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Weltpolitik und Erziehung

(1922)

Weltpolitik und Erziehung hängen heute so eng miteinander zusammen, daß die Einstellung der einen auf ein fortschrittliches und menschheitliches Ziel ohne die Einstellung der anderen auf die gleiche Richtung unmöglich ist. Alles, was heute der Politiker im Sinne einer friedfertigen Höherentwicklung der Menschheit tun kann, ist provisorisch und fragwürdig, solange nicht die Erziehung im gleichen Sinne nachfolgt und Menschen hinstellt, auf denen eine freie, arbeitsame und friedfertige Welt sicher ruhen kann. Der Genfer Völkerbund hat viele organische Fehler, die durch eine Weiterbildung und Neugestaltung verbessert werden können; seinen tiefsten Mangel können aber nur die Erzieher beheben, indem sie uns in allen Ländern Menschen von Völkerbundsformat schaffen.

Was sind die Erfordernisse einer solchen Erziehung? Was die eines für eine wahre Menschheitsorganisation tauglichen Menschen?

Grundlegend ist zu sagen, daß es sich nicht bloß um Korrekturen an der bisherigen Erziehung oder am bisherigen ausschließlich national eingestellten Menschen handelt, sondern, wenn man auf die deutsche Erziehung und ihre Produkte hinblickt, um die Schaffung eines neuen Menschentypus mit einer vollständig neuen, der bisherigen fast diametral entgegengesetzten Polarität der Seele. Die deutsche Erziehung der letzten fünfzig oder hundert Jahre war eine höchst wirksame, höchst geeignete, mit den raffiniertesten Mitteln arbeitende Methode, dem Kinde Disziplin beizubringen, den Typus des guten Unteroffiziers oder auch Generalstäblers für alle denkbaren Lebensberufe herzustellen; die künftige muß, wenn sie einer fortschrittlichen deutschen Weltpolitik dienen will, ebenso grundsätzlich, mit ebenso vervollkommneten Mitteln die Methode sein, Menschen mit einem durch keinen Befehl oder äußeren Druck zu behebenden Bewußtsein ihrer Selbstverantwortung zu schaffen. Vom Musketier bis zum Reichskanzler kannte der Deutsche in der letztvergangenen Geschichtsepoche aufgrund seiner Erziehung nur eine sozusagen konstitutionell beschränkte Verantwortung für seine Handlungen, die ihre Grenze fand an der ihm eingepflanzten Disziplin, d. h. am Gehorsam gegen den Befehl des Vorgesetzten, ganz gleichgültig, ob dieser Kaiser oder Unteroffizier war. Das Verantwortungsgefühl, das die neue Erziehung dem Kinde einpflanzen soll, hat unbeschränkt zu sein. Das Kind hat als obersten Grundsatz zu lernen, daß keine Disziplin, kein noch so hoher oder mächtiger Vorgesetzter ihm die Verantwortung für seine Handlungen abnehmen kann. Das ist gewiß nichts Neues, sondern eine Lehre, die von Sokrates bis Christus, von den Märtyrern bis zu den Reformatoren, von Luther bis Fichte und Nietzsche allen großen Ethikern gemein ist. Das Erstaunliche ist, daß der preußische Staat dieses oberste Gebot jeder tieferen Ethik, seinen staatlichen Machtgelüsten folgend, zwar gewiß nicht offiziell wegdekretiert hat, aber tatsächlich hinter dem entgegengesetzten Gebot des unbedingten Zusammenklappens vor der staatlichen Autorität wie durch ein Taschenspielerkunststück allmählich konnte verschwinden lassen. Wir haben die Folgen dieser Widermoral, deren Wurzel die Hegelsche Vergöttlichung des Staates war, in der Wilhelminischen Epoche ausgekostet: sie haben uns an die Marne und nach Compiègne geführt. Also das oberste Gebot der neuen Erziehung muß wieder das uralte jeder wirklich ethischen Erziehung sein: daß sie dem Kinde ein unbeugsames Gefühl für seine Selbstverantwortung beibringt; mit anderen Worten Charaktere, ganze Männer und Frauen, keine Paradetypen, keine Rekruten bildet.

Und wenn man vom Formalen zum Konkreten übergeht, von der Gymnastik der Seele zur Anwendung der durch sie geübten Charakterstärke, d. h. zur Frage, wofür das Kind und der politische Mensch sich verantwortlich fühlen sollen, so ist auch hier gegenüber der bisherigen Erziehung eine grundlegende Änderung zu fordern. Um zuhause anzufangen: das erste ist, daß der neue Mensch eine verstärkte Verantwortung für die Taten und die Schicksale seines eigenen Volkes fühlen muß. Er soll nicht wie bisher auf die gottgewollten Abhängigkeiten oder gar den lieben Gott im Himmel vertrauen, »der seine Deutschen nie verläßt«. Er soll sich gegenwärtig halten und aus tiefstem Herzen fühlen, daß er selbst ein Teil der Kraft ist, die die Geschicke seines Volkes lenkt und gestaltet, daß sein bester Wert gerade in seinem Anteil an dieser großen, durch die Jahrtausende hindurch schöpferischen Gemeinschaft besteht, und daß ihm auch hier niemand die Verantwortung abnehmen kann, wenn durch sein Verhalten sein Volk Schaden leidet oder Fehler macht, die es vor der Welt bloßstellen. Also in diesem Sinne kann man ruhig sagen, daß eine neue weltpolitisch gerichtete Erziehung ein gestärktes und nicht, wie ihre Gegner ihr oft vorwerfen, ein geschwächtes Nationalgefühl erzeugen muß.

Aber allerdings ist mit dem gestärkten Gefühl der Verantwortung gegen die eigene Nation das Ziel einer weltpolitisch brauchbaren Erziehung noch nicht erreicht: darüberhinaus muß der junge Mensch auch seine Verantwortung gegen die Menschheit lernen. Wie in der Entwicklung der christlichen Ethik das Gefühl der Verantwortung für die eigene Seele voranging, dieses sich dann allmählich weitete bis zum Gefühl der Verantwortung für das Heil aller christlichen Mitbrüder, so müssen wir jetzt einen Schritt in der gleichen Richtung weiter tun und das Gefühl der Verantwortung für das Heil und den Fortschritt der ganzen Menschheit den Seelen einpflanzen. Das einzelne Volk ist, wie Herder gesagt hat, nur ein Zweig am großen Baum der Menschheit; es kann nur blühen, wenn ihm aus diesem Stamm und seinen weltenweiten Wurzeln fortdauernd neue Säfte zufließen. Und umgekehrt hat der Baum auch diese die verschiedensten Früchte tragenden Zweige nötig, um in seiner vollen Pracht dazustehen. Es besteht zwischen Volk und Menschheit eine so intime Wechselwirkung, daß niemand den einen Teil verletzen kann, ohne gleichzeitig auch den anderen zu treffen. Dieses muß das Kind erkennen und in sein Gefühl aufnehmen. Es muß von diesen mannigfachen Beziehungen zwischen Volk und Volk, zwischen Volk und Menschheit ein lebendiges, wenn auch notgedrungen knappes Bild erhalten.

Das Kind darf also in erster Linie die Geschichte nicht mehr als eine Aufeinanderfolge gottbegnadeter nationaler Herrscher und glanzverbreitender nationaler Siege gezeigt bekommen, sondern als ein durch die Jahrtausende sich fortspinnendes, die ganze Erde mit allen ihren Kontinenten und Meeren fortschreitend einhüllendes, vielfarbiges, tausendfältiges Gewebe, in das alle Völker und alle Zeiten mit ihren guten und schöpferischen ebenso wie mit ihren bösen und zerstörerischen Taten eingewebt sind. Daß es selber mit am Webstuhle sitzt und einen wenn auch noch so feinen, so doch das ganze Gewebe mit entscheidenden Faden hineinwebt, soll es wissen. Diese allgemeine Auffassung, die dem Kinde für sein Leben bleiben soll, ist viel wichtiger als irgendwelche Einzelheiten, die ihm beigebracht und von ihm bald vergessen werden. Von ihr muß daher die Darstellung sowohl der nationalen wie auch der universalen Geschichte durchdrungen und dauernd erleuchtet werden. Sie ergibt dann auch von selbst die Erkenntnis, daß der Fortschritt in der Geschichte, sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann, nur ein Fortschritt im Sinne einersteigenden Weltsolidarität sein kann: eines sich fortgesetzt erweiternden Unterbaues für menschliche schöpferische Leistungen.

Im Rahmen dieser Geschichtsauffassung finden dann auch das Recht als die Kodifizierung und Heiligung dieser universalen Solidarität, die Weltwirtschaft als das fortlaufende Ineinanderwirken der gemeinsamen Arbeit der Menschheit an ihrem materiellen Hause, der Geist, die Wissenschaft, die Kunst als Blüten des großen Menschheitsgartens ihren richtigen und auch für das Kind erkennbaren Platz. In diesem Zusammenhang müssen wenigstens die Grundzüge ihrer Entwicklung dem Kinde beigebracht werden, weil sie der faßbarste Ausdruck und die wirksamsten Mittel der wachsenden Weltsolidarität sind.

Aber die Charakterschulung und die Ausstattung mit einem richtigen Weltbilde, in dem Nationen und Menschheit ihren organischen Platz haben, genügen noch nicht, um den politischen Menschen zu voller Selbstverantwortung zu erziehen. Es muß noch ein Drittes hinzukommen: nämlich in einer Zeit, wo die Lüge in der Weltpolitik, namentlich durch die Tätigkeit der Presse und der offiziellen staatlichen Propagandaapparate, zu einer raffinierten Kunst geworden ist, die Ausbildung und möglichste Schärfung des kritischen Verstandes. Erziehung zur Kritik, ebenso wie zur Charakterstärke und zum Solidaritätsgefühl gehören mit zur Bildung eines für einen friedlichen Menschheitsbau geeigneten Typus. Wenn der griechische Philosoph sagte, daß niemand an seine Philosophie herangehen solle, der nicht in der Mathematik geschult sei, so müssen wir sagen, daß niemand für einen wahren Völkerbund geeignet ist, der sich nicht zu einer strengen Kritik an den ihm vorgetragenen Tatsachen des öffentlichen Lebens erzogen hat.

Ich komme auf den Anfang zurück: was wir als Weltpolitiker von den Erziehern, ohne deren Mithilfe wir nichts erreichen können, fordern, ist ein neuer Menschentypus, der, zur strengsten Selbstverantwortung und zum kritischen Denken erzogen, fähig ist, aktiv und mit Weisheit am öffentlichen Leben und Schaffen seines Volkes und der Menschheit teilzunehmen. Ebenso rastlos wie wir uns als Völkerbundspolitiker verpflichtet fühlen, am organischen Ausbau des Menschheitsbaues mitzuwirken, ebenso rastlos müssen die Erzieher an der Bildung dieses neuen Menschentypus arbeiten. Wir Deutsche haben, ohne uns überheben zu wollen, durch unsere großen Denker von Leibniz über Herder bis Goethe und Nietzsche eine kaum zu übertreffende Tradition, die uns diesen Weg erleichtert. Es kommt nur darauf an, über die Verirrungen einer auf ethische Abwege geratenen Zeit zu diesen Traditionen wieder zurückzukehren und sie praktisch in unserer Erziehung wirksam zu machen. Dazu gehören an den leitenden Stellen allerdings starke Männer, die die Notwendigkeit einer solchen Erziehung, um Deutschland und die Welt wieder hoch zu bringen, erkennen und auch den Mut und den Willen haben, diese Erkenntnis in Taten umzusetzen. An die Kultusminister der deutschen Länder, an die deutsche Lehrerschaft dürfen und müssen wir als Politiker den Ruf richten: Schafft uns in konsequenter, wenn auch notgedrungen langsamer Arbeit den neuen Menschen, und dafür können wir vielleicht versprechen, ihm das Haus zu bauen, auf das er dann ein Recht haben wird!


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