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Whistler

(1905)

Die International Society in London und nach ihr die Académie des Beaux-Arts in Paris hatten im Frühjahr auf einige Wochen Whistlers Hauptwerke zusammengebracht. Er traf sich vor dem breiten europäischen Publikum mit Menzel, wie dieser Realist oder doch aus dem Leben schöpfend, wie dieser auch noch etwas andres als ein Künstler: eine Art von wandelndem Plakat, eine Attitüde gegen das Leben, eine mythische Gestalt, deren Gebärde mit zum Hintergrund unserer Zeit gehörte. Bei beiden fragt es sich jetzt, wo die Gegenwart, die sie malten, ihre Frische verliert und sie selbst als Persönlichkeiten bald verblassen müssen, ob sie bloß als Künstler werden weiterleben können.

Einige nicht sehr glückliche Sendungen in die Sezession und den Salon haben Whistlers Rufe auf dem Kontinent in den letzten Jahren eher geschadet als genützt. Man begriff nicht recht, was an diesen Kleinigkeiten oder nicht immer ganz geglückten größeren Werken so epochemachend sein sollte. Außerdem waren »die Schotten« da; und man schrieb, was diese zur Manier gemacht hatten, Whistler selbst als Affektation an. Hinterdrein schließlich zog Boldinis Porträt durch die Ausstellungen: Whistler mumienhaft vertrocknet, aber wie eine alte Schauspielerin jugendlich tuend und geschminkt. Für viele stand sein Bild auch als Künstler damit fest: ein gewiß geschickter, aber überschätzter, unermeßlich selbstgefälliger, ja koketter Herr, dessen bons mots besser waren als seine Bilder. Ein Schatten von dieser Anschauung fällt bis in das Buch von Meier-Graefe.

Wenn dies die ganze Wahrheit wäre, ja nur der Wahrheit größerer Teil, dann müßte die Whistler-Ausstellung, die ein ganzes Gebäude, vier große Säle und eine Vorhalle füllt, unerträglich auf die Nerven fallen. Drei- oder viermal läßt man sich den bloßen Poseur gefallen; aber hundert-, zweihundertmal sicher nicht, ohne auszureißen. Und das Komité hat über hundert Bilder, zweihundert Zeichnungen und Lithographien, vierhundert Radierungen zusammengebracht. Und man reißt doch nicht aus.

Durchaus nicht. Man durchwandert alles ohne Ermüdung, stets wieder angeregt und erfrischt durch die Aktivität, die alle andern Eigenschaften dieses feinen, ironischen, scheinbar so leicht über den Dingen schwebenden Geistes dominiert.

 

Diese Aktivität erstaunt und amüsiert gleich an seinen Anfängen; an der Art, wie er mit seinen Lehrmeistern und mit den Einflüssen um sich her fertig wird. Er entzieht sich ihnen keineswegs. Aber was er annimmt, verwandelt er sofort und macht es fruchtbar zu ganz neuen Dingen. Wenige Künstler haben so selten bloß gelernt, bloß anempfunden und nachgemacht.

 

Von Hause bringt er, außer seinem amerikanischen Temperament und einer wunderbar leichten und festen aristokratischen Hand, die feinste Sinnlichkeit für das Licht mit und ein ganz eignes Gefühl für den Aufbau der Dinge.

Er sieht die Teile jedes Gesichtsbildes wie geordnet in ein System, das einen Schwerpunkt hat, um den sich das Übrige nach einer Art von optischem Gleichgewicht kristallisiert. Er fühlt mit andren Worten einen optischen Akzent in jedem Dinge, eine Betonung, die mit seiner literarischen »Bedeutung« nichts gemein hat, sondern hervorgeht aus der Folge von Empfindungen: Linien, Tönen, Farben, Formen, die den Gegenstand für das Auge ausmachen. Dieses Gefühl für den optischen Akzent ist ihm angeboren; er hat es schon als Schuljunge, als Fähnrich. Es dringt ein bis in die bekannte Aufnahme eines Küstenstücks für das Marine-Amt in Washington. Der Ausschnitt ist so gewählt, daß ein kleiner weißer Leuchtturm links wie ein Gewicht die Linien zusammenzieht. Man begreift, daß solche Absichten dem topographischen Bureau nicht zusagten und den Rat einbrachten, der Fähnrich Whistler möge sich lieber ganz der Kunst widmen.

In Paris, wo er hinging, studierte er zunächst Rembrandt. Sein erstes Selbstporträt ist eine Art von Kopie nach Rembrandts, sein erstes Bild für den Salon, die kleine »Mère Gérard«, im Rembrandtstil modelliert, mit dicken, kleinen Pinselstrichen sozusagen greifbar in Relief herausgehauen. Seine ersten Radierungen bemühen sich um Rembrandtische Lichteffekte.

Aber gleich werden Rembrandts dramatische Lichtkontraste bei Whistler zu lyrisch-zarten Wechselgesängen zwischen Licht und Dunkel; und er gibt in seinem ersten Heft, 1859, die Radierung ›Mondscheinlicht in einer Straße von Zabern‹ etwas ganz neues in der Kunst, eine Art von Chopinscher Musik in Schwarz und Weiß, was er später ein ›Nocturne‹ nannte.

Vielleicht hat der Einfluß Corots mitgewirkt, Corots feine Helligkeit, die ähnlich leicht die Dinge berührt. Aber das Resultat ist von Corot schon ebenso weit wie von Rembrandt, mit einem ganz andren, unromantischen Tonfall, schlicht, ohne Vehemenz oder Empfindsamkeit – poetisch nur durch den mit der leisen Flucht des Mondes irgendwie geheimnisvoll übereinstimmenden Rhythmus seiner Licht- und Schatten-Flächen.

Courbet ist in Whistlers Kunst eingetreten.

 

Courbets Rolle in der Kunstentwicklung wird noch sonderbar unterschätzt. Man vergißt ihn über Manet. Aber Manet ist im Grunde nichts als Courbet mit spanischem Wein und Pariser »esprit« versetzt. Courbet dagegen hat der Kunst aus sich einen neuen Stil geschenkt. Er, und er allein, ist der Revolutionär, der wahre Begründer der modernen Malerei, die neue Kraft, von der ihre Richtungen sämtlich ausgehen.

Courbets Ziel war der Eindruck fester Wirklichkeit seines Bildes. Es sollte wirken wie ein hingehängtes Stück Natur. Er malte daher, was er sah, wie er es sah, – ohne ideale oder romantische Silhouetten, Farben, Formen, Stimmungen hineinzusehen wie noch Rousseau, Millet, Daumier, Corot. Sein Realismus war reine Sachlichkeit des Auges.

Er unterschied sich dadurch von dem auch literarischen, psychologischen, schließlich anekdotenhaften Realismus der englischen Präraffaeliten oder Menzels. Vor allem lehrte ihn sein Auge, was diese übersahen: die Wichtigkeit des Tons für den Eindruck fester Wirklichkeit.

Die Empfindung nämlich, daß ein Ding massiv und wirklich ist, geben weniger seine Linien oder linearen Formen als die Töne: seine Farbe und Helligkeit, die Art, wie das Licht eindringt und abprallt. Das Licht betastet sozusagen die Dinge für uns.

Insbesondere aber besitzen alle Töne eines wirklichen Dinges untereinander eine Art von Logik und lückenloser Folgerichtigkeit; und diese ist es, die uns überzeugt, die dem Auge ähnlich für Substanz bürgt wie der Hand die Undurchdringlichkeit.

Dies gilt wie von Einzeldingen so vom Raum, von jedem ganzen Ausschnitt der Natur. Auch ein solcher ist in jedem Augenblick eine Kette aneinanderhängender Töne; und das sichere Gefühl seiner Wirklichkeit gibt dem Auge nichts als diese Logik.

Sie nahm daher Courbet zum Leitprinzip; er suchte vor allem, Ton an Ton folgerichtig aneinanderzuknüpfen. Was an Einzeldingen schon ein altes Gut der Malerei war, die Einheit der Tonfolge, übertrug er auf den Raum; denn er wollte ja ein ganzes Stück Wirklichkeit hinhängen, nicht bloß einzelne wirkliche Dinge in einer unwirklichen »Komposition«. Man sagt sogar, er sei daher prinzipiell immer der Reihe nach vom dunkelsten zum hellsten Ton im Bilde fortgeschritten, ohne je zwischen Hell und Dunkel hin- und herzuspringen. Er wollte so sicher sein, keine Lücke in der Tonfolge aus Versehen offen zu lassen.

Dieser durchgehende Zusammenhang von Ton zu Ton war ein Band auch zwischen den größeren Abschnitten. Er verknüpfte die Raumstufen, die sogenannten »Pläne« im Bilde. Vordergrund und Hintergrund, die bei den Romantikern und Akademikern gleich weit, bis zur Dissonanz auseinanderklafften, reihten sich durch die Tonfolge ohne Lücke aneinander.

Damit trat Courbet unbewußt auf den Boden von Velasquez. Die Einheit der Tonfolge war mehr als ein bloßes Stück Realismus: sie enthielt ein Stilprinzip, eine besondre Art, die Elemente des Kunstwerks miteinander zu verknüpfen, einen neuen Weg für die Phantasie. Courbets Vorgänger, die Romantiker, arbeiteten nach Rembrandt, Rubens, Claude auf »Effekte« hin: einen Farbengegensatz, eine Lichterscheinung, von den außerkünstlerischen, literarischen, anekdotenhaften, humoristischen Effekten ganz zu schweigen. Der Kontrast war ihr Stilprinzip, Courbet gab der Malerei ein neues in der Einheit, die entsteht, wenn alle Töne im Bilde eine einzige fortlaufende Reihe bilden.

Die erste Frucht dieses Stilprinzips war die Ruhe.

Der Effekt zerreißt das Bild in Gegensätze. Seine Ziele sind naturgemäß immer stärkere Kontraste: ein Aufruhr zwischen Grün und Rot, ein Erwürgen aller Farbe durch die Nacht, der schmetternde Triumph eines Lichttones. So steigert der Effekt das Leben bis zum Punkt, wo die leidenschaftliche Bewegung unter den Bildteilen stärker wirkt als ihre Beziehung zu der Fläche, auf die sie gemalt sind. Dann durchbricht das Bild die Wand. Der Effekt ist der natürliche Feind des flächenmäßig Architektonischen.

Gerade entgegengesetzt wirkt die Einheit der Tonreihe. Sie knüpft die Teile aneinander. Sie schafft Bande zwischen Ton und Ton, die das Flächengefühl wachhalten. Sie gleicht die Gegensätze aus durch die Logik augenfälliger Zusammenhänge. Sie ist ein Gegengewicht gegen den zentrifugalen Kontrast und gestattet, ihn auszunutzen, ohne doch die Wand zu sprengen. Wenn man im Louvre Courbets Bilder neben den Rousseaus, Millets, Delacroix hängen sieht, wirken sie wie Gobelins: keine scharfgeränderten Kulissen im Vordergrund, kein Loch, keine jäh abbrechenden Schwärzen oder Lichter, sondern jedes Bild eine einzige ruhige Fläche, die lückenlos einen Block für sich an der Wand bildet.

Diese Wirkung unterstützt der Farbenauftrag. Courbet malt mit breiten, mächtigen Pinselstrichen, die die Farbe in tiefen Schichten abladen und im Gegensatz zur akademischen Art nicht verrieben werden, sondern stehen bleiben wie eine Handschrift, sichtbar, um die Dinge körperlich und zum Anfassen materiell hinzubauen. Mit dem Messer streicht er daneben Farbe schwer und glatt hin. Messerund Pinselstriche verweben sich, greifen übereinander, schaffen Pigmentmassen, deren Untergründe durchschimmern: einen schweren, tiefen Stoff wie trübe Emaille, der die Ahnung von etwas Ähnlichem, aber Feinerem wachruft, einer neuen Kostbarkeit der Ölfarbe, einer andren als den Reichtum Delacroix'. – Dessen Pracht war koloristisch, eine Farbe wie durcheinandergeschmolzene Edelsteine, Paradiesvogelfedern, orientalische Blumenbeete. Courbet suggeriert schwere Seiden, prunkvolle Damastmuster, tiefglasierte altchinesische Fayencen: eine Kostbarkeit, die sich nähren müßte von der Helligkeit, – von Reflexen an kunstvollen Unebenheiten, – vom Glanz, den der Pinselstrich in langen Schweifen nach sich zieht oder wie Säbelhiebe blitzen läßt, – von Lasuren, die das Licht wie Wasserspiegel aufnehmen und reicher wieder hergeben. Das alles ringt bei Courbet mit der zähen Masse wie ein Frühling unter der Erdscholle, halb unverwirklicht, aber fühlbar und für andre deutlich, die es dort zu finden wußten.

Manet, Monet und Renoir, Cézanne, Degas, Puvis de Chavannes haben Courbets Sachlichkeit, Toneinheit und Farbenauftrag weitergebildet; sie haben seinen Stil mit Delacroix und Corot bereichert, ihre Persönlichkeit hinzugetan, aber nie seinen Boden ganz verlassen. Mit ihnen steht die ganze moderne Kunst auf seinen Schultern. Ja, man kann sagen, daß, wo Velasquez bei moderner Kunst genannt wird, dieser Name nichts ist als ein vornehmes Pseudonym für Courbet.

Whistler fand durch Courbet Mittel, vom Licht das auszudrücken, was seine feine, nervöse Sinnlichkeit am akutesten reizte: dessen leise Pulse und die Musik seines Wechselspiels.

Die fortlaufende Tonreihe wurde ihm zu einer Art unendlicher Melodie des Lichts.

Ohne Kontraste, ohne Hemmungen füllt gedämpftes Licht, wie es weiße Mullgardinen durchlassen, das Porträt seiner Schwester am Klavier, das er 1859 malte: eine junge Frau in Schwarz, die spielt, ein Kind in Weiß, gegen den Flügel gelehnt, eine weiße Wand, weißgoldene Bilderrahmen. – Das schwarze Kleid ist kein Kontrast zum Licht; Whistlers Schwarz ist ein Teil des Lichts, als ob es nur wie die »lumière noire« Becquerels einer andren, noch subtileren Art von Augen gälte – so intim verknüpfen es Tonbeziehungen mit dem hellen Gold und Weiß.

Der bloße Zusammenhang zwischen den Tönen genügt Whistler nicht; er sucht einen ausdrucksvollen Zusammenhang. Er fühlt, daß es Mitteltöne zwischen zwei Tönen gibt, auf denen für das Auge ein Akzent ruht, Lichtgrade oder Farbennuancen, die hervorstehen, weil sie irgendwie inniger mit dem Unter- und dem Ober-Ton verwandt sind als die andren Zwischentöne, Intervalle, die Tonreihen in Licht oder Farbe möglich machen, deren Wesen ganz dasselbe ist wie das musikalischer Tonarten. Solche Reihen sucht und malt Whistler. Sein Akzentgefühl macht aus Courbets Einheit der Tonfolge eine Harmonie der Tonfolge.

Diese Harmonie auf Grund der Tonakzente ist, wie kaum betont zu werden braucht, ganz verschieden von der andren auf den Gegenfarben aufgebauten. Sie ist überhaupt nicht notwendig koloristisch. Ein Akzent entsteht ebenso zwischen Lichtwerten wie zwischen Farbennuancen. Daher zwei Arten dieser Harmonie: Harmonien zwischen Farbennuancen, Harmonien zwischen Lichtwerten.

Und diese Lichtharmonien umfassen auch Grau und Braun und Schwarz, die neutralen Töne.

Das Bild der Schwester am Klavier ist eine Harmonie in Braun und Gold, über die Weiß emporsteigt. Die Tonart gleicht blondem Honig, aber gleitet durch ein dunkles Braun ohne Riß zu Schwarz hinunter: fast nur neutrale Töne, an die sich doch das farbigere Inkarnat, das Gesicht der Frau, weich verbunden mit dem Übrigen anschmiegt. Vor dem zarten Rot, dicht darunter, steht weiß eine Halskrause, sehr hell und stark gemalt. Das helle Weiß scheint das Inkarnat zurückzuwerfen hinter unsichtbare Schleier. Das leise Dämpfen gibt dem Mund und den Wangen eine Zartheit, die zum Grundton dieser Seele wird. Das Motiv, die weiße Halskrause neben dem Gesicht, ein hundertmal verwendetes Tiziansches, Rembrandtsches, bekommt hier einen neuen Sinn durch den Akzent, durch die subtile Abmessung des Intervalls zwischen Weiß und Rot. Es beseelt das Bild, die Frau, den Raum unvergeßlich. Aber zugleich ist dieses Intervall auch das Band, das die Farbe an die andren Töne anknüpft: ein Abstand zwischen Lichtwerten, nicht Farbennuancen. Das ganze Bild mit seinen neutralen Tönen ist, – fern von jeder lauten Farbe, – ein unendliches Spiel des Lichts, wie wenn Lichtstäubchen in einem kühlen Raum nach einer Melodie tanzten.

Die Vorherrschaft des Lichts bringt dann Whistler auf Harmonien von Weiß in Weiß, Schwarz auf Schwarz, in denen selbst der letzte Rest von Farbe, die neutralen Töne, fast aufgehoben sind zugunsten einer einzigen Tonart, die die Lichtstufen ausdrückt. Etwas Farbe bleibt zurück, aber nur wie ein letzter Schein des warmen Lebens oder nur wie zur stärkeren Unterscheidung der Lichtgrade, der Stufen und Akzente im Gesang des Lichts.

Die erste ›Symphonie in Weiß‹ war das 1862 im Salon des Refusés berühmt gewordene, lebensgroße Bild einer jungen Irländerin in Weiß vor einem weißen Hintergrunde, lauter Variationen über die Helligkeit von Weiß: Weißgrau, Weißgelb, selbst das Inkarnat kaum so rosig wie das Weiß der Mandelblüte. Wirklich farbig wirken nur das schwere rotblonde Haar, die jungen blutgefüllten Lippen und das Blau der weitgeöffneten, mystisch-hellen Augen. Die Figur löst sich aus dem Weiß wie eine Art Erscheinung los. Oder richtiger, sie schwebt zurück hinter den Rahmen, dessen Ebene sie von der Wirklichkeit abtrennt; und ihr Weiß wiederholt sich hinter ihr wie ein Echo. Die Harmonie geht von den starken Vordertönen rückwärts und nimmt den Raum mit. Sie ergreift und bestimmt die Richtung im Bilde, den Zusammenhang zwischen Vordergrund und Hintergrund. Ihr Akzent verleiht den Plänen im Zurückgehen einen Rhythmus. Zwischen der Vorderebene in der Rahmenfläche und dem Hintergrund als Abschluß entspinnt sich ein Raum-Takt wie in griechischen Reliefs. Das ist, was dieser weißen Figur das sonderbar Getragene, hoheitsvoll Bewegte, Visionäre gibt.

Dieser Raumrhythmus setzt den Zusammenhang zwischen Vordergrund und Hintergrund voraus, wie ihn Courbet knüpfte; aber verwandelt ihn, belebt ihn, macht ihn flüssig, sprechend, ausdrucksvoll.

In den Porträts geht sein Leben über auf die dargestellten Persönlichkeiten. Whistler besitzt die undefinierbare, geniale Gabe des Porträtisten, vielleicht des Künstlers schlechthin, die Eigenheiten der Menschen, auch der Dinge, zu sehen und in ihnen packende Akzente von Linien, Tönen, Flächen, Massen zu finden. Diese Akzente verdichten sich hier zum Rhythmus. Der Rhythmus wirkt in ihnen wie der Takt in einer Melodie. Er gibt den Figuren von seiner Bewegung ab; sie werden, als ob an ihnen alles lebte, als ob sie innen atmeten. Und zugleich entrückt der Takt sie in Whistlers Welt. Das Tempo ist Whistlers Tempo, eine Eigenheit seines Temperaments, eine Bewegung, die man wiederfindet in allem, was er macht und sagt: sein Adagio, dem das feine Feuer eines leicht dahinschwebenden Allegro zu gehorchen scheint.

Die radierten Porträts sind voll von diesem Leben, das aus dem Raum in die Figuren fließt. Wie Gestalten auf alten Gobelins geheimnisvoll sich zu regen scheinen, durch die Flachheit des Teppichs zugleich gebannt und auch belebt, so bewegen sich in einem rätselhaft an bestimmte Raumgrenzen gebundenen Leben Whistlers Figuren auf Radierungen wie die ›Fumette‹, die ›Frau im Sammetkleid‹, die ›Annie Haden stehend‹ im weißen Kleide. Ganz reif und zu einem großartigen Charakterausdruck wird diese Wirkung im Porträt seiner Mutter. Das Bild ist so bekannt, daß es nur erwähnt zu werden braucht. Aber sein Geheimnis ist der Tonfall seiner Pläne. Wo man auch die Form erfaßt zwischen dem Vordergrund: dem glattgestrichenen schwarzen Seidenkleid und der hellen stillen Wand dahinter, jedesmal geht Plan um Plan in dem gleichen ruhigen, sicheren, fast ein wenig strengen Takt zurück. Einerlei ob das Intervall groß oder klein, der Tonfall ist derselbe; wie der Ausdruck, den man wiedererkennt in einer lieben, von der Kindheit her gewohnten Stimme. Hier in diesem Bild nicht so ganz das Tempo Whistlers, sondern eine Variante, wie sich Stimmen in Familien ähnlich sind, eine ähnliche Bewegung, nur bestimmter, schlichter, einfacher, eine rhythmische Formel, die wie ein dramatischer Vers auf einen Menschen geprägt ist: die Zusammenfassung eines ganzen Daseins.

Auch die Nocturnes leben durch den Raumrhythmus. In ihnen aber verflicht sich mit den Tonstufen, die in das Bild hineinfuhren, eine zweite Bewegung, die aus der Tiefe auf den Beschauer zukommt, eine Gegenbewegung aus dem Untergrunde durch Lasuren durchschimmernd.

Whistler verstand das Lasieren gleich von Anfang an meisterhaft. Seiner Hand war das delikateste Auflegen durchsichtiger Farbschichten über Farbschichten eine Leichtigkeit.

In einem seiner frühesten Bilder drückt er durch Lasuren etwas aus, an dem sonst alle Malerei gescheitert ist: die Reinheit des Meeres, sein tiefes, unberührtes Blau.

Seine ›Blue Wave‹, 1862 in Biarritz gemalt, ist deshalb vielleicht das schönste aller Meerbilder. Die Empfindungen, die Böcklin auf Umwegen durch allerlei Ungeheuer suggerieren wollte, gibt Whistler unmittelbar und durch nichts als gute Malerei. Das Blau dieser Welle und des großen wilden Meeres dahinter erscheint tief und rein wie das Element selbst. Man erzählt, ein alter Kapitän, auf dessen Segelschiff Whistler nach Südamerika fuhr, habe Studien von ihm aufbewahrt und nie verkaufen wollen, »Malen habe der junge Herr wohl nicht gekonnt, und Bilder seien es auch nicht; aber irgendwie rieche man vor ihnen die See; und das verschaffe keines von den richtigen Bildern.« – Das Mittel dieser Wahrheit in der ›Blue Wave‹ ist nichts als eine Lasur: ein tiefes Blau durchsichtig über hellerem und Weiß lasiert, daß die hellere Farbe durch das Ultramarin wie Licht durch Wasser durchscheint. Die Kraft dieses Empordringens der Farbe aus der Tiefe ist ein Teil der Bewegung, mit der die Welle sich ans Land wirft.

Die Vereinigung dieser Bewegung aus der Tiefe mit dem rückwärts strebenden Rhythmus der Harmonie gab Whistler das Mittel zu einem ›Nocturne‹.

Die früheste und eine der schönsten ist das 1865 gemalte Bild ›Valparaiso kurz nach Sonnenuntergang‹: die Reede mit dem Blick aufs hohe Meer, eine leichtgekräuselte zartblaue See mit vielen Segelschiffen, die vor Anker liegen, der Tag noch kaum im Schwinden, während schon leichte Nebel in der Abendkühle aufsteigen. Ein ganz helles, silbergraues Bild ohne irgend einen dunklen Ton: nur die zartesten Nuancen wie von alten blassen Perlen und Türkisen. Aber unter dieser fast unendlich leisen Harmonie, die das Auge in die Ferne zieht, eine noch leisere, geheimnisvolle, die heranschwebt, etwas, wie man ahnt, Dunkles, ein Untergrund, der sich durchdrängt, die Nacht, die durch die Dämmerung hereinbricht.

Wirklich eine zweite Harmonie; denn die Gegenbewegung ist ebenfalls wie die andere rhythmisch abgestuft. Die obere Farbenschicht läßt, bald dichter und bald dünner, durch ihr Gewebe das untere Dunkel verschieden deutlich durchscheinen. Und Whistlers Hand mißt diese Tonstufen, die nur auf dem Druck des Pinsels beruhen, ebenso fein wie die der anderen oberen Harmonie. So entwickelt sich ein Gegengesang, der jeden Punkt des Materials belebt wie bei schönem Marmor, wenn der Rhythmus der Skulptur durch das Licht aus dem Inneren zum Klingen kommt. Die Grazie und Leichtigkeit des Gewebes vollendet sich durch diesen Hauch allgegenwärtiger Bewegung.

Whistlers Nocturnes unterscheiden sich von allen früheren Nachtstücken dadurch, daß sie nicht Nacht-» Effekte« sind.

Das ist vielleicht der größte Dienst, den Courbet Whistler geleistet hat, daß er ihn durch seine Prinzipien auf diese neue Darstellung der Nacht hinführte. Whistler drückt die Nacht nicht durch einen Gegensatz, eine kontrastierende Lichterscheinung aus, sondern in sich selbst durch das Besondere ihrer eigenen Töne und Harmonien. Er malt jenen dunklen Untergrund ihrer Töne, das Geheimnisvolle selbst der hellsten Nächte. Er zeigt alle Farbe aufgelöst in reine Helligkeit, in Tonstufen einer blassen, schimmernden Nuance. Er gibt die Weichheit der linienlosen Formen, die Zartheit der Bewegungen des Lichts, wie es durch die schlafende Natur pulsiert. Wo ein heller Schein, eine Farbe, die roten Funken eines Feuerwerks durch die blaue Nacht fallen, da ist das nur wie zum Überfluß. Whistler hat diese Gegensätze nicht nötig. Harmonie und Raumrhythmus genügen, um den Zauber festzuhalten, in ein Material umzuwandeln, das wie der Schleier Nurmahals aus Phantasie und Mondschein gewoben ist.

Die fremdartige Schönheit dieses Materials mischt sich schon in den Valparaisos und noch mehr in den bald darauf beginnenden Themse-Nocturnes mit den in der Kunst nicht minder unerhörten Formen moderner Schiffe, Hängebrücken, Speicher, Krane. Neben einem immer kostbareren Material entfaltet sich in Whistlers Kunst die Empfindungsweise, die Baudelaire Modernität genannt hat.

In dieser Modernität treffen sich mit dem Realismus Courbets englische, exotische, vielleicht sogar literarische Einflüsse und wecken das Amerikanische in Whistlers Temperament.

Der Realismus Courbets war reine Sachlichkeit des Auges, objektiv, ohne Vorlieben. Die Modernität wählt. Sie entnimmt ihren Stoff der Wirklichkeit unverändert, aber nicht ungesichtet. Sie will von der Wirklichkeit nur bestimmte Arten von Empfindungen.

Der präraffaelitische Realismus suchte aus Feindschaft gegen das Braun der Spätrenaissance in der Wirklichkeit die reinen, lichten Farben. Rossetti importierte aus dem Quattrocento ein Gefühl für Linienrhythmen, für schlanke Graden und subtile Kurven und für das herbsüße Widerspiel zwischen Linienzügen.

Whistler nahm beides an.

Seine hellen Farben, sein Weiß, das reine Blau seiner Welle, das so anders ist als das trübe Grau der ›Welle‹ Courbets, kommen ohne Zweifel von Rossetti. Whistler hätte das ›Mädchen in Weiß‹ nicht gemalt ohne Rossettis ›Ecce Ancilla Domini‹. Noch vollkommener ist diese präraffaelitische Helligkeit orchestriert in der ›Symphonie in Weiß Nr. II‹. Swinburne, der Freund von Rossetti, Morris, Burne Jones, hat sich nicht getäuscht über diese Verwandtschaft, als er gerade dieses Bild verherrlichte. Zur Vollendung aber kam die Harmonie in Weiß in der Symphonie Nr. III vom Jahre 68: zwei Mädchen weiß gekleidet auf weiße Polster hingelehnt, das Fleisch der Arme und Brüste durch weißen Mull durchscheinend; ein zartes Rosa, ein lichtes Blau, weiße Blumen in das Bild hineinragend, kein Ton, der nicht Weiß suggeriert, und doch nichts fade, das Ganze stark und fest wie das weiße Fleisch einer Lilie. Das Silber der Whistlerschen Nocturnen geht zurück auf diese Auswahl nur der hellen Töne aus der Wirklichkeit.

Ebenso nahm und verwandelte Whistler die präraffaelitische Linie.

Das Widerspiel zwischen Graden und Kurven bestimmt schon etwa um die Zeit des Klavierbilds im radierten Porträt seiner Schwester ›bei Lampenlicht lesend‹ den schlanken schönen Stil der Lampe. In den nächsten Jahren, als Whistler viel in England war und Rossettis Nachbar wurde, kamen ihm solche Arabesken häufig. Auf der dritten ›Symphonie in Weiß‹ sucht sie sogar sein Pinselstrich.

Aber Whistler blieb nicht bei den Quattrocentorhythmen, wie Rossetti und sein Kreis; fast sofort fand er neben Botticellis Rhythmen auch schon neue; und nach ihnen ließ er seine Linien sich im Takte fliehen und verschlingen. Wie den Menschen gewann er auch den toten Dingen ihren Takt ab. Die moderne Stadt gab ihm das moderne Linienspiel.

Méryon hatte um die Mitte der fünfziger Jahre seine Radierungen von Paris gemacht. Whistler unternahm durch sie angeregt eine gleiche Serie über London. 1859 begann er mit einigen Themseblättern. Méryons klassische Strenge wirkt bei diesen ersten Blättern in die Zeichnung noch hinein; aber das Linienspiel ist schon hier Whistler eigen.

Zum ersten Mal fühlt jemand, daß Fabriken, Speicher, Masten, Schornsteine auch einen Rhythmus haben, ebenso gut wie dorische Tempel oder Prunkfassaden von Palladio; daß man nicht gezwungen ist, alte Kunst in die moderne Welt hineinzutragen oder auf Komposition zu verzichten wie Courbet, sondern Rhythmus, Einheit, Komposition finden kann, im eigenen Takt des neuen Lebens selbst. Während Daumier die auf moderne Dinge aufgepfropfte Klassizität kurz und klein schlug durch die groteske Komik Michelangelesker Linienzüge in Fracks und Hosenbeinen, fand Whistler mit Guys zugleich den neuen Linienrhythmus, der das alte Gerüst ersetzen konnte.

Das Widerspiel zwischen Graden und Kurven ist auch hier das Hauptthema. Wie in Botticellischen Madonnen lange, grade Kerzenstiele oder schlanke Linien mit den Kurven der Gewandung, dem Oval der Gesichter zusammenspielen, so auf den Themseblättern die hohen Masten, die Y's der Schornsteine mit dem gerundeten Bauch der Leichterschiffe, den Spiralen des Tauwerks. Aber bei Rossetti, Botticelli bewegen sich diese Spiele sehnsüchtig in einer Art von Largo; bei Whistler dagegen treibt die Linien etwas wie der Jagdsprung eines Vollblüters. Die Graden schießen langgestreckt, dünn, ungemessen in den Himmel. Die Kurven sind gespannt und suchen zurück zum kürzesten, kräftigsten Weg: der geraden Linie. Das Widerspiel ist zwischen äußerst fein differenzierten Bewegungen.

Wie echt der Charakter dieses Rhythmus ist, bestätigt die Entwicklung der Technik, ihre Tendenz, den Abstand zwischen Graden und Kurven, ohne ihn aufzuheben, immer mehr herabzudrücken. Je neuer eine Brücke, ein Schiff, ein Automobil, um so schmaler diese Differenz. Die äußerste Anspannung und Ersparnis aller Kräfte scheint damit irgendwie mathematisch verbunden zu sein.

Daher Whistler diesen Charakter, diese Eleganz des modernen Linienspiels wiederfindet, als er den modernen Mann, die moderne Frau malt.

Anfangs, wie es scheint fast widerwillig, bei dem Versuch, das moderne Kleid präraffaelitisch fallen zu lassen. So in den Bildnissen seiner Schwester und der kleinen Annie Haden, den Holzschnitten für ›Good Words‹, der ›Finette‹, den Symphonien in Weiß. Aber die Eleganz der Kurven schleicht sich ein. Die Absicht ist präraffaelitisch; die Hand, das Auge, die Ausführung modern. Daher die so innerliche Verschiedenheit dieser Blätter von Rossetti, von Millais, von Houghton, mit denen sie den Vergleich herausfordern.

Später wird dieses gespannte Linienspiel in den Porträts zum bewußten Leitmotiv. Es entwickelt sich aus dem Frack und ebenso aus dem Straßenkleid der ›Rosa Corder‹, der ›Lady Campbell‹, der ›Dame in der Pelzjacke‹. Sarasate in dem bekanntesten der Frackbildnisse steht da wie die Verkörperung seiner Eleganz. Schlanke Kurven, die kaum von der Graden abweichen; leichte grade Linien, die den Kurven Salz geben. Statt der vollen Rundungen des griechischen Nackten, die laut den starken Gott verkünden, dieses subtile Widerspiel wie die unsichtbare Kraft der modernen Maschine.

Aber die Modernität ist mehr als eine Vorliebe für gewisse Linien oder Farben. Sie ist das Bestreben überhaupt, den neuen artistischen Klang festzuhalten. Sie hascht nach ihm, weil er flüchtig ist, weil er bald nicht mehr sein wird, wie er vorher nie gewesen ist. Sie will die Schönheit retten, die der Augenblick verschlingt. Nicht die ewige Schönheit, – die sterbliche ist ihr Wild, auf das sie jagt. Sie greift nach dem Seltenen, Einzigen, weil es sonst versinken muß. Das Andere läßt sie wie gewöhnliche Beute. Ihr Motto könnte der Vers von Poe sein: »Nevermore, nevermore«. Ihr Stoff ist immer der Mensch, des Menschen Launen, Leidenschaften, Arbeit. Denn nur des Menschen Werk geht unter; alle Herrlichkeit der Natur kehrt zurück.

Die Modernität ist also eine Art von doppelt destilliertem Realismus, eine Konzentration zuerst auf die artistischen Klänge und dann auf die flüchtigen, nie wiederkehrenden artistischen Klänge. In diesem besondern Sinne ist Monet nicht modern; denn er malt flüchtige, aber ewige Erscheinungen. Hok'sai ist es und Guys, für den Baudelaire den Begriff prägte. Noch intensiver, ausschließlicher Whistler, als er nach den ersten Londoner Radierungen die Auswahl im Sinne der Modernität zum Leitprinzip für seine Tonharmonie und Raumrhythmik nimmt in seinen Londoner Nocturnen. Was er in ihnen gibt, ist nicht mehr bloß der neue rhythmische Akzent der Arbeitsstadt, sondern ein Individuum: London mit seinem vergiftenden Zauber, mit dem dunklen Silber seines Lichts, mit der weichen Tiefe seiner Nebel, mit den geisterhaft flutenden, schwebenden Fernen, London, das einzige, die schwarze Blüte unter allen schönen Städten. Man kann sagen, London ist eine Schöpfung Whistlers in demselben Sinne wie Philipp IV. eine Schöpfung von Velasquez.

Bei ihm steht das ewige Fließen und Fliehen der Nebel und Gewässer im Einklang mit der Sterblichkeit des vom Menschenalter für das Menschenalter Geschaffenen. Die Schönheit jedes Tones ist wie ein Herbst ohne die Hoffnung auf Wiederkehr; man möchte sie mit allen Sinnen noch genießen. Und doch ist nichts sentimental. Nur die Schönheit dieser flüchtigen Akkorde spricht. Ihre Sterblichkeit ist bloß ein Anreiz für die Sinne. Sie ist nicht zum Gefühlvollen ausgenutzt.

Überhaupt, Whistler übertreibt nie. Das Seltene ist herausgehoben; es darf sich nicht aufdrängen. Es wirkt trotz der Vereinfachung nicht gewaltsamer als im Leben. Es wird in Zaum gehalten, eher zurück- als hinaufgestimmt, entgegen dem, was Degas oder Lautrec tun. Man fühlt eine Selbstbeschränkung, eine Kunst, die sich zwingt, nicht lauter zu reden als das Leben, das Selbstvertrauen einer sicheren und ihres Ziels bewußten Sinnlichkeit.

So genügen kaum ein halbes Dutzend Töne wie in Moll, um die Melancholie eines Winterabends in der Vorstadt hervorzuzaubern. Ein leerer Platz in einem Zwielicht zwischen Nacht und Mondschein; eine silbergraue Luft, die wie Frost selbst die Schatten hell macht; eine leise Bewegung in der Farbe, wie wenn Licht durch das Zwielicht emporstiege; und die gewöhnlichste Wirklichkeit steht verwandelt in etwas Seltenes, Geheimnisvolles, Kostbares.

Man muß hier an Poe denken. Whistler und Poe haben beide diese Art, das Wunderbare aus den Dingen herauszuziehen, das Auge für das Heutige, Flüchtige, Seltene, die treffsichere Sinnlichkeit, die bewußt berechnende Phantasie; und dann auch diese unsentimentale Melancholie, diese Liebe ohne Tränen zum Sterblichen, diese Selbstbeherrschung, diesen Puritanismus, der keinen Gott als die Schönheit kennt. Man fühlt hier etwas Gemeinsames, das nicht europäisch ist, etwas, das den Franzosen immer fremd und wider das Gefühl bleibt; vielleicht eine Mischung von puritanischer Selbstzucht und keltisch-irischer Melancholie, die verfeinert worden ist durch eine neue Art fast gefühlloser, fast geschlechtsloser, aber äußerst aufmerksamer, äußerst reizbarer Nerven. Man meint das Eintreten eines neuen Temperaments, einer leichteren, feineren, kälteren Rasse in die Kultur zu erleben.

Die Modernität Whistlers, das Ausscheiden alles Gewöhnlichen, der schnelle Griff nach dem Seltenen, Momentanen führt weiter zu noch reineren Abstraktionen; das Ende ist: Harmonie und Arabeske sublimiert zu leichten Fleckenschwärmen, eine Quintessenz aus Whistlers Geist und Kunst, Whistler der Schmetterling.

Der Orient, die dekorative Kraft und Grazie altchinesischen Porzellans, japanischer Holzschnitte, vermischt sich hier mit der Modernität.

Der orientalische Künstler sieht Nuancen und Farben seines Bildes nicht als Töne in einem dargestellten Raum, sondern als Flecken auf einer dekorierten Fläche. Er sucht den Rhythmus innerhalb der Fläche zwischen den Flecken, nicht innerhalb des Raums zwischen den Plänen; er sucht Fleckenrhythmen, nicht Raumrhythmen.

In Whistlers Kunst war der Fleckenrhythmus vorbereitet durch die Einheit der Tonfolge, die zwischen den Tönen auch in der Fläche Beziehungen knüpft. Um diese klarzustellen, um, wie auf orientalischen Vasen, sie rhythmisch zu machen, wählte Whistler aus den modernsten, flüchtigsten Tönen nochmals aus, fügte zur Modernität sozusagen noch ein Sieb, gab aus der Auswahl nur eine Auswahl.

Diese ganz abstrakte, leichte Kunst beherrscht die zweite Serie Londoner Nocturnen, die ›Cremorne Gärten‹, das Londoner Moulin Rouge bei Nacht in einer braunen Atmosphäre wie von Rauchtopasen. Die roten Fracks der Kellner, die hellen Kleider tanzender oder kokettierender Frauen, die venezianischen Laternen und Feuerwerkskörper in der braunen, tiefen Nebelnacht, – alles das ist kaum mehr als ein leichter, fast ironischer Anklang an die Wirklichkeit. Ruskins Empörung über den Hanswurst, der frech mit der Majestät des Publikums zu spielen wagte, war berechtigt, wenn der Geist nicht auch Kunst wäre, selbst in der Kunst.

Bald nachher malte Whistler die berühmten Dekorationen im Speisesaal des Leylandschen Hauses, die Königspfaue nach japanischem Geschmack aufgelöst in ein feines, geistsprühendes Feuerwerk von Blau und Gold. Wie tief er in das Geheimnis orientalischer Ornamentik eingedrungen war, zeigen Zeichnungen von ihm nach altchinesischen Schalen und Vasen, die er damals für den Katalog der Thompsonschen Sammlung lieferte. Die Wirkung der Fleckenverteilung ist exakt aus dem Rund auf die Fläche und ins Schwarzweiß übersetzt. Die Reproduktionen im publizierten Katalog geben leider nur ungenügend die Feinheit wieder, mit der in den hier ausgestellten Originalzeichnungen Farbe, Gewicht, Rhythmus jeder Fleckengruppe transponiert sind.

Dann kehrt die Wirklichkeit zurück in den venezianischen Pastellen und Radierungen der achtziger Jahre. Die Toneinheit, in der der Fleckenrhythmus bei Whistler wurzelt, hängt so eng mit der Wirklichkeit zusammen, daß sich diese sozusagen spontan wiedererzeugt. Es scheint fast ein Wunder, wie in den Pastellen aus bloßen Fleckchen, die einer dekorativen Absicht dienen, dank der Tonfolge eine Realität sich aufbaut, eine Welt, gegen die man mit dem Kopf rennen könnte. Im Vergleich zu dieser Festigkeit sind die peinlichsten Naturwiedergaben der Präraffaeliten hohl und unwirklich. Das ist das beste Geschenk Courbets an Whistler.

Auf den Radierungen erwacht das Muster aus Flecken und Fleckchen zu einer Art von pointillistischer Lebendigkeit. Leicht wie ein Mückenschwarm berührt es kaum die Weiße des Papiers; und doch ist jedes kleine Stück lebendig, amüsant für das Auge, prickelnd, ein Ornament wie trockner Sekt. So leicht es ist, es hat Körper, Kraft, Wirklichkeit. Durch die Tonlogik schließt es sich zu Raum zusammen und faßt das italienische Leben mit seinem eigenen Akzent nervöser Feinheit unverfälscht. Man braucht nur an den Berliner Humor in Menzels Markt von Verona zu denken, um das zu würdigen.

Die Krönung dieser leichten, ornamentalen, realistischen Kunst sind Whistlers Lithographien. Whistler und alles, was Whistler in sich verarbeitet hat, wird hier zu einer Quintessenz, zu etwas, dem die letzte Schwere genommen ist. Die Töne selbst sind durchsichtig, ein bloßer Hauch. Whistler ist der erste gewesen, der die Besonderheit des lithographischen Materials ganz erkannt hat, daß es nämlich das leichteste der Pigmente ist. Vor ihm gab es nur die Linienzeichnung auf Stein, oder die schwere, dickflüssige achtundvierziger Lithographie, die das Papier, sein Korn, sein Leben in Tinte ertränkte. Whistler fühlte im lithographischen Ton etwas ähnliches wie die Lasur in der Ölmalerei, das Leben des durchsichtigen Pigments auf dem Papier. Seine Töne vibrieren in allen Stärken und Nuancen von einem tiefen Schwarz wie zwischen den Kelchhaaren schwarzer Irisblüten bis zu einem fast weißen Grau, das wie Zigarettenrauch kaum das Papier berührt. Whistlers Hand erlaubte ihm alle Töne, alle Stärken des Vibrierens und Durchscheinens, auch hier wie beim Lasieren. Er benutzte diese Leichtigkeit des Materials, um den Akzent der Dinge und des Ornaments, das er aus den Dingen abstrahierte, in der leisesten Stimme, mit den sparsamsten Mitteln, für die zartesten Sinne und Nerven zu geben; Sinnenfreude fast körperlos, fast zu reinem Geist geworden.

Der dualistische, unmögliche Versuch, Geist von außen in die Materie hineinzutragen, dicke, tote Farbe durch ein Ideal zu beleben wie eine sentimentale Oberpostdirektorsgattin, ist hier ersetzt durch die fortschreitende Vergeistigung der Materie selbst. Harmonie, Lasur, Linienarabeske, die Bevorzugung der flüchtigsten Töne, der Fleckenrhythmus sind nur Etappen dieser Belebung von innen heraus. Und hier am Schluß erscheint der Leitfaden von Whistlers Entwicklung. Seine Konzeption des Malens ist, eine Fläche zu beleben durch Töne, die zugleich irgend eine Wirklichkeit suggerieren.


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