel ist, seine Begriffe beizubringen.

Die Nationalität als ein Produkt von Vorstellungen, philosophischen oder anderen, ist uns seitdem geblieben. »Ich denke mir dies oder das; darin besteht mein Deutschtum«: so lautet die geläufigste aller Anschauungen. Sie ergänzt sich, wie bei Fichte, durch den Zusatz: »Diese oder jene Vorstellungen machen deutsch. Jemand oder etwas wird deutsch, wenn ich ihm diese Vorstellungen einpflanze.« Manchmal heißt es statt »Denken« auch: »Ich denke mir und will dies oder das; mein Deutschtum besteht darin, daß ich bei meinem Handeln von diesen oder jenen Vorstellungen ausgehe.« Im Wesen macht das keinen Unterschied; hier wie dort ist das »echte Deutsche« eine Reihe von Vorstellungen oder, wie man sich im zweiten Falle ausdrücken wird, Idealen, deren Besitz die Nationalität ausmacht. Echt deutsch kann eigentlich nur ein gebildeter Mensch sein. Daher unser Bildungswesen; ebenfalls unsere offizielle Kunst.

Aber Vorstellungen können nicht Nationalität sein. Vorstellungen wandern. Das Schauspiel der Welt, der inneren wie der äußeren, ist überall ähnlich. Jeder kann überall jede Art Vorstellung und Begriff haben. Dieser Besitz steckt keine Grenzen ab. Es ist mit ihm wie mit anderem Eigentum: Kleider machen keine Leute; Ideale ebensowenig. Im Gegenteil: sie sind wie das ausgemünzte Gold, das von Land zu Land geht und überall ungefähr dieselbe Geltung hat. Es klingt ja sehr hübsch, wenn die kleinen Jungen in der Schule singen: Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang; aber mir fällt dabei eine Geschichte ein, die mir die Frau des früheren japanischen Gesandten in Wien erzählte. In Schönbrunn nach einem Hoffest auf der Terrasse. Der Vollmond steht strahlend über der Gloriette. Die kleine Gesandtin blickt ergriffen in den Park hinaus. Da beugt sich eine Hofdame zu ihr nieder und säuselt: »Nicht wahr, das ist wunderbar. Haben Sie, Exzellenz, in Japan auch einen so schönen Mond?«

Die Freizügigkeit der Vorstellungen hat man vielfach wohl gefühlt; gewisse Kreise meinten aber, eine Art dürfe man ausnehmen: die, die sich an die Heimat und Heimatgeschichte anknüpfen. So dachten die Männer, die nach den Freiheitskriegen die deutsche Nationalität wieder aufbauten. Die Jugend sollte deutsch werden, indem man sie mit Bildern aus der deutschen Vergangenheit und mit Rheinlandschaften vollfüllte. Nationalität sei Liebe zu heimatlichen Vorstellungen, Nationalität sei Nationalbewußtsein. Ebensogut hätte man meinen können, Persönlichkeit sei Liebe zum Selbst oder Selbstbewußtsein. Wenn die Rechnung stimmte: wieviele Griechen hätten wir dann unter deutschen Gymnasialprofessoren! Und wie schwer hätten die Griechen es selbst gehabt, Griechen zu sein ohne Geschichte oder Historienbilder!

Und auf diesem Fundament erhebt sich noch die Folgerung: »Wenn gewisse Vorstellungen deutsch sind und deutsch machen, dann sind und machen die Gegenvorstellungen undeutsch.« Schon Fichte sagt: »Ausländerei aber ist ...«; und gibt ein Verzeichnis der Vorstellungen seines Gegners Hegel. Und auch dieses Austeilen von Mein und Dein auf Deutsch und Undeutsch ist uns geblieben. »Ich denke mir dies oder das. Diese Anschauung ist deutsch. Jeder Deutsche muß sie haben. Du denkst Dir etwas anderes. Folglich bist Du undeutsch«: so lautet das geläufigste aller Plädoyers. Es gleicht ein wenig der Antwort der großen Dame, die bei Wilde gebeten wird zu definieren, was »schlechter Ton« sei. »Schlechter Ton«, sagte sie, »ist, was die anderen für Manieren haben.« Ob ich deutsch bin, entscheiden allerlei Geschmäcker, wenn nicht gar allerlei Interessen.

Das Wesenlose dieses intellektuellen Patriotismus, mit seinen Blüten nationaler Einbildung, nationalen Brusttons in Privatgeschäften, hat Skeptiker gemacht, die fragen, ob Nationalität überhaupt etwas ist, ob hinter der äußerlich gegebenen Tatsache der politisch-geographisch abgezirkelten Nation eine innere Tatsache steht, die dieser Zusammenfassung ethische und geistige Bedeutung gibt, etwas der Nation eigenes, durch das sie auch innerlich eins und abgesondert ist; oder ob Nationalität nichts ist als eine Konvention, ein Rufname zur Bequemlichkeit für Diplomaten. Denn jene kleinen Vulgärformen des Nationalgefühles, die sich immerwährend vordrängen, sind offensichtlich leer; und die zwei oder drei großen Konzeptionen der Nationalität, die die Welt bewegt haben: die Nationalität als Sprachgemeinschaft, die Nationalität als materielle Interessengemeinschaft, die Nationalität als Rasse, halten kaum der Untersuchung stand.

Die Rassentheorie macht Annahmen, die unbewiesen und dazu noch unwahrscheinlich sind. Wenn sie deutsch und germanisch gleichsetzt, so kann man zweifeln, ob es heute auch nur einen Menschen gibt, dessen Blut rein germanisch ist. Eine Nation aber von reinen Germanen in unserer Zeit ist ein Hirngespinst.

Ebensowenig kann eine materielle Interessengemeinschaft zur Nationalität genügen. Denn die Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen Interessen beschränkt sich nirgends heute auf ein Volk; sie besteht zwischen Fremden über die ganze Welt hin. Die Banken, die Kartelle, die Arbeiterorganisationen sind der Ausdruck im Großen von Tatsachen, die bis in die kleinsten Fasern jedes Lebens hineinverlaufen. Wie weit entfernt die wirtschaftlichen Interessen heute sind, eine Grundlage der Nationalität zu sein, zeigen die rein wirtschaftlichen Parteien, die alle mit der Zeit international werden; nicht nur die Sozialdemokraten und die Freihändler, sondern ebenso auch die Schutzzöllner, die die Logik des Wirtschaftslebens jetzt immer mehr dazu treibt, Verbände weit über eine einzige Nation hinaus anzustreben. Wenn Nationalität das Bewußtsein gemeiner Wirtschaftsinteressen wäre, so wäre ihre Zeit jetzt in der Tat um.

Auch die Sprache vereinheitlicht durchaus nicht immer. Sie hat noch nie einen Neger zum Yankee gemacht. Und wenn das Esperanto Weltmuttersprache würde, so würde sich, wie man sicher sagen kann, an der Vielheit der Nationalitäten wenig ändern. Trotz der Spracheinheit entwickelt sich zum Beispiel zwischen Engländern und Australiern ein Unterschied, der von Generation zu Generation größer wird, so daß heute schon ein Australier unter Engländern wie inmitten eines fremden Volkes steht. Sehr bemerkenswerte Äußerungen, die das aussprachen und belegten, standen vor einigen Monaten im »Spectator«. Und ähnlich geht es mit den altfranzösischen Kanadiern. Wer die langsamen, schwer begreifenden Franzosen der Provinz Quebec kennen lernt, mit ihrer Schar von zehn bis zwanzig Kindern, wird eher an Buren oder Hinterpommern als an feinnervige Franzosen denken. In beiden Fällen, die man leicht vermehren könnte, gibt es keine innere Einheit, trotz der Sprachgemeinschaft, ja, trotz des noch unvermischten gleichen Blutes. Der erste Fall ist besonders lehrreich, weil England und Australien auch alle übrigen Elemente der Kultur ebenso wie der Sprache gemein haben.

Also weder Weltanschauung noch geschichtliches Bewußtsein, noch Rasse, noch Wirtschaftsleben, noch Sprache, noch Kultur schaffen die innerliche Eigenheit und Einheit, die man Nationalität nennen dürfte. Und man könnte hier die Untersuchung abbrechen und die Nationalität in der Tat für bloß äußerlich und leer halten, wenn nicht gerade der zuletzt genannte Fall des australischen Fremdgefühls in England etwas Positives erblicken ließe, das den Weg zu einer neuen, mit jenen Dingen nicht abgetanen Auffassung eröffnet: nämlich das durch dieses Fremdgefühl gegen Engländer als seine Folie vorausgesetzte Verwandtschaftsgefühl der Australier unter sich.

Dieses Verwandtschaftsgefühl unter Landsleuten ist eine besondere Art der Sympathie. Nicht die Sympathie aufgrund eines Affektes wie die Liebe, wo man ähnlich wie ein anderer fühlt und sieht, weil man will. Nicht Sympathie aufgrund von bewußten Anschauungen, Zielen, Gefühlsweisen, Manieren oder selbst Charakterzügen, wie sie der Freundschaft zu Grunde liegt. Sondern etwas weniger Aufdringliches, etwas Verborgeneres, aber Tieferes, Subtileres, Diffuseres, etwas von derselben Art, wenn auch schwächerer Ordnung, wie die Geschwisterliebe: ein immer wieder miteinander ähnlich Reagieren, weil die Voraussetzungen des Gefühles und Reagierens ähnlich sind, ein oft ganz unerwartetes Zusammentreffen im Gefühl, in der Anschauung, in den Handlungen, weil beide Seelen die Erlebnisse in die gleichen Formen füllen, eine Sympathie aufgrund der Formen, die die Empfindungen, Affekte, Willensreaktionen annehmen; was übrigens auch die besondere Art von Antipathie zwischen Geschwistern, zwischen Landsleuten erklärlich macht, wenn diese unentrinnbare, immer wieder neu sich gebärende Ähnlichkeit ringsherum eine ganze Sippe von »moi haissables«, von sichtbaren, stillen uneingestandenen Vorwürfen schafft.

Diese Sympathie – oder auch Antipathie – zwischen Landsleuten beruht also auf der Ähnlichkeit der Formen, in die die Erlebnisse in der Seele hineingeraten: auf der ähnlichen Gestalt, die ein Reiz, ein Gefühl, ein Reflex annimmt. Man kann zum Vergleich an das Bett eines Stromes denken mit seinen individuellen Breitenverhältnissen und Biegungen, wie wenn diese den Verlauf der Empfindung oder Willensbahn leiteten und in beiden Seelen ähnlich wären.

Und wie im Strombett die Form des Wassers nichts ist als eine Art von Tanzfigur oder Prozessionsordnung, in der sich die Wassermoleküle nach dem Meere zu bewegen, bald hier in schmaler Front und hochgetürmt übereinander pfeilschnell und gerade fließend, bald dort in großen Bogen, in breiter, niedriger Formation eine majestätische Figur durchführend, so ist auch die psychologische Form nichts als Bewegung, ein Tempo und eine Marschroute, denen der von außen oder von innen kommende Inhalt sich unterwirft. Form ist in der Seele gleich Bewegung. Das heißt: Wechsel und Intensitätswandel der Vorgänge, Kurve ihres Auftauchens, Anwachsens, Hinschwindens, Zeitmaß, in dem sie einander suchen, wieder fliehen, aufeinander folgen, regellos oder rhythmisch. So zerfällt die Seele in Bewegung und Bewegtes. Die Bewegung ist das Wie ihres Lebens, dem als Was die Eindrücke, Vorstellungen, Gefühlsfarben, Willensvorgänge gegenüberstehen. Die Verschlingung der verschiedenen Bewegungen, in denen der Inhalt meiner Seele an Empfindungen, Erinnerungen, Gefühlen, Absichten begriffen ist, ist die Form, die für mich in diesem Augenblick die Welt annimmt. Natürlich wird »Seele« hier nicht in irgendeinem metaphysischen Sinn gebraucht, sondern nur als die kürzeste Ausdrucksweise für den Schauplatz der psychologisch betrachteten Erscheinungen, wie von Wundt im Titel seines Werkes ›Vorlesung über die Menschen- und Tierseele‹.

Die Eigenschaften, die das Tempo und die Kurven der psychischen Bewegungen bestimmen, lassen sich summarisch aufzählen. Außer Harmonie oder Reibungen zwischen verschiedenen Bewegungen: Heftigkeit der Gefühle und Affekte, Schnelligkeit und Beständigkeit des Wollens, Lebendigkeit der Phantasie, Feinheit der Sinne und des Intellektes. Denn die sogenannte feine Sinnlichkeit ist nichts als eine Art der Bewegung. Eine besondere Gelenkigkeit beim Auf- und Absteigen an der Tonleiter der Empfindungen; nicht eine Qualität der Eindrücke, sondern der Verarbeitung der Eindrücke. Wo der eine auf dem Weg zwischen zwei Empfindungen wie ein Stelzengänger nur drei Stationen machen kann, vermag der andere sich, wenn er will, zwanzigmal aufzuhalten. Nicht die Kraft der Eindrücke, nur ihre Relationen sind im Spiel. Große Stärke der Empfindungen beim Genuß von Gänseleberpastete ist noch kein Zeichen feiner Sinnlichkeit. Jemand, dessen Gaumen Trüffeln weniger stark reizen, kann vielleicht mehr Trüffelarten unterscheiden. Dieser ist der Gourmet. Und ebenso ist es mit dem Intellekt. Je mehr Zwischenstufen zwischen zwei Begriffen einer finden kann, und je mehr Verbindungsbrücken er hin- und herzuschlagen weiß, um so feiner ist sein Kopf. Die starre Vehemenz des Inhaltes hat damit nichts zu tun. Im Gegenteil: am weitesten entfernt von feiner Geistigkeit ist der Fanatiker, dessen ganze Seele sich um einen blendenden Begriff wie die Motten um den Leuchtturm im Kreise oder Wirbel dreht.

Diese Eigenschaften, die den seelischen Bewegungen Gewohnheiten, Gesetze, Bahnen vorschreiben, sind also, da Form in der Seele gleich Bewegung ist, seelische Formtendenzen. Sie sind im Innern, was äußerlich die Gebärden sind. Sie lassen sich mit den Tendenzen zu bestimmten Bewegungsarten in elastischen Körpern vergleichen, die häufig nach derselben Seite ausgezogen worden sind. Was die Faktoren sind, die in der Seele an den Formtendenzen bilden, beginnt man eben erst klarzustellen. Immerhin kann man schon sagen, daß zum Beispiel auf die sinnliche Behendigkeit und die Flüssigkeit der Gefühle, das Klima und die Formation des Landes einwirken. Das ist eine Allerweltsweisheit, die der Untersuchung standhält: ich habe das in meinem Buch über Mexiko im einzelnen nachzuweisen versucht. Die Kälte nordischer Naturen, wo der Entschluß sich wie die nordische Gewitterwolke schwer aus dem Nebel der Gefühle zusammenballt und schwer wieder auflöst, ist sprichwörtlich. Sentimental, aber, wenn er endlich einmal will, entschlossen, das ist eine bleibende Formtendenz des Nordländers: Musik und Schwertgeklirr, Hamlet, Prinz von Homburg, Florian Geyer; schon die erste große nordische Gestalt der Dichtung ist ihr Bruder, der blondlockige Thessaler Achilleus. Die Besonderheit der Landschaft, Bergeshöhen oder Meeresküste, Feuchtigkeit oder trockene Luft, gibt die Eigenheit wieder anderen Arten der Bewegung. Die leichte, silberhelle Luft Athens und der Isle de France scheint das Element der feinsten Sinnlichkeit. Daß diese nichts ist als Gelenkigkeit des Empfindens, ist erwähnt. Eben deshalb wiederholt sich diese Feinheit auch im Intellekt; während sonst nicht einzusehen wäre, warum sie sich auf die Tätigkeit mit einem anderen Inhalt, Abstraktionen, übertragen sollte.

Die Komplexität der Bewegungstendenzen, die schon das Klima und die Landschaft hervorrufen, ist ungeheuer. Die angeführten Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Und noch viel mehr Einflüsse dieser Art sind verborgen und unfaßbar.

Aber Klima und Landschaft im ganzen selbst sind nur ein Teil der Faktoren, die die seelischen Formtendenzen ausbilden. Vererbte Eigenschaften können überhaupt nur Formtendenzen sein; Inhalt ist ja nur dem Individuum gegeben. Die Tatsache aber der Vererbung ist seit Darwin von der Anthropologie durch zahllose Beobachtungen sichergestellt; das »Blut« spricht wirklich mit, aber eben nur in diesem Sinn, als formaler Faktor. Man erwartet a priori schon, daß dabei Verdoppelung, wenn Tendenzen zugleich vom Vater und der Mutter kommen, Anlagen verstärken muß; und Beobachtung bestätigt dies, wenigstens im allgemeinen. So kommt es, daß, wenn Generation auf Generation immer wieder auf beiden Seiten gleiches Blut erbt und weitergibt, die Formtendenzen sich befestigen. Menschen solcher einheitlichen Abstammung haben mehr als andere ausgeprägte Tempi und Bewegungskurven. Sie stecken voll scharfer Form.

Hier ist der Ursprung des Begriffes der Rasse. Aber wie schon aus dieser Darstellung hervorgeht, ist Rasse fortwährend in der Bildung begriffen. Sie ist nicht eine Tatsache der Vergangenheit, bei der Schöpfung mit ins Paradies gesetzt, sondern ein fortwährend wechselndes Resultat, ein Zufall des großen Glücks- und Liebesspieles, um das sich die Welt dreht. Wo während einiger Generationen die Blutmischung gleich geblieben ist, entsteht Rasse. Und gleichgültig ist, ob dabei ursprünglich die Blutstränge verwandt oder verschieden waren, wenn nur nachher die Mischung dieselbe bleibt. Gerade deshalb aber ist Rasse als Erscheinung unvergänglich und bedeutsam, nicht, weil es einmal die und die bestimmten Rassen gegeben hat, sondern, weil immer wieder neue »Rasse« zur Entstehung kommt. Ja, dieser Vorgang ist so auffallend und so typisch für das Festwerden von seelischen Formtendenzen, daß man die Bezeichnung »rassig« auf innere Formtendenz überhaupt ausgedehnt hat. Man kann sich das der Prägnanz halber gefallen lassen, wenn man nicht vergißt, daß die anderen Faktoren zahlreich und, wie die beginnende Spaltung zwischen Engländern und Australiern, Altkanadiern und Franzosen zeigt, zum Teil stärker sind als das Blut.

Es würde viel zu weit führen, wollte ich hier allen den Faktoren nachgehen, die schon jetzt mit einiger Wahrscheinlichkeit als formbildend in der Seele angesehen werden können. Ich möchte nur noch zwei erwähnen: den Helden, die Berufsarbeit.

Die Wirkung des Helden ist durchaus suggestiv. Das heißt: die Nachahmung seines Wesens ist eine Art von innerer Mimik, ein Reflex, kein intellektuell bewußtes Nachkonstruieren seines Lebens oder Aufnehmen seiner sauber in Begriffen auszudrückenden »Ideale«. Seine Wirkung ist also »formal«, nicht inhaltlich. Darin besteht seine Unsterblichkeit. Während seine Ziele veralten, seine Moral vielleicht verwerflich wird, bleibt die Form seiner Seele mit ihrer suggestiven Gewalt, die das ist, was von vornherein ihn zum Helden und Verführer macht. Byron, der vielleicht am vollkommensten als Heros im modernen Europa gewirkt hat, hat für jedes Dutzend Menschen, das ihn las, tausend anderen seine Seelenform aufgeprägt. Sein großer, kühner Intellekt ist fast unbeachtet vorübergegangen. Seine Seelenform, diese sehr künstliche Mischung der hautainen Dandy-Reserviertheit Beau Brummeis und der Rousseau-Schlegelschen Sentimentalität, wurde durch die Expansivkraft seines Temperamentes zum Anfang einer neuen Zeit. Sokrates hat in Athen offenbar ähnlich gewirkt, durch die Form mehr, als durch den Inhalt seines Denkens; auch er von der ebenfalls formalen Eigenschaft des gewaltigen Temperamentes emporgetragen. Aber was hier im großen mit einer ganzen Welt geschieht, wiederholt sich tausendfach auch im kleinen. Von jedem starken, kühnen Temperament strahlt Form aus auf die Umgebung. So durchzieht ein Netz solcher Wirkungen von Kreis zu Kreis die Gesellschaft. Die Musik der inneren Formen von »Helden« im großen und im kleinen ist eins der tiefsten Fundamente jeder Ethik. Geschriebene Ethik verhält sich dazu wie Ästhetik zur Kunst.

Die Erziehung durch den Beruf gleicht der durch das Klima und die Landschaft. Immer wiederholte Eindrücke und Tätigkeiten bilden sich zu Tendenzen aus. Und die Formen, die entstehen, strahlen vom Beruf wie vom Helden auch auf die Umgebung aus. Je mehr irgend ein Beruf überwiegt, um so mehr wird von seinen Formtendenzen in den Kreis um ihn übergehen. Das ist eine altbekannte Tatsache; nur beachtet man gewöhnlich viel zu wenig, daß es Form ist, die der Beruf ausstrahlt, nicht nur Gesinnung, – wenn Gesinnung eine Summe von Anschauungen sein soll. Daher das »Rassige«, im vorhin erweiterten Sinn alter Handelsstädte.

Diese Andeutungen über die Faktoren, die die Formtendenzen ausbilden, genügen hier. Worauf es ankommt, ist, daß es in der Seele ähnlich wie in elastischen Körpern Formtendenzen gibt, und daß diese mit gewissen vielfach nachweisbaren Faktoren in Beziehung stehen. Einige von diesen Faktoren (und jedenfalls die hier genannten) sind, wie man sieht, räumlich begrenzt. Landschaft und Klima selbstverständlich, das Blut durch die Mischungen nahe Zusammenwohnender, der Held, weil sein Einfluß abnimmt mit der Entfernung. Selbst Erscheinungen wie Christus oder Franz von Assisi haben örtliche Intensitätsmaxima. Noch viel lokaler sind natürlich die kleineren Helden und Heiligen. Und ähnlich ist es mit den Berufstätigkeiten. Welche sich entwickeln, welche überwiegen, hängt zum großen Teil an geographischen und politischen Bedingungen.

Auch die Formtendenzen sind daher, wenigstens soweit sie von solchen Faktoren abhängen, räumlich begrenzt. Und wo eine Mehrheit formbildender Faktoren in einem Gebiet zusammentrifft – zum Beispiel: die Küste, die Matrosentätigkeit und das Fortwirken einer Reihe großer Seehelden wie Drake und Raleigh und all der Tausende tapferer Kapitäne in Cornwall, da bilden sich auf ein Gebiet beschränkte Komplexe von Formtendenzen. Ein Komplex von Formtendenzen: nichts weiter ist aber auch die Persönlichkeit; ein unendlich mannigfacher Komplex von Formtendenzen.

Denn eine Summe von individuellen Formen ist, was übrig bleibt, wenn ich in diesem Augenblick alles abstreife, was in mir von außen stammt oder mit mir anderen gemein ist. Also zuerst, als oberste und äußerlichste Schicht, die gegenwärtig in mich eindringenden Empfindungen. Dann, was an Erinnerungen und Begriffen oder Zielen hineinspielt; lauter von der Außenwelt Gepflanztes. Schließlich das Rohmaterial der Gefühle, das jeder mitbekommt und erst durch die Tempi und Intensitätkurven, die es in ihm annimmt, individuell macht. Meine Persönlichkeit in diesem Augenblick ist nichts weiter als die Gesamtheit der Formen, die ich dem auf mich eindringenden und aus mir hervordringenden Chaos aufpräge. Meine Persönlichkeit überhaupt und außerhalb des Momentes betrachtet, ist mithin die Summe aller in mir wirksamen, auf gewisse Formen gehenden Tendenzen. Nur deshalb gibt es nicht bloß locker aneinander gereihte Empfindungen, Gefühle, Willensakte, Erinnerungsbilder, sondern Menschen, weil es Formen gibt und Tendenzen zu bestimmten Formen, die konstant bleiben und so konstante Individualitäten schaffen. Der Inhalt der Seele gleicht nicht der Perlenschnur des indischen Märchens, sondern dem immer wieder nach denselben Gesetzen sich zusammenschließenden Kristall; bekanntlich gibt es ja auch flüssige Kristalle.

Und wie in der Kristallographie, so wiederholen sich auch in der Psychologie dieselben Formtendenzen immer wieder in unzähligen Individuen. In irgend einem altmodischen Roman aus der Zeit der geistreichen Teezirkel spricht die geistreiche Frau von gewissen Menschen als Rubinen, von anderen als Opalen oder schweren, schwülen Turmalinen. Sie symbolisiert so für sich in naiver Weise diese Analogie, daß ein Mensch ebenso wie ein Kristall nichts ist als eine sichtbare Formtendenz und daß, wie Kristalle in Systeme, so die Menschen sich in Typen scheiden.

Jedes Typische ist nicht räumlich begrenzt; aber jede Formtendenz, die von räumlich begrenzten Faktoren ausgeht, neigt dazu, typisch zu werden. Ja, es gibt solche, die innerhalb des Wirksamkeitsgebietes ihres Faktors ganz allgemein werden, in jedem Menschen dort zur Ausbildung gelangen: so der Wechsel zwischen Reizbarkeit und Apathie in den Tropen. Aber unter diesen Formtendenzen, die im eigenen Gebiet allgemein sind, wirken welche stärker, welche schwächer im Verhältnis zu dem Reste der Persönlichkeit. Einige prägen ihre Zeitmaße und Kurven dem Seeleninhalt tief ein, andere spielen nur darüber hin. Die einen sind wie Wellen an der Oberfläche, eine leichte Haut der Form. Den anderen gehorchen die Empfindungen, Phantasien, Willensakte wie das Wasser den Gestaltungen im aufgerührten Meer. Man erkennt sie in ihrer Heimat in jeder Äußerung irgend eines inneren Kräftespiels; und die Grenzen, wo sie auf der Landkarte aufhören, markieren sich durch den Wechsel in etwas Wesentlichem der Persönlichkeit.

Hier also ist etwas einer Gemeinschaft eigenes, das sie innerlich zusammenschweißt und nach außen absondert: die räumlich begrenzten Elemente der Persönlichkeit, sofern sie wesentlich und innerhalb der Grenzlinien allgemein sind. Nicht irgend ein Inhalt: historische Erinnerungen, nationale Ziele, Weltanschauung, nicht einmal eine Sprache, sondern Formtendenzen, wiederkehrende seelische Bewegungen und Bewegungsrelationen, die dem Inhalt ihre Kurven und ihr Zeitmaß aufdrücken. Nationalität ist ein Tempo der Seele.

Stendhal hat das eingesehen und sein Leben damit zugebracht, das Tempo der Bewegung, das den Italiener macht, zu studieren. Es genügt ihm nicht, die Empfindungen, Affekte, Phantasiegebilde ihrem Inhalt nach festzustellen, jedesmal geht er auch auf das Zeitmaß und die Kurven im Verlauf der psychologischen Erscheinung ein. Sein Gesichtspunkt bei der Analyse ist, wie man fühlt, überall dynamisch, nicht nur materiell und chemisch. Daher seine Vorliebe für redende, handelnde Einzelpersonen, für den kleinen Vorfall, die Anekdote; nicht bloß, weil er Romancier ist, sondern umgekehrt: er wurde, wie man fast vermuten könnte, Romancier, weil die Bewegung, die eine Vorstellung, ein Gefühl, ein Entschluß in der Seele durchmacht, weil die Form in der Seele nur am Einzelfall zu sehen und zu zeigen ist; Verallgemeinerung läßt nur Inhalt übrig.

Dieser Satz, daß jede räumlich eingeschränkte, aber in dem eigenen Gebiet allgemeine und starke seelische Formtendenz Nationalität ist, zwingt zu Folgerungen, die mit bekannten Tatsachen übereinstimmen und daher die Prämisse bestätigen. Zunächst, daß es dann am selben Ort, in derselben Person, zur selben Zeit auch mehrere Nationalitäten geben kann. Aber gerade dieses ist der Fall; und keine Theorie der Nationalität, die das ausschließt, ist haltbar. Ein Beispiel ist Griechenland, wo die griechische, die ionische, die athenische Nationalität wie von Stufe zu Stufe zum Parthenon emporführen. Die deutschen Stämme haben jeder eine Nationalität, ebensogut wie die Deutschen überhaupt. Jedem Stamm bei uns entsprechen eigene Formen des Empfindens, Fühlens, Wollens, die keine »allgemeine Bildung« oder Volksschule tot macht. Und überall ist es ebenso. In Frankreich entdeckt Barrès eben jetzt die »nationalité lorraine«, in England Yeats sein keltisches Traumland, wo das wollüstig leise Hindämmern von Gefühl und Phantasie wie ein fernes, nebelhaftes Meer die Seele einhüllt. In Italien, Spanien, Skandinavien gibt es ähnliches. Und nirgends will das heißen, daß die größere Nationalität auseinanderfällt. Sondern neben ihren Formtendenzen gibt es andere, noch lokalere in den Seelen. Man kann nicht im selben Augenblick Hochdeutsch und Plattdeutsch sprechen, aber sehr wohl im selben Augenblick allgemein deutsche und niederdeutsche Formen in der Seele haben.

Deshalb ist es auch kein Gegensatz, ein guter Deutscher und ein »guter Europäer« zu sein; ein Konflikt zwischen national und »international« existiert nicht. Die »internationalen« Formtendenzen sind in demselben Sinn national wie die engeren, heimatlichen; nur ist ihr Gebiet größer. Aber allerdings kann zwischen diesen Schichten der Seele der Akzent wechseln. Zu gewissen Zeiten sind Formtendenzen, deren Kreis zufällig klein ist, die wirksamsten in der Persönlichkeit. Ihre Grenzen leuchten hell. Zu anderen Zeiten liegt der Nachdruck auf solchen, die sich gleichzeitig auch in die Ferne ausbreiten. Es ist ein Hin und Her innerhalb des Nationalen.

Überhaupt ist Nationalität nichts Starres, Totes, einmal für allemal Gewordenes; ebensowenig wie etwa Rasse. Jede Nationalität verwandelt sich fortwährend. So wird durch eine Reihe langsamer Veränderungen aus dem Griechentum Homers über Sparta, Athen, Alexandrien, Byzanz das Griechentum des Botzaris. Und beide sind eins, selbst wenn Fallmerayer recht hatte und kein Tropfen altgriechischen Blutes in den Adern der Athener kreist. Denn gewisse Grundtendenzen in der Form, ein gewisser Mechanismus der Persönlichkeit, des Intellektes, der Entschlußfassung ist geblieben als Tatsache, die sich hier tiefer und beständiger als Blut erweist.

Etwas anderes ist es, wenn ganz neue Elemente der Persönlichkeit auftreten. Dann erscheint eine neue Nationalität. So um 1200 das Europäische. Die kriegerische Roheit sublimiert sich in den Kreuzzügen zum Ritterlichen, zu einer Willensdisziplin, die jeder Tätigkeit ein unvergleichlich biegsames und scharfes Instrument liefert. Und gleichzeitig schafft die Erregung um Passion und Madonnenkult eine neue Relation von Gefühl und Phantasie: die große Sentimentalität um das wunderbare Phänomen der Liebe. Diese Willens- und Gefühlsformen sind noch heute, nach dem Hinschwinden der Vorstellungen, unter deren Druck sie entstanden, das Innerlichste, was Europa zusammenbindet. Und ähnlich war die Wirkung des Protestantismus. Auch er hat durch eine Neugestaltung der Persönlichkeit eine tiefe seelische Gemeinschaft gegründet zwischen allen Völkern Nordeuropas: innerhalb Europas die moderne Welt abgegrenzt. Am frappantesten fühlt man das, wenn man Cromwells Porträt in der Londoner Nationalgalerie mit van Dycks Karl dem Ersten vergleicht. Auch die katholischen Länder hatten damals kühle Staats- und Geschäftsmänner: Wallenstein, Richelieu, den Conde Duque Olivares. Aber keiner von ihnen bietet denselben Gegensatz zum Porträt des Königs: sie sind von derselben Rasse, nur energischer. Hier aber dieser Puritaner ist aus einer anderen Welt. Nach hundert Jahren ist der Protestantismus ins Blut gegangen, mehr geworden als ein Dogma: eine Form; und Cromwell verkörpert sie, im Blick, in der Haltung, in der Linie. Sein Küraß sitzt auf ihm wie ein Whistlerscher Frack: das » je ne sais quoi«, das zwei Welten scheidet, liegt zwischen seiner eleganten Schlichtheit und der Art, wie der König sein Atlaswams und seine Perlenohrringe zur Schau trägt. Bei uns wuchs innerhalb dieser puritanischen Form dann das Preußentum, wieder eine Neuschöpfung der Persönlichkeit. Die Könige und der Rohrstock haben es zurechtgeschlagen, ohne viele Raisonnements oder idealgeschichtliche Kommentare; und gerade deshalb haben sie tief und treu gebaut. Ein Feldwebel ist hier eine ganze Bank voll Universitätsprofessoren und Historienmaler wert, weil er wenigstens da anpackt, wo Nationalität wirklich begründet wird: im Räderwerk der Persönlichkeit.


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