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Griechischer Frühling

(1909)

Wenn ich an dieses Buch zurückdenke, so schwebt mir nicht der Begriff »Griechenland« vor, sondern Blumen, Tiere, Hirten und in dieser einfachsten Natur irgendwo eine wunderschöne Säule oder eine kleine Kirche, in der Bienen unter einer Mosaikkuppel summen. So ist Griechenland; oder fast so: denn es fehlt noch das Meer, und Hauptmann hat auch das Meer im Hintergrund angedeutet, das zarte, blaue Stückchen Meer, das fast überall in Griechenland eine ferne Bucht, einen Bogen am Horizonte füllt. Aber im Mittelpunkt stehen in diesem Buch die Hirten und die Tiere und die Blumen, »diese kleinen göttlichen Wesen«, wie sie Hauptmann ehrfurchtsvoll nennt, die in ihrer griechischen Feinheit und Anmut ihm wie Visionen aus dem Paradies erschienen sind. Hauptmanns Buch ist, ich möchte sagen, ein Hirtenbuch. Andere Reisende, die berühmtesten und größten, diejenigen, welche für uns Griechenland neu entdeckten, Byron, Chateaubriand, waren Kinder des Meeres und haben Griechenland vom Meer aus gesehen und verstanden; Hauptmann scheint aus seinen schlesischen Bergen Überland herabgestiegen, um ebenso wie jene in Griechenland mit Erstaunen seine Heimat, aber nicht das Meer, sondern Gebirgsmatten und Herdenglocken wiederzufinden. Sein Buch verhält sich zu den Büchern seiner Vorgänger wie Hesiod zu Homer, oder wie das dorische Weltbild zum ionischen. Es ist das erste Buch eines Deutschen, eines ganz zwischen Acker und Bergen Aufgewachsenen, über Griechenland. Und so ergänzt es seine Vorgänger, wie nur ein Instinkt einen anderen ergänzen kann.

Hauptmann gibt die griechische Erde, jene Erdscholle, die nicht wie die anderer Länder feucht und schwer ist, sondern trocken und ihrer Schwere wie beraubt durch das Licht, aber nahrhaft für Wesen, die wie sie mehr Feuer als Substanz haben – Gräser, leichte feine Blumen, Ölbäume, Ziegen – und so würzig, daß der Geruch ihrer Erde ganz Griechenland, wie Blumenduft einen Garten, füllt. Diesen Erdgeruch Griechenlands, seiner Landschaft, seiner Götter, haben die romantischen Reisenden nicht gespürt; sie haben Griechenland wie selige Inseln im Meere sozusagen immer aus der Ferne, Augen und Herz nur voll von dem Glanz und Purpur seiner Küsten, von der Majestät seiner Massen, von dem ewigen Dunkelblau seiner See. Und weil sie auf das subtile Leben und Feuer seiner Erde nicht achteten, aus denen hier alles wächst und gewachsen ist, fanden sie Griechenland tot, leer, melancholisch. Griechenland, das Land der silbernen Morgenhelle, wurde der düsterste Hintergrund für den romantischen Weltschmerz. Childe Harold empfindet es immer so, wie an jenem ersten Abend:

»When he saw the evening star above
Leucadia's far projecting rock of woe, ...
And as the stately vessel glided slow
Beneath the shadow ofthat ancient mount
He watched the billows' melancholy flow.«

Chateaubriand in der sternenhellen Nacht auf Kap Sunion sein Schiff erwartend ist eine Figur, die niemand, der seine Reisebeschreibung gelesen hat, je vergessen wird: die Stelle ist so voll von Melodie und Erhabenheit wie nur wenige in der Weltliteratur:

»Je découvrois au loin la mer de l'Archipel avec toutes ses îles: le soleil couchant rougissait les côtes de Zéa et les quatorze belles colonnes de marbre blanc au pied desquelles je m'étois assis. Les sauges et les genévriers répandaient autour des ruines une odeur aromatique, et le bruit des vagues montait à peine jusqu'à moi. – Comme le vent était tombé, il mous fallait attendre pour partir une nouvelle brise. Nos matelots se jetèrent au fond de leur barque, et s'endormirent. Joseph et le jeune Grec demeurèrent avec moi. Après avoir mangé et parlé pendant quelque temps, ils s'étendirent à terre et s'endormirent à leur tour. Je m'enveloppai la tête dans mon manteau pour me garantir de la rosée, et, le dos appuyé contre une colonne, je restai seul éveillé à contempler le ciel et la mer. Au plus beau coucher de soleil avoit succédé la plus belle nuit. Le firmament répété dans les vagues avoit l'air de reposer au fond de la mer. L'étoile du soir, ma compagne assidue pendant mon voyage, était prête à disparoitre sous l'horizon; on ne l'apercevoit plus que par de longs rayons qu'elle laissoit de temps en temps descendre sur les flots, comme une lumière qui s'éteint. Par intervalles, des brises passagères troubloient dans la mer l'image du ciel, agitoient les constellations, et venoient expirer parmi les colonnes du temple avec un faible murmure. – Toutefois ce spectacle était triste lorsque je venais à songer que je le contemplais du milieu des ruines. Autour de moi étoilent des tombeaux, le silence, la destruction, la mort, ou quelques matelots grecs qui dormaient sans soucis et sans songes sur les débris de la Grèce.«

Man glaubt das Seufzen des Meeres in den Rhythmen dieser Prosa zu hören. Aber wie viele andere Seufzer klingen noch durch diese Nacht! Ossian ist hier näher als Homer. Und zwischen Byron, zwischen Chateaubriand und dieser Erde, auf die sie hinausblicken, welche ungeheure Distanz! Wie anders, wie nah, wie voll Sonne und diesen Glücks sind die Eindrücke von Hauptmann: »Ich liege auf olympischer Erde ausgestreckt. Ich bin, wie ich fühle, zum Ursprung meines Kindertraums zurückgekehrt ... Mit reifem Geist und bewußt viel erfassenden Sinnen ward ich auf dieses feste Erdreich so vieler ahnungsvoll grundloser Träume gestellt in eine Erfüllung ohnegleichen hinein. Und ich strecke die Arme weit von mir aus und drücke mein Gesicht antäos-zärtlich zwischen die Blumen in diese geliebte Erde hinein. Um mich leben die zarten Grashalme. Über mir atmen die niedrigen Wipfeln der Kiefern weich und geheimnisvoll. Ich habe in mancher Wiese bei Sonnenschein auf dem Gesicht oder Rücken gelegen; aber niemals ging von der Erde eine ähnliche Kraft, ein ähnlicher Zauber aus, noch drang aus hartem Geröll, das meine Glieder kantig zu spüren hatten, wie hier ein so heißes Glück in mich auf.«

 

Diese Intimität gibt Hauptmann ein Verständnis für die griechische Natur, wie es vor ihm seit dem Altertum, seit dem Phädrus und dem Chor der Greise auf Kolonos, niemand, wie mir scheint, gehabt hat. – Die griechischen Bienen, die Bienen Platos und Theokrits, feiern bei ihm ihre Auferstehung; nicht die großen, derben Bienen unserer Gärten, sondern »die kleinen heidnischen Priesterinnen der Demeter«, die von Thymian und wilden Blumen leben und kaum größer sind als große Fliegen. In Eleusis, im Schatzhaus des Atreus, in der Kirche von Mistra hören wir ihre »weiche sausende Chormusik«; und wir fühlen durch den glücklichen Schmelz von Hauptmanns Prosa hindurch ihre goldene Leichtigkeit. – Ebenso instinktiv trifft Hauptmann auch den Charakter der griechischen Blumenwelt. Die Rosen Spartas und Athens sind in Griechenland noch immer Fremde: ihr Schatten und ihr Duft lasten in diesem Lande leichter Schatten, leichter Düfte. Hauptmann geht an ihnen schweigend vorüber. Die Blumen, die er nennt, sind wie die der griechischen Dichter immer oder fast immer Feldblumen: Gänseblümchen, Anemonen, »zarte Teppiche weißer Maßliebchen«, oder an den Berghängen die blumenhaft hübschen und feinen griechischen Gräser. Aus solchen Gräsern und Blümchen, wie sie Hauptmann schildert, dachte sich gewiß der Hymnendichter die »weiche Wiese«, auf der Leto ihren starken Sohn Phoibos Apollon geboren hat; »und das Erdreich lachte unter ihr«, sagt der heilige alte Sänger. – Noch bezeichnender für Hauptmanns Eindringen in die griechische Natur ist die Rolle, die er das Getreide spielen läßt. »Man muß die Alten und das Getreide zusammen denken«, sagt er einmal. Ganz richtig; aber welcher Reisende hat je gewagt, in Griechenland Getreide zu sehen? Oder wenn einer es erwähnen muß, dann spricht er von Gerste, Hafer, Weizen wie von etwas hier fast Unpassendem. Denn Getreide widerspricht der romantischen Konvention, die Griechenland nackt und dürr sehen will. Und doch steht kaum irgendwo die Feldfrucht grüner und schöner als im Mai in Boeotien oder Phokis. Hauptmann schließt das Getreide in sein Herz wie Homer. In Olympia, am Parnaß, am Fuße der Akropolis, überall freut er sich der grünen wehenden Gerstenfelder. Griechenland ist für ihn noch heute das Land der Demeter.

 

Am tiefsten hat aber Hauptmann gewiß das Leben der griechischen Berge, alles, was sich im Gebirge dort regt und bewegt, nachempfunden. Er nennt einmal die alten Griechen »ein Bergvolk«; und ich sagte schon, daß sein Buch mir vorkomme wie ein Hirtenbuch. In der Tat, was ich in diesem Buch am meisten bewundere, ist, wie es uns den Hirten nahebringt, die so merkwürdige und anziehende und wichtige uralte Gestalt des Hirten.

Zunächst die Haltung des Hirten: den inmitten seiner Herde »herrenhaft-heiter wandelnden Mann«, oder den »unter einer Kiefer in statuarischer Ruhe aufgerichteten, dessen langohrige Schafe im Schatten des Baumes zusammengedrängt um ihn her lagern und wie ein einziges Vlies den Boden bedecken«. Der Hirt hat seinen Besitz immer vor Augen. Stolz kommt ihm natürlich an. Und Stolz bleibt die Grundlinie seiner Haltung. »Denn wo wäre«, wie Hauptmann sagt, »die Freiheit der Haltung, die stolze Gewohnheit des Selbstgenügens, die Würde des Menschen vor dem Tier weniger gestört als im Hirtenberuf?«

Zum Stolz kommen seine Sinne. Hauptmann vergleicht den Besitz der Seele mit einem Baum, der in den Sinnen seine Wurzeln hat, und meint dann mit Recht, »daß die Sinne des Jägers die Sinne des Hirten, die Sinne des Jägerhirten sagen wir, die feinsten und edelsten Wurzeln sind«. Niemand hat in der Tat feinere Augen und Ohren nötig als der Hirt im Gebirge, der sein Vieh in Schluchten und Gestrüpp zusammenhalten muß. Und es kann wohl sein, daß eine uralte Übung im Hirtenberuf in der klaren griechischen Gebirgsluft viel beigetragen hat zur Qualität der griechischen Sinnlichkeit.

 

Aber die Haupteigenschaft des Hirten, diejenige, welche ihn am meisten von den anderen Urtypen der Gesittung unterscheidet, vom Krieger, vom Jäger, vom Ackerbauer, ist seine Phantasie, die Kraft und Art seiner Phantasie. Alle jene anderen ältesten Berufe der Menschheit bringen dem, der sie ausübt, abwechselnd eine Tätigkeit, die ihn ganz in Anspruch nimmt, und einen Feierabend, der ihn ganz müßig läßt, – meistens übermüdet und träge müßig läßt. Der Hirt ist weder je so ganz angespannt, noch je so ganz ausgespannt wie der Jäger, der Krieger, der Landmann. Er hat immerfort aufzupassen und nie, oder fast nie zu arbeiten. Sein Beruf schließt ebenso die Stumpfheit wie das Fieber aus. Sein Zustand ist Beschaulichkeit, eine auf die Außenwelt gerichtete Beschaulichkeit, die fortwährend kleine Gesichts- und Gehöreindrücke aufnimmt und auslegt: eine dauernde, gleichmäßige, leise Anspannung des Auges, des Gehörs und des Urteils. Man begreift daher, warum der Hirt, und gerade er Phantasie hat. Man begreift es namentlich, wenn man hinzunimmt, daß der Hirt seinen Beruf nicht in Gesellschaft, unter anderen Menschen, ausübt, sondern in der Einsamkeit, der Natur gegenüber; und daß diejenige Natur, welche ihm die beste Weide für sein Vieh bietet, die große, wilde, unberührte ist.

Allein in einer schweigenden Natur, ohne fesselnde Tätigkeit, aber doch genötigt, wach zu bleiben, verfällt der Hirt auf die Ausdeutung seiner Eindrücke und die leise innere Spannung, die sein Beruf mit sich bringt, begünstigt diese, wie jede andere Tätigkeit der Seele. Karl von den Steinen fand die Jägerstämme in Brasilien gleichgültig gegen die Natur, nur auf das Praktische gerichtet, heiter und stumpf: er verspottet die, die sich den Urmenschen voll phantastischer Ahnungen, erschüttert von dem Gefühl seiner Ohnmacht, auf den Knieen vor der Natur vorstellen. Etwas Zauberei und ein schwacher Geisterglaube waren der ganze Phantasiebesitz jener Jägervölker. Und Spencer und Gillen geben von den Jägerstämmen in Australien ganz dasselbe Bild. Man darf daraus schließen, daß der Mensch, solange er Jäger und nichts als Jäger bleibt, nur rudimentäre Phantasiegebilde hervorbringt, kaum weiter fortgeschrittene als der Hund, der ängstlich und wütend zum Monde bellt. Aber Hirten haben Tausendundeine Nacht geschaffen; und überall, wo man Hirten beobachtet hat, in allen Urkunden ihres Seelenlebens ist Phantasie das Hervorstechende, eine ausgreifende, reiche, schöpferische Phantasie, die oft, wie bei den mit dem doppelten Gesicht begabten schottischen Hochlandshirten oder bei der kleinen Hirtin, die Frankreich von den Engländern befreite, eine wahrhaft dämonische Kraft erreicht. Deshalb ist der Übergang vom Jägerleben zum Hirtenleben, wie mir scheint, das wichtigste Ereignis der menschlichen Geschichte; denn es schenkte dem Menschen den vollen Gebrauch seiner Phantasie; und von der Entfesselung der Phantasie ist alle spätere Geschichte, ja, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier überhaupt Geschichte hat, abhängig: der erste Hirt war zugleich der erste Mensch, im humanen Sinne.

Die Richtung aber und die Schöpfungen der Hirtenphantasie sind natürlich bestimmt durch die Eindrücke, die dem Auge und dem Ohr des Hirten von der Natur, in der er lebt, geboten werden. So entwickelt sich die Phantasie verschieden, je nachdem der Hirt in der Ebene oder im Gebirge seine Weideplätze hat. Hier teilen sich die Quellwasser der Kultur; und als Typen dieses Gegensatzes erscheinen der Beduine und der Grieche.

Die Eindrücke, die die griechische Hirtenphantasie geformt haben, finde ich bei Hauptmann greifbar in unsere Nähe gerückt; nicht nur weil er das griechische Gebirge und seine tierischen und menschlichen Bewohner anschaulich schildert, nicht nur weil er sich in sie mit nahverwandten Grundinstinkten einfühlt; sondern weil ihm die Wirklichkeit in gewissen Augenblicken visionär wird, und dann seine Eindrücke in ihrer Mischung aus einfachen, oft direkt trivialen Dingen und geheimnisvoller Stimmung denen der Hirten, die die panischen und apollinischen Erscheinungen geschaffen haben, ganz analog sind. Denn das Visionärwerden der Wirklichkeit, ihre Entwicklung durch die Stimmung, ist, was die Hirtenphantasie auszeichnet. Sie schafft nicht eine Traumwelt außerhalb der wirklichen, sondern ein Gefühl, das die Wirklichkeit zum Spuk macht. Sie ist Stimmungsphantasie, nicht Bildphantasie; die Pansflöte war ihr Instrument, die Musik ihr natürliches Ausdrucksmittel. Wenn man mit Nietzsche das Dionysische und Apollinische: das Erfinden neuer Gefühle und das Erfinden neuer Bilder, als die beiden Urquellen der Kultur ansieht, so ist die Hirtenphantasie dionysisch; sie ist schöpferisch im Verwandeln der Welt durch die Stimmung.

Deshalb braucht sie auch nicht nach Bildern in die Ferne zu schweifen; im Gegenteil: je altvertrauter ein Ding ist, um so öfter hat es für das Gefühl sein Gesicht gewechselt, um so mehr wächst es dem, der seine Stimmungen verfolgt, ins Geheimnisvolle. Die nächsten Dinge sind den Hirten die phantastischesten. So wird dem griechischen Hirten der Urzeit sein Bock, das was er am besten kennt, zu einer Art von Dämon, dem Satyr; in seiner Hürde, die er nachts um die Ziegen schließt, fühlt er gespensterhaft einen Hürdengeist, einen Gestaltlosen, Namenlosen: »den von den Hürden«, »Apollon« (απελλα, die Hürde), und der Steinhaufen (ερμα), der ihm täglich an einer schwierigen Stelle im Gebirge seinen Weg zeigt, birgt für ihn einen ebenso geheimnisvollen, formlosen Geist des Steinhaufens und des schnellsten Weges, »Hermes«. (C. Robert nach einer Mitteilung E. Meyers in seiner Geschichte des Altertums II, S. 49.) Die Perspektive der Hirtenphantasie ist das Gegenteil der romantischen; sie vergrößert nicht das Ungewöhnliche, sie leiht Bedeutung dem Gewöhnlichen.

Nur Kinder haben heute allgemein noch diese Naivität der Phantasie. Aber Hauptmann ist darin wie ein Kind, oder wie ein Hirt. Die Kraft seiner Phantasie nimmt ab mit der Entfernung ihres Stoffes vom Alltäglichen; sie wächst mit seiner Vertrautheit. Daher Hauptmanns sogenannter Naturalismus. Er gibt so gern gemeine Wirklichkeit, weil gerade sie seine Phantasie am reichsten befruchtet; denn seine Phantasie sucht Stimmungen, und diese findet sie am mannigfaltigsten in Dem, was sein Herz am häufigsten bewegt hat, in den Vorgängen des gewöhnlichen Lebens. »Die Kinder pflücken roten Klee, rupfen die Blütenkrönchen behutsam aus und saugen an den blassen feinen Schäften. Eine schwache Süßigkeit kommt auf ihre Zungen«, sagt Hauptmann in der Widmung von ›Hannele‹. So wie die Kinder in ›Hannele‹ saugt Hauptmann selbst aus dem Leben feine seltene Gefühlsnuancen. Indem er diese dann aneinanderreiht und auf sie, wie der Musiker auf aufeinanderfolgende Klangfarben, sein Kunstwerk aufbaut, entrücken sich ihm die Vorgänge, einerlei ob sie gewöhnlich sind, ins Geheimnisvolle, Visionäre, und schweben über den kunstvoll verwobenen Stimmungen etwa so, wie sich Nietzsche in der griechischen Tragödie den blutigen und rohen Mythus verklärt als Vision auf dem dionysischen Untergrund der Musik dachte. Es wäre irreführend, ohne weiteres zu sagen, daß Hauptmanns Poesie der Musik nahesteht; denn die Gattungen mischen sich bei ihm nicht. Aber richtig ist, daß seine Kunst, – und dadurch ist sie verwandt mit der von Kleist, – aus demselben Born fließt wie die Musik, nämlich aus dem Urquell der Gefühlsphantasie, den Nietzsche den dionysischen genannt hat: Hauptmanns Kunst ist, wenn man sie schon Naturalismus nennen will, ein dionysischer Naturalismus.

Beispiele aus seinen Werken anzuführen, ist fast überflüssig, so allgemein ist der Stimmungsuntergrund in seinen Dramen; ich nenne nur ›Hannele‹, bei dem das Verzaubern der Wirklichkeit durch eine wunderbar verschlungene Instrumentation der Stimmungen bis zur Virtuosität gesteigert ist: darin ist diese Dichtung wohl einzig in der Weltliteratur und in der Tat eher mit einer Symphonie als mit irgendwelcher anderen Poesie zu vergleichen.

Wie die Symphonie zur Pansflöte verhält sich denn auch die Polyphonie der Stimmungen, mit denen Hauptmann die Natur betrachtet, zu den Gefühlen – einfachen Naturlauten –, die den griechischen Hirten überkamen, wenn ein Wolkenschatten sein Tal aufsuchte, oder seine Ziegen plötzlich wild vor Schreck den Berg hinabstürmten. Aber doch sind die Eindrücke, die beide haben, ihrem Wesen nach gleich; denn beide bieten der Natur in ihrer Seele denselben reinen Spiegel, der die Dinge und Gefühle in sich aufnimmt, ohne irgendeins zu verachten oder verzerren, und beide geraten vor der Natur in denselben visionären Rausch, der, wie Hauptmann einmal sagt, »Natur und Mythus in eins verbindet, ja, ihn (den Mythus) zum phantasiemäßigen (und daher für ihn natürlichen und notwendigen) Ausdruck von jener macht«. So sind Hauptmanns Eindrücke zugleich Abbilder jener primitiven Hirtenseele, die zuerst diese ewig unveränderliche, ewig karge, helle, würzige Gebirgswelt schöpferisch gespiegelt und vergöttlicht hat. Ich stelle Einiges zusammen, wo sich jene Hirtenseele, gewiß in neuen und der Urzeit unbekannten Nuancen, aber doch in ihren Grundlinien unverändert in Hauptmanns Worten abmalt:

»Diese steinigen Hochtäler zwischen Parnaß und Helikon erklingen, nicht von Kirchengeläut, – aber sie sind beständig und überall durchzittert vom Klange der Herdenglocken. Sie sind von einer Musik erfüllt, die das überall glucksende, rinnende, plätschernde Element einer echten parnassischen Quelle ist ... Im Klangelement dieser parnassischen Quelle, dieses Jungbrunnens, bade ich. Es beschleicht mich eine Bezauberung. Ich fühle Apollon unter den Hirten und zwar in schlichter Menschengestalt, als Schäferknecht, wie er die Herden des Laomedon und Admetos hütete ... Wir biegen nach einem längeren Ritt in ein abwärts führendes enges Tal ... Wir müssen zunächst durch eine Herde schwarzer Ziegen förmlich hindurchschwimmen, unter denen sich prächtige Böcke auszeichnen. Und wie ich die Blicke über die steinigen Talwände forschend ausschicke, sehe ich sie mit schwarzen Ziegen, wie mit überall hängenden, kletternden, kleinen schwarzen Dämonen bedeckt. Der Eingang des schwärzlich wimmelnden Tales wird von dem vollen Glanz des Parnasses beherrscht, der aber endlich dem Auge entschwindet, je weiter wir in das Tal hinabdringen, das immer mehr und mehr von gleichmäßig schwarzen Ziegen wimmelt ... Ich habe, auf meinem Maultier hängend, Augenblicke, wo mir dies Alles nicht mehr wirklich ist. – Ein weites Quertal nimmt uns auf, und wie ein Spuk liegt nun die Vision der schwarzglänzenden Ziegen hinter mir. Wir überholen einen reisenden Kaufmann, dessen Maultier von einem kleinen Jungen getrieben wird. So schön und vollständig wie nie zuvor, steht der Parnaß vor uns aufgerichtet: ein breiter silberner Wall mit weißen Gipfeln. Ich gewinne den Eindruck, der apollinisch strahlende Glanz strömt in das Tal, das der Berg beherrscht ... Ich empfinde nicht anders, als stammte der trillernde Rausch des Lerchengeschmetters, das leuchtende Grün der Saaten, der zitternde Glanz der Luft von diesem geheiligten Berge ab und nähre sich nur von seinem Glanze.«

Ein jeder fühlt, wie dieses mehr ist als die gewöhnliche Reisebeschreibung, mehr auch als die rhetorischen oder poetischen Landschaftsbilder, die die großen Individualisten, Rousseau oder Chateaubriand, geschaffen haben; ja in einem gewissen Sinne mehr sogar als die wunderbar exakten und fast unpersönlichen Landschaftsschilderungen Goethes. Denn hier steht nicht nur das Milieu vor uns, sondern das Milieu gesehen durch die Augen dessen, um dessen Willen es als Milieu wertvoll war; mit dem Objekt ist zugleich auch das Subjekt da: der Hirt, in dem diese Gebirgswelt für alle Zukunft Frucht getragen hat.

 

Denn mit dem Hirten ist Hauptmann bis an die Wurzel des eigentlich Griechischen gelangt, so daß sich in seinem Buche das Griechentum vor uns aus seinem Fundamente aufbaut.

Dieses Fundament ist die Vergöttlichung der Wirklichkeit, wie sie in ihrer Urform die Hirten Visionen im Gebirge darstellen. Wundt hat in seiner Völkerpsychologie ausgeführt, daß die mythologische, das Leblose belebende, das Tier vermenschlichende, die Welt letzten Endes vergöttlichende Auffassung die ursprüngliche und jedem Menschen eigentlich natürliche sei, wenn nicht Hemmungen der Bildung und Erfahrung sie unterdrückten. Das Kind, der primitive Mensch können garnicht anders, als ihr Gefühl, ihre Seele in die Dinge projizieren und dadurch die Gegenstände in belebte und wunderbare, dem Menschen gleichwertige oder überlegene Wesen umwandeln. Dieses mythische Sehen, nicht unser nüchternes, ist dem Menschen natürlich. Alle Völker haben es besessen; alle aber bis auf eins haben es schon früh verloren: das Göttliche schwand ihnen wie dem Kinde aus der Welt, entweder ganz; oder in ein weltfernes, wenn nicht weltfeindliches Jenseits; so erging es den Indern, den Juden, den Völkern der modernen Welt. Nur die Griechen haben sich anders entwickelt. Das griechische Wunder, »le miracle grec«, wie es Renan genannt hat, besteht darin, daß die Griechen es vermochten, das Göttliche in der Welt festzuhalten bis in die Zeit ihrer höchsten Kultur, bis über Homer und Pindar und die Tragiker hinaus, ja bis über Sokrates hinaus bei Plato, dessen Ideenlehre nichts ist als ein letzter Versuch, die Kraft, die Welt zu heiligen, mit den Forderungen eines hochentwickelten Rationalismus zu versöhnen; womit auch gesagt ist, was gerade Schleiermacher zu Plato hinzog.

Indem Hauptmann von dieser den Griechen eigenen Kraft zu heiligen ausgeht, ordnet sich ihm alles Griechische wie von selbst in die richtigen Proportionen und Zusammenhänge. Die griechische Schönheit ist nichts als eine besondere Form und Anwendung dieser Fähigkeit, die Wirklichkeit als ein Dämonisches aufzufassen. Auch hier berühren sich in bemerkenswerter Weise Hauptmanns Intuitionen mit den Einsichten der neueren Psychologie. Lipps hat gezeigt, daß der ästhetische Genuß in der Übertragung der eigenen Persönlichkeit, ihrer Gefühle und Affekte, in das Wahrgenommene besteht: er nennt dieses »Einfühlung«; und Wundt erklärt diese ästhetische Einfühlung als nur eine ermäßigte Form der mythologischen Auffassung, die die eigene Seele so vollständig in einen Gegenstand überträgt, daß er ihr als gleichwertige oder überlegene Persönlichkeit, als etwas Wunderbares und Göttliches gegenübertritt. Genau so sagt Hauptmann: »aller Schönheit geht Heiligung voraus ... die Vergötterung der Natur (bei den Griechen) ging hervor aus der Kraft zu heiligen, die zugleich auch Mutter der Schönheit ist.«

Dieser Gesichtspunkt enthüllt auch überraschend den Untergrund der eigenartigen Stellung der Griechen zum Nackten, die sie einzig unter allen Kulturvölkern einnehmen. Nicht bloß seine Schönheit rechtfertigt das Nackte vor dem Urteil des Griechen, sondern viel früher schon und tiefer seine Heiligkeit, die Heiligkeit des menschlichen Körpers und aller seiner Teile, und noch seiner Lüste und Begierden. Ja, es kann sogar fraglich scheinen, ob überhaupt vor den Griechen je ein Volk den ungeschmückten nackten Körper als schön empfunden hat, oder ob nicht sie zuerst die Schönheit dem Körper als einen Abglanz seiner Heiligkeit geschenkt haben. Wenn der Jüngling sich in Thera nackt dem Apollon weihte, wenn der Sieger nackt sich bekränzte und nackt sein Standbild in den heiligen Bezirk stellte, wenn Sophokles als Knabe nackt bei der Siegesfeier für Salamis getanzt hat, so sah der Grieche in der Enthüllung des vollkräftigen oder jugendlichen Leibes in erster Linie die Enthüllung eines Göttlichen. Die Heiligkeit des Körpers war am Anfang; erst später kam, als Erfüllung, seine Schönheit. Während vieler langer religiöser Jahrhunderte baute jede Griechenstadt immer gleichzeitig neben ihren marmornen an diesen lebendigen Tempeln für die Gottheit. Ehrfurcht ist die Grundstimmung des Künstlers, die man durchfühlt, bei allen Darstellungen des Nackten aus den großen Jahrhunderten: eine Ehrfurcht, wie man sie erst wieder bei christlichen Madonnen spürt. So begreift man, wie bei den Doriern die Knabenliebe aus dem Gottesdienst hervorgehen konnte, und warum in Olympia die Frauen, seit die Athleten nackt kämpften, bei Todesstrafe die Wettkämpfe nicht schauen durften: nicht aus Schamhaftigkeit, deren Verletzung die Griechen nicht mit dem Tod bestraft hätten, sondern weil bei den Griechen wie bei andern primitiven Völkern Frauen Offenbarungen des Dämonischen fernbleiben mußten. Als Phryne vor den nach Eleusis ziehenden Pilgern dem nahen Meer entstieg, rief das Volk, das Volk des praxitelischen Athens, huldigend: »Aphrodite, Aphrodite!« Das war keine Verwechselung: in jenem Augenblick war Phryne Aphrodite. Noch einmal, vielleicht zum letztenmal, flammte im Anblick eines unverhüllten Frauenkörpers am Meer in der griechischen Seele der Mythus auf, um dann vor der Übermacht des Wissens überwältigt auf immer zu verlöschen.

Das Fortbestehen dieser Gabe, die Kräfte und Gestalten der Wirklichkeit dämonisch aufzufassen, bestimmte vor allem natürlich die griechische Religion. Während sich einerseits die lichten Götter des Olymps entwickelten, und andrerseits geheimnisvolle Kulte das Gefühl von der Heiligkeit der Welt vertieften, blieb jene Pandämonie der Natur der breite Untergrund aller dieser einzelnen Bildungen. Alle Vorgänge, sowohl in seinem Innern wie in seiner Umwelt, empfand der Grieche als Handlungen von Göttern, von guten oder bösen. Wenn er liebte, wenn er jagte, wenn er tapfer war, war es Aphrodite, Artemis, Athena, die in ihm liebte, jagte, tapfer war; wenn er blind ins Verderben stürzte, walteten in ihm die bösen Mächte, die namenlosen. Der Dämon, der in Sokrates wohnte, entsprach einer uralten griechischen Vorstellung, die ebenso bei der Pythia herrschte; und Hofmannsthal hat echt griechisch gedacht, wenn er im grandiosen ersten Akt seines Ödipus das Walten von fremden Mächten im Blut zum Grundthema seiner Handlung gemacht hat.

So sah denn der Grieche auch außer sich in allem Geschehen nichts als die Tätigkeit von Göttern und Dämonen. Wenn etwas wuchs oder floß, wenn es regnete, wenn es wetterte, dann wetterte, regnete, floß oder wuchs ein Gott. Odysseus ist auf seinen Irrfahrten in fremden Ländern nie zweifelhaft, ob ein junger Baum, ein frischer Quell ein Gott ist; er weiß, daß in diesen grünen Zweigen, in diesem lebendigen Wasser ein Göttliches walten muß, und wie von Ödipus bei Hofmannsthal könnte es auch von ihm überall, wo er hinkommt, heißen: »aus den Flüssen heben die Götter, deine Verwandten, Haupt und Hände«. In Achills Kampf mit dem Fluß Skamander im einundzwanzigsten Buche der Ilias hat dieser Glaube der Griechen an furchtbare Naturdämonen den großartigsten poetischen Ausdruck gefunden.

Die Fülle der Naturgötter, die Dichtigkeit dieser Dämonenbevölkerung ist, was einem auffällt, wenn man mit Pausanias, der sie herzählt, durch irgendeinen Teil von Griechenland reitet. Wirklich haben sich, wie Hauptmann sagt, »hier Götter und Halbgötter mit jedem weißen Berggipfel, jedem Tal und Tälchen, jedem Baum und Bäumchen, jedem Fluß und Quell vermählt; ... so daß der Mensch gleichwie zwischen Bergen und Bäumen, zwischen Abgründen und Felswänden, zwischen Schafen und Ziegen seiner Herden, oder im Kampf zwischen Raubtieren, auch allüberall unter Göttern, über Göttern, und zwischen göttlichen Mächten stand«.

Das Wunder ist, daß dieser Glaube nicht ausschließlich finster war; daß die Vorstellung dieser geheimnisvollen Kräfte, deren Walten der Grieche überall in sich und um sich fühlte, ihn nicht vollkommen niederschmetterte. Ein primitives Volk erträgt diese Vorstellung mit stumpfer Gemächlichkeit; für die Griechen aber, die sie mit in eine Zeit raffinierter Kultur hinübernahmen, wurde sie in der Tat zu einem Stachel, der sie ruhelos vorwärtstrieb. Im Mittelpunkt ihrer ganzen Kultur steht daher ihr religiöses Problem: wie sich mit dem übermächtigen Wirken der dämonischen Kräfte abfinden? Hierauf beziehen sich die beiden erwähnten Wege ihres religiösen Denkens, die einerseits zum Olymp und andrerseits in die Tiefe der Mysterienkulte führten. Der Grieche sucht, die Furchtbarkeit des Dämonischen zu mildern, indem er es äußerlich vermenschlicht und innerlich heiligt. D.h. er wehrt sich dagegen, indem er ihm einerseits menschliche, familiäre Gestalt gibt, und andererseits die Schreckgefühle, die es einflößt, in andere Stimmungen wie orgiastische Sexualerregung, Begeisterung, Hingebung, Ehrfurcht umwandelt. So bilden sich in seiner Religion allmählich zwei Elemente, die seine Phantasie wie Schleier, um ihn zu schützen, vor die dämonischen Mächte vorzieht, ein Gewebe von göttlichen Gestalten und ein Gewebe von heiligen Gefühlen, jenes identisch mit dem, was Nietzsche das apollinische Element in der Tragödie genannt hat, dieses mit dem dionysischen; jenes ein Werk des Epos und der Kunst, »Apollos und der Musen«, dieses der ewig lebendige Zweck der Mysterien, beide zuletzt vereinigt in der Tragödie, die somit der Schlußstein und der Gipfelpunkt der griechischen Religion und Kultur ist.

Aber hinter diesen Schleiern bleiben doch die älteren dämonischen Naturmächte der Phantasie des Griechen immer gegenwärtig. Ich sagte schon, wie der Blick für ein Dämonisches in den Dingen die griechische Schönheit und die griechische Nacktheit bestimmt hat. Gegen die Gewalt dieses »doppelten Gesichts«, dieser hirtenmäßigen Vision der Dinge, die den Griechen im Blute lag, vermochten alle Schleier nichts; ja, diese Schöpfungen selbst, die lichten Götter- und Heroengestalten, die tiefen, heiligen Gefühle, waren, wie Nietzsche schön gesagt hat, nichts als umgekehrte Gegenbilder, wie sie das von der Sonne geblendete Auge sieht, »gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes«, und daher selber abhängig in ihrer Existenz vom Fortbestehen jener primitiven Halluzination, die zu ihrer Heilung immer wieder diese mildernden Gefühle und Gesichte rufen mußte. Deshalb erscheint alle Kultur in Griechenland, alle Schönheit, alle Poesie, immer nur wie eine durchsichtige Lasur auf einem Bild, hinter der wie ein dunkler, unermeßlich tiefer Grund das Schicksal, der Inbegriff jener namenlosen Mächte, drohend und geheimnisvoll sich auftut. Der zauberhafte Glanz des Griechischen entsteht durch diesen stets in allen Schöpfungen der griechischen Phantasie mit einbegriffenen Kontrast, wie die Lichtwirkung von Rembrandt ganz bedingt ist von der tiefen Nacht, die überall das kostbare Gold seines Lichtes einfaßt.

Doch die Naturmächte wurden durch die Olympier und Mysterien nicht alle zurückgedrängt in die Fernen des Schicksals; viele wurden auch umgewandelt in Wesen, die an der neuen Ordnung der Vermenschlichung und Heiligung, wenn auch unvollkommen, teilhatten. Das waren hauptsächlich die Dämonen der Landschaft, Quellgeister und Waldgeister, Geister der Höhlen und Erdtiefen, der Triften, Felder, Feldfrucht. So entstand eine Welt von Halbgöttern, von halb geformten, halb noch nebelhaften Wesen, deren Gestalten unbestimmt waren, während die Stimmungen, die sie verkörperten, feststanden. Dieses Vorwalten ihrer Stimmung gegenüber ihrer Form unterscheidet die Naturgötter von den Olympiern. Sie sind auf halbem Wege stehen geblieben. Sie sind noch wie Hirtenvisionen hauptsächlich Ausstrahlungen des Gefühls in gewisse Gegenstände oder Vorgänge: der Todesangst eines Aufgeschreckens, der Lust eines Freudigen oder Dankbaren in irgendein Geschehen oder Landschaftsbild, Doppelgänger eines Ichs angeschaut fast so, wie das Ich sich selbst sieht, ohne festen Umriß und Gestalt; das ist ihre Substanz, diese Stimmung, diese Gefühlsmasse, die irgendetwas in der Landschaft, ein alter Baum oder junges üppiges Sprießen im Frühjahr, ein stetig rieselndes Wasser oder ein Schrei in der Mittagsstille, aus dem Herzen hervorlockt und sozusagen in sich aufnimmt: aus solchem Material ballen sie sich zusammen. Durch Assimilation mit den Olympiern kommen sie dann allmählich auch zu einer Art von menschlicher oder halbmenschlicher Gestalt. Aber ihre Umrisse werden nie scharf: sie grenzen sich nie klar ab gegen die Landschaft, gegen den Baum oder Quell, in dem sie leben, gegen das Wachsen und Gedeihen, das sie wirken. Und auch von der Seele, die sie hervorstieß, deren Stimmungen sie geschaffen hat, ja, jedesmal sie neu schafft, lösen sich die griechischen Naturgötter nie ganz los; es ist wie ein Hin- und Herwogen zwischen ihnen und dem, der sie wahrnimmt: sie gleichen Halluzinationen, deren halluzinatorischer Charakter dem Seher bekannt ist.

Aber deshalb herrscht auch zwischen ihnen und dem Menschen eine Intimität, die der Grieche den Olympiern gegenüber nicht fühlte. Ein geheimnisvolles Band verbindet den Naturgott mit seinem Adepten, das Band einer gemeinsamen Substanz, ebenjener Stimmung, die den Gott gezeugt hat, und die gleichzeitig Teil seiner selbst und Teil der Seele seines Mysten ist. So wird bei dem Naturgott Dionysos die vollkommenste Form der Gemeinsamkeit, das Einssein mit dem Gott, zum Zweck und Inhalt seines Dienstes. Hier läuft der Prozeß, aus dem der Gott hervorgegangen ist, wieder zurück in die Seele seines Schöpfers, der Seher saugt sein Gesicht ein, um in ihm, in dieser von ihm selbst geschaffenen Person, nicht mehr in seiner eigenen, zu handeln und zu fühlen. Hier ist, wie bekannt, der Ursprung des Dramas, des dramatischen Mitgefühls: anfänglich bakchisches Einssein mit einer einzigen Figur, der des leidenden und siegenden Dionysos, wird es durch Äschylus zum Einssein mit zwei oder mehr Figuren, die in einer einzigen Seele miteinander ringen. Dieses dionysische Einssein mit einer fremden, handelnden, leidenden oder siegenden Figur ist bis heute noch der eigentliche Kern des Dramatischen: der dramatische Genuß ist eine Form der dämonischen »Besessenheit«.

Das Einssein der Bakchen mit Dionysos ist aber nur die extreme Form des Verhältnisses des Griechen zu seinen Naturgöttern überhaupt. In einem höheren oder niedrigeren Maße erlebt er alle Naturerscheinungen durch sie dramatisch; oder richtiger umgekehrt: das dramatische Mitgefühl ist nur die höchste und verdichtetste Form des griechischen Naturgefühls. Dieses ist kein Paradox, sondern die Feststellung einer Tatsache. Der Grieche verkörperte die Naturerscheinungen in Gestalten, deren Hauptsubstanz Stimmungen waren, die er in sie hineinwarf und doch gleichzeitig in sich als Teil seiner selbst weiterfühlte. So lebte er in einer Fülle von mehr oder minder deutlichen, menschlichen oder halbmenschlichen Gestalten mit der ganzen Natur mit. In einem Sonderfall steigerte sich dieses Mitleben bis zum vollkommenen Einssein, bis zum Schwinden jeder Scheidewand zwischen ihm und dem Gott: dieser Sonderfall ist das Drama. Von der Hirtenvision unterscheidet sich dieses spätere Naturgefühl durch die Fixierung der Stimmung in einer oder mehreren bei aller Undeutlichkeit doch greifbaren Gestalten, die dadurch auch die Fähigkeit der Stimmungsänderung, der inneren seelischen Wandlung bei bleibender Einheit bekommen; so daß die Halluzination nicht mehr bloß einen Augenblick, sondern einen Abschnitt des inneren und äußeren Erlebens füllt. Aber seinem Wesen nach ist es nichts als eine Frucht, eine reife Form des visionären Verhältnisses zur Natur, das den Hirten im Widerhall seines Rufes an der Bergwand plötzlich mit panischem Schrecken die Stimme eines Gottes erkennen ließ. Von solchen Visionen führt ohne Sprung eine gerade Linie der Entwicklung zu jenem reifen griechischen Naturgefühl, dessen äußerster und konzentriertester Ausdruck das Drama ist.

 

Ich sagte schon, daß Hauptmanns Eindrücke oft Hirteneindrücken analog seien, indem auch ihm die Landschaft durch eine Stimmung oft plötzlich visionär würde. Und ihn drängt es dann, wie die Griechen, diese Stimmung, die er aus sich hinauswirft, in einer Figur, einer ihm gegenübertretenden, mehr oder minder festen Gestalt zu verkörpern. Darin unterscheidet sich sein Naturgefühl von dem modern europäischen, das auf Rousseau zurückgeht. Rousseau hat die Landschaft reingefegt von der früheren Staffage, wie sie aus Gemälden in die Zeitphantasie übergegangen war: er ersetzte die Nymphen, Schäfer, Patriarchen durch eine einzige Figur: sich selbst. Er, Rousseau, war allein zugegen in der paradiesischen Natur, die er in der ›Héloïse‹, im ›Emile‹, in den ›Confessions‹ dem europäischen Publikum mit glühender Beredsamkeit predigte. Leer standen ihm die Berge, die Täler mit ihren fließenden Gewässern, die Ufer seiner geliebten Seen gegenüber: wie für Chateaubriand, Byron, Werther, seine Jünger, war für ihn die Welt nur der Hintergrund seines Herzens, eine Wildnis als Bühne für einen Einsamen. Sie alle, er sowohl wie seine geistigen Nachkommen, sind beherrscht von dem, wodurch Amiel Chateaubriand erklärt hat: »le besoin d'être seul.« Hier ist der Ursprung des modernen Naturgefühls, dessen malerischer Ausdruck die menschenleere Landschaft von Michel, Constable, Théodore Rousseau wurde.

Zu diesem Naturgefühl steht Hauptmann in Gegensatz. Ihm belebt sich die Landschaft wie von selbst mit Figuren. Er unterscheidet sich von Rousseau wie ein leidenschaftlich Musikalischer von einem mit halbem Ohr Hinhörenden. Diesen isoliert Musik bloß; und läßt ihn dann in dieser künstlichen Einsamkeit mit sich allein: sie facht bloß seine eigenen Gedanken an. Jenen benimmt sie ganz: er vergißt sich selber, er verwandelt sich durch sie aus sich heraus in neue Formen, er wird ein anderer, er lebt Leben, die er ohne sie nicht geahnt hätte. So verschieden wie diese zwei Wirkungen der Musik sind die Wirkungen der Natur auf Hauptmann und auf Rousseau. Rousseau und seine Jünger, die Romantiker, liebten die Natur, aber nicht tief, nicht von ganzem Herzen; sie ließen sich von ihr isolieren, aber nicht ausfüllen: die Schönheit der Welt rief bei ihnen wie Musik bei einem lauen Hörer eine Hypertrophie ihres Ichs hervor. Hauptmann im Gegenteil erlebt durch die Natur, was ein vollkommen Musikalischer durch Musik erlebt: Verzauberung, innere Verwandlung aus sich heraus in andere Gestalten; und diese stellt er dann aus sich heraus in die Landschaft wie Visionen. Hauptmanns höchste Augenblicke vor der Natur sind nicht die, wo er sich in ihr allein fühlt: wo sie wie ein Tempel für sein Ich leersteht; sondern die, wo seine Seele in jenem »luziden Zustand«, den er häufiger in diesem Buche schildert, mit ihr Gestalten zeugt, die zugleich er selbst und doch wieder Fremde sind: er, Hauptmann, durch ihren Inhalt, ihre Stimmung, Fremde durch ihre Form, die ihnen eine scheinbar eigene, selbständige Beziehung zu Zeit und Welt gibt.

Diese Gestalten, in denen das Fieber des Naturgenusses bei Hauptmann gipfelt, sind also gleichzeitig scheinhaft und real: scheinhaft durch ihre scheinhaften Beziehungen zur Umwelt, real aber durch ihre Substanz, die Gefühle, die aus Hauptmann in sie hinüberfließen. Hauptmann sieht sie nicht bloß von außen wie Gesichte, sondern steckt zugleich in ihnen drinnen wie ihre Seele; er erlebt sie von dieser inneren Seite aus genau so, wie er sich selbst erlebt: »und dieses Erleben wird so durchaus eine Realität«, sagt er selber, »daß irgend etwas so Genanntes für mich mehr Realität nicht sein könnte.« Diese Wirklichkeit unterscheidet Hauptmanns Gestalten von Erfindungen wie die Heines in den ›Nordseebildern‹, die ganz und gar bloß Schein, bloß Kulisse für die einzige Heinesche Realität, sein Ich sind. Sie verbindet sie dagegen mit ähnlichen Visionen bei Hofmannsthal, wo ebenfalls das Naturgefühl Gestalten hervortreibt, die äußerlich wie Erscheinungen traumhaft und fremd wirken, innerlich aber »mit einer sanft und jäh steigenden Flut göttlichen Gefühls bis an den Rand gefüllt« Teile des Sehenden selbst, und als solche real sind; ich verweise auf den ›Brief des Philip Chandos‹ oder auf die Rede des ›Fremden‹ im ›Kleinen Welttheater‹. Dieses Hinüberfließen der eigenen Persönlichkeit in die Gestalten verbindet aber Hauptmanns Naturvisionen auch vor allem mit den griechischen Naturgöttern, den Baum- und Fluß- und Quellgöttern, den Heroen bestimmter Bezirke, mit Demeter, mit Dionysos. Von einer visionären Phantasie ausgehend kommt Hauptmann wie die Griechen zu einem mythischen Naturgefühl, das in äußerlich scheinhaften, innerlich mit dem Fühlenden identischen und insofern realen Gestalten sich verkörpert.

Dieser Weg führt Hauptmann dann ebenso wie die Griechen weiter zum Drama. Denn das Wesen des Dramatischen ist das Miterleben, das Drinnenstecken in Visionen, sofern diese nur bewegt sind. Und von der ruhenden zur bewegten, handelnden Vision führt Hauptmann, allerdings nicht der Mythus wie die Griechen, aber mit innerer Notwendigkeit seine Phantasie, jene besondere Art von Phantasie, wie sie Goethe in den ›Wahlverwandtschaften‹ bei Ottilie schildert: »Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte ... sah sie Eduarden ganz deutlich ... stehend, gehend, liegend, ruhend. Die Gestalt bis aufs kleinste ausgemalt bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie das Mindeste dazu tat, ohne daß sie wollte oder die Einbildungskraft anstrengte.« Diese Bewegung leiht eine so geartete Phantasie natürlich nicht bloß dem Äußeren, sondern auch dem Innern der Seele der Erscheinung. Und wenn diese Seele, wie bei Hauptmanns Visionen, das eigene Gefühl des Visionärs, ein Teil seiner selbst, sein eigenes Ich ist, so wird die Beweglichkeit der Gestalt für ihn zu einem Mitleben, Mitfühlen, zu jenem Einssein mit einer fremden lebenden und handelnden Figur, das, wie gesagt, die eigentliche Wurzel des Dramas ist. Wenn Hauptmanns Naturgefühl visionär ist, so ist mit andren Worten Hauptmanns Drama, wie das griechische, nichts als eine Verdichtung seines Naturgefühls, ein intensiveres Erleben und Inbewegungsetzen der Gestalten, die sein Naturgefühl, ähnlich den griechischen Naturgöttern, aus ihm hervorlockt.

Allerdings muß man den Begriff Natur hier über seinen gewöhnlichen Inhalt hinaus erweitern. Wie die Griechen zur Landschaft, als sie ihre Naturgötter schufen, verhält sich Hauptmann zur Gesamtheit aller Erscheinungen und Kräfte, die die Welt ausmachen, einerlei ob sie draußen in der Landschaft oder drinnen in den Seelen hausen: alle vermögen ihn in jenen »luziden Zustand« zu versetzen, in dem seine Seele wie von einer geheimnisvollen Musik verwandelt Gestalten annimmt, die äußerlich fremd, innerlich er selbst, sein eigenes fieberhaftes Fühlen sind. Bald ist es wie bei den griechischen Naturgöttern wirklich die Landschaft, die diese Gestalten mit seiner Phantasie zeugt: so die schwere, langsam reifende, goldene deutsche Feldfrucht, die Griselda, die in der Tat eine echte bäuerische schlesische Demeter ist. Bald schafft den Spuk etwas ganz anderes, wie in den ›Webern‹ der Eindruck des modernen Großbetriebs die dämonische Gestalt der »Menge«, in die Hauptmann, wie in irgendein vielarmiges, vieläugiges, vielmäuliges vorzeitliches Ungeheuer, einem Bakchen gleich hineinschlüpft, um aus ihr zu sich zu reden, sich anzuklagen, sich zu ängstigen, und mit ihr zu leiden, zu hungern, zu rasen, zu verzweifeln. – Am häufigsten jedoch steigern Hauptmanns Fieber bis zur Vision die unfaßbaren, problematischen Dinge und Kräfte, auf die wir Worte wie Milieu oder Vererbung anwenden. Und diese gehören zur Natur im vorher bezeichneten, tieferen Sinne; und Hauptmanns Verhältnis zu ihnen ist nicht anders als zur deutschen Ackerkrume, wenn sie ihm die Vision der Griselda gab, oder zum griechischen Gebirge, wenn es im Seitental am Parnaß den Hirtengott wie eine leibliche Erscheinung vor ihm heraufbeschwor. Auch jene dunklen Kräfte und Dinge wirken auf ihn wie eine ungeheure, dumpfe, verwandelnde Musik, die seine Seele magisch in Gestalten wie die der Familie Krause in seinem Erstlingsdrama ›Vor Sonnenaufgang‹, oder die der Familie Scholz im ›Friedensfest‹ hineintreibt.

Inwiefern diese Gestalten dramatisch sind, habe ich gesagt: nämlich weil sie sich von innen zeigen, weil Hauptmann in sie hineinschlüpft, weil er in ihnen, als seien sie er und er sie, mithandelt, mitlebt, mitfühlt. Aber gegenüber anderen dramatischen Konzeptionen haben sie allerdings eine sehr besondere Eigenart. Den Punkt, wo sie von denen der griechischen Tragödie abweichen, habe ich angedeutet. Der Mythus bot dem griechischen Tragiker den Heros oder Gott gleich im Rahmen einer Fabel dar. Die Schicksale des Gottes oder Helden gehörten wesentlich mit zur dramatischen Konzeption: sie waren das, was in erster Linie Mitgefühl mit ihm weckte. Dieses Mitgefühl war allerdings schon an sich, ohne die Fabel vorhanden; ja, in Wirklichkeit war der Gott nur ein Ausfluß des Gefühls, der Stimmung, die später in der Liturgie und Tragödie als Mitgefühl mit ihm gedeutet wurde. Aber der Mythus steigerte diese primitive Stimmung so, daß sie jetzt erst den Gläubigen mit dem Gott ganz vereinigte, den Gott zur dramatischen Gestalt, seine Liturgie zum Drama machte. – Noch bedeutender ist die Rolle der Fabel natürlich im modernen Drama, etwa bei Shakespeare. Shakespeares Konzeption ist im Anfang nichts als eine Fabel, ein Dramenstoff, den er sich zurechtlegt und in den er dann Figuren hineinbildet. Ein Interesse, sein Mitgefühl mit seinen Gestalten entsteht aus ihren Schicksalen; ihre Schicksale sind es, die ihm ihr Inneres aufschließen, die ihn in sie hineintreiben, die seine Seele mit der ihren einsmachen: die Wurzel der dramatischen Konzeption im Drama seit der Renaissance ist die Fabel. Bei Hauptmann ist es dagegen die Stimmung, eine Gemütsbewegung, die sich in einer Gestalt verkörpert; und als Untergrund dieser Stimmung das Stück Natur oder Welt, das sie erzeugt hat, und ohne das sie ebensowenig denkbar ist wie die Gestalt eines Lear oder Hamlet ohne die Fabel, aus der sie hervorwächst. Deshalb ist bei Hauptmann diese Stimmung von derselben Wichtigkeit wie die Fabel bei Shakespeare, und die Klarheit des Zusammenhanges zwischen Gestalt und Stimmung von derselben Wichtigkeit wie die Klarheit des Zusammenhanges zwischen Figur und Fabel bei Shakespeare. Die Fabel aber rückt bei Hauptmann in die zweite Linie; die dramatische Verwicklung ist Nebensache. Nicht die Figuren sind der Fabel dienstbar, sondern den Figuren dient die Fabel.

Insofern nähert sich Hauptmann dem Charakterstück, dem Stück, in dem die Fabel der Darstellung eines menschlichen Charakters oder Typus dient, dem Tartuffe oder Borkmann. Er hat ja auch verschiedentlich, im ›Crampton‹, im ›Fuhrmann Henschel‹, in der ›Rose Bernd‹, Stücke geschrieben, die aussehen wie Charakterstücke. Nur merkt man, wenn man näher hinblickt, daß es nicht wirklich der Charakter ist, der ihn fesselt, sondern auch hier jedesmal ein Gefühlsverhältnis zwischen sich und der Welt, das in der Figur verkörpert ist. Die Figur interessiert und erregt ihn nicht direkt, nicht um ihrer selbst willen wie Tartuffe Molière oder Borkmann Ibsen, sondern nur indirekt, um der Stimmung willen, die in ihr ein Gesicht bekommt. Der Charakter ist für Hauptmann ebensowenig Hauptsache wie die Fabel. Auch hierfür bietet die ›Griechische Reise‹ genug Beispiele; ich verweise nur auf die Art, wie das Interesse an der Gestalt des Eumäus eingeleitet und begründet wird, oder wie Hauptmann seinen Telemach in Korfu beginnt: »weniger um etwas zu schaffen als vielmehr um mich ganz einzuschließen in die Homerische Welt«, d. h. in die Stimmung dieser Welt, in die Gefühle, die sie hier in Verbindung mit der griechischen Natur in ihm auslöst.

Dieser Ursprung des dramatischen Interesses bei Hauptmann macht die Form, in der aus seinen Konzeptionen bühnenwirksame Kunstwerke werden können, zum Problem; denn keine der überlieferten Formen des Dramas ist für Konzeptionen geschaffen, in denen weder Handlung noch Charakter die dramatische Anteilnahme in erster Linie wachrufen, sondern eine Stimmung, die die Figuren verkörpern. Am nächsten kommt von älteren Kunstformen dem Erfordernis, das dramatische Interesse auf Stimmungen zu begründen, natürlich die griechische Tragödie und vor allem das frühe Äschyleische Drama in Stücken wie den ›Sieben gegen Theben‹ oder den ›Schutzflehenden‹, wo ebenfalls weder Handlung noch Charakter eigentlich im Mittelpunkt stehen, sondern gewisse liturgische Gefühle gegen einen Gott oder Helden, die von Chören erweckt werden. In der Tat greift Hauptmann, um die Stimmungen, die er nötig hat, zu verwirklichen, zu Szenen, die mit den Chorteilen in der griechischen Tragödie eine große Ähnlichkeit haben, zu Auftritten, in welchen die Handlung vollkommen ruht, die Worte und Vorgänge auf der Bühne ausschließlich dazu da sind, um den Zuschauer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen. Ich will nur zwei der allerschönsten anführen: die Szene zwischen Florian Geyer und Marei in der Herberge zu Rothenburg, und die Schlußszene von ›Michael Kramer‹: namentlich diese hat ganz den Inhalt eines antiken Chorgesanges, in den man sie ohne große Änderungen, fast bloß durch Übersetzen ihres Textes in griechische Verse, verwandeln könnte.

Wie etwa Äschylus bei den ›Persern‹ muß daher Hauptmann beim Aufbau seiner Stücke die Absicht leiten, die Grundstimmung immer wieder neu zu beleuchten und allmählich von Stufe zu Stufe zu steigern. Denn von dieser Grundstimmung aus kommt Hauptmann in die Gestalten hinein, von ihr aus muß er ebenso das Mitgefühl des Zuschauers anfeuern. Je deutlicher und stärker dieser Unterton wird, um so dramatischer wirken deshalb die Figuren, um so heller leuchtet ihr Inneres, um so unwiderstehlicher reißen sie den Zuschauer in sich hinein. In der Tat sind Hauptmanns packendste Stücke die, wo alles rücksichtslos der Stimmung geopfert ist, wie ›Hannele‹, ›Die Weber‹, ›Elga‹. Folgerichtig tritt bei Hauptmann an die Stelle der Katastrophe als dramatischer Höhepunkt immer der, wo die Stimmung sich am mächtigsten mitteilt. Man sieht das deutlich, wenn einmal die Katastrophe und der stärkste Stimmungsaugenblick auseinanderfallen; wie im ›Florian Geyer‹, in dem unbedingt der dramatische Höhepunkt nicht der Tod von Geyer, sondern der der Nebenfigur Tellermann ist, weil hier der Unterton des Stückes am ergreifendsten hervorklingt.

Daraus ergibt sich ein neues Prinzip der Einheit: statt der Einheit der Handlung oder des Charakters die Einheit der Stimmung. Denn Hauptmanns Konzeption verwirklicht sich, indem die Stimmung, der die Konzeption selbst entsprungen ist, weiter fruchtbar bleibt und Bewegung und Details eines Stückes hervorbringt. In ›Hannele‹ und ›Elga‹ hat Hauptmann selbst gezeigt, wie sich dieser Vorgang abspielt: wie aus einer einzigen Gefühlserschütterung eine Reihe von Visionen hervorgeht. Die Einheit, die dadurch entsteht, daß diese Erscheinungen alle in einer und derselben Stimmung wurzeln, ist stark genug, ein in Handlung und Charakteren so lose gebautes Stück wie die ›Weber‹ machtvoll dramatisch zusammenzuschweißen. In einem solchen Stück, – und in Wirklichkeit stehen alle Hauptmann-Stücke in diesem Verhältnis zu einer Grundstimmung, – schafft dieselbe visionäre Gefühlsfarbe, die die Grundkonzeption geboren hat, alle Einzelszenen und Personen: alle sind nur sozusagen verschiedene Gesichter, verschiedene Facetten des einen Gefühlserlebnisses, das Hauptmann mit irgendeinem Stück Natur oder Welt begegnet ist. Das Drama ist, mit anderen Worten, eine Einheit, weil es nur das in vielen Spiegeln gesehene eine erste Gefühlserlebnis ist.

Die Gemeinsamkeit der Substanz mehrerer Figuren wird so zu Hauptmanns wichtigstem dramatischen Kunstmittel, das Verschwimmen ihrer Umrisse ineinander zu einer dramatischen Notwendigkeit. Scharfumrissene Figuren, die keinen Anteil an der Stimmungsatmosphäre hätten, wären bei ihm undramatisch, weil die Einheit, und deshalb die dramatische Wirkung, auf dem Anteil der Figuren an der Stimmung begründet ist. Wir haben ja überhaupt unseren Begriff der Seele geändert; sie erscheint uns nicht mehr wie eine fest abgeschlossene Entität, sondern eher wie ein durchlässiges Gefäß, durch dessen Wandungen, je nachdem sie mehr oder weniger dicht sind, allerlei Substanzen und Tendenzen hin und her wechseln. Was heute in dieser Seele ist, ist morgen in jener. Der Massenseele sind wir oft sicherer als der Einzelseele. Diese Anschauung kommt Hauptmann entgegen: sie erleichtert ihm seine Technik; und umgekehrt ist es seine Kunst, die uns das bisher beste Bild von Massenseelen gegeben hat, nicht bloß in den ›Webern‹ und im ›Florian Geyer‹, sondern überhaupt in fast allen seinen Stücken. Hauptmanns eigentliches psychologisches Problem ist die Grenze zwischen Massenseele und Charakter; es mußte sich ihm aus der Art seiner Phantasie, aus der Form seiner Konzeptionen aufdrängen, selbst wenn es ihn nicht sonst beschäftigt hätte. Hofmannsthal hat er einmal in ein Buch geschrieben: »Individuum est ineffabile«; wobei ihm, wie man vermuten darf, gerade dieses Problem vorschwebte.

Die äußere Grenze zwischen Mensch und Menge, zwischen Mensch und Mensch zieht Hauptmann durch die Sprache. Sie ist die Haut, die für seine Phantasie den Menschen abschließt: das, für Hauptmann wenigstens, zunächst faßbare Eigene und Einzige an jedermann, wie es für einen Maler oder Bildhauer die Gesichtszüge, die äußeren Formen sind. Diese Funktion des Abgrenzens ist, was der Sprache bei Hauptmann ihre besondere dramatische Bedeutung gibt. In der Griechischen Reise bemerkt er einmal, daß »im Drama eine Gestalt nur durch das, was sie von den übrigen unterscheidend absetzt, bestehen kann«; und der Steckbrief, den er seinen Figuren mitgibt, ist ihre Sprache. Seine Menschen unterscheiden sich von einander wie ein Russe und ein Spanier. Jede Figur spricht anders, nicht nur inhaltlich, sondern was den Wortschatz, den Rhythmus, den Stimmklang, den Tonfall anbelangt; der Dialekt ist nur das eine, das gröbste Mittel seiner Kunst, das er aber leicht entbehren kann, wie einige seiner geschlossensten Gestalten, Wilhelm Scholz im ›Friedensfest‹, Johannes Vockerat, der alte Kramer beweisen. Ich zweifle, ob überhaupt jemand seit Schiller mit solcher Meisterschaft alle Register der deutschen Prosa beherrscht hat wie Hauptmann. Sie ist in seinen Händen wie Wachs; sie fügt sich den zartesten Schwebungen des Gefühls, sie modelliert eine Gestalt mit derselben Feinheit und Sicherheit wie die Plastik von Rodin. Durch ihre Sprache unterscheiden sich die Figuren von Hauptmann von denen Hebbels wie die Figuren von Rodin etwa von denen von Rude. Und auch noch in einer anderen Hinsicht erinnert Hauptmanns Sprachmodelé an das plastische von Rodin: nämlich darin, daß es gerade durch seine Feinheit und Präzision den Umriß wieder aufhebt, die Gestalt mit der Atmosphäre verschwistert; nicht indem es sie auflöst, sondern im Gegenteil, indem es sie gerade dank der Exaktheit und Mannigfaltigkeit der Umrisse wie etwas Natürliches in die Atmosphäre hineinstellt, ihr die Wärme und Beweglichkeit des Lebens gibt. In dieser fast ungreifbaren, aber festen Umrissenheit trotz enger Gemeinsamkeit mit einander sind Gestalten wie die um Florian Geyer und der Geyer selbst in der Tat am nächsten verwandt mit Rodins Gruppe der »Bürger von Calais«.

Diese Ähnlichkeit der Kunstmittel Rodins und Hauptmanns ist kein Zufall. Rodin sucht die Präzision des Umrisses aus denselben Motiven wie Hauptmann. Auch Rodin schöpft aus visionären Gemütsbewegungen. Sein ›Balzac‹ ist eine Vision, eine der gewaltigsten, die die Kunst je gestaltet hat. Sein ›Johannes der Täufer‹, seine ›Eva‹, seine ›Vieille Heaulmière‹, die Gruppen seines Höllentores sind Visionen; wie die von Hauptmann, wie die griechischen, aus einem mächtigen Mitgefühl mit der Natur geboren. Das Dämonische der Rodinschen Kunst und ihr Dramatisches kommen von diesem Unterton. Wie Hauptmann bedarf Rodin daher, je größer der Anteil des Gefühls an seiner Wirkung ist, um so mehr der Präzision der Form; einmal als Gegengewicht gegen die dionysische, auflösende Macht des Gemüts, und zum anderen, weil die größte Präzision des Umrisses auch seine größte Feinheit ist, die Gestalt am wenigsten beengt, ihr am vollkommensten ihre visionäre Qualität erhält. Denn dieses schließlich ist der letzte Punkt, wo Hauptmann und Rodin zusammentreffen: daß beide durch die Exaktheit des Modelles das Visionäre ihrer Konzeptionen wahren. Ein jeder von ihnen behandelt sein Material, Rodin den Ton, Hauptmann die Sprache so, daß die Gestalt, die er darin hinstellt, die fast übernatürliche Deutlichkeit einer Traumvision bekommt, jene Luzidität, in der jedes Detail absolut genau, doch ohne jede Schwere, wie aufgelöst in die Angst, oder die Schwermut oder die Seligkeit des Traumes vor der Seele schwebt. Während die sogenannten Idealgestalten in ihrem toten Material die Erdenschwere nie abschütteln, heben sich Rodins ›Age d' airain‹, Hauptmanns ›Jau‹ gerade durch ihren, wie man sagt, krassen Naturalismus über die Wirklichkeit hinaus in jene Sphäre des Traumes, die jenseits aller Zeit und Kümmernis die Heimat der Kunst ist.

Wenn die Sprache die Haut dramatischer Figuren ist, so sind ihre Handlungen und Antriebe ihre Knochen, ihre Muskeln. Aber nur soweit sie das Gepräge des Charakters tragen. Es gibt so viele Handlungen, die eigentlich niemandes Handlungen sind; die Massenseele dringt so tief in die Einzelseele ein. Auch hier, im Innern der Seele, gilt es daher Grenzen ziehen, das Eigene vom Allgemeinen sondern, die Figur mit innerem Kontur durchleuchten. Dabei muß aber Hauptmann, der Entstehung seiner Figuren gemäß, sozusagen umgekehrt vorgehen wie Dramatiker, deren Grundkonzeption eine Handlung oder ein Charakter ist. Denn diese verfolgen das Eigene, den Charakter, bis an die Grenze, wo das Allgemeine oder Fremde anfängt; Hauptmann dagegen, dessen Phantasie vom Gemeinsamen, von der Stimmung geleitet wird, kommt zu den inneren Umrissen einer Figur, indem er vom Allgemeinen aus bis dahin vordringt, wo es auf den Widerstand des Charakters stößt. Seine Darstellung verhält sich zu der anderer Dramatiker also wie ein photographisches Negativ zu einem Positiv. Er zeichnet einen Charakter durch das, was er ablehnt, mehr als durch das, was er tut. Was wir in Hauptmanns Figuren miterleben, ist der Kampf des Allgemeinen mit dem Eigenen vom Standpunkt des Allgemeinen aus. Diese merkwürdige Perspektive unterscheidet Figuren wie Johannes Vockerat oder Rose Bernd von Hebbels Klara oder Ibsens Pastor Rosmer. Allerdings ist hier aber auch der Punkt, wo für Hauptmann die Gefahr des Undramatischen eintritt: nämlich wenn das, was Mitgefühl mit einer Figur erregen soll, etwas ganz und gar Individuelles ist. Denn in das innerste Heiligtum der Seele führt dieser Weg nicht, sondern nur in ihren Vorhof; und die Momente, wo ein Genieblitz doch durch die Mauer durchschlägt und eine Seele bis in ihre hintersten Winkel erleuchtet, wie Oginskis: »Ich habe gelebt!« in ›Elga‹ – sind naturgemäß selten. Aber wo das Tragische in dem liegt, was in eine Seele eindringt, ist andererseits zweifellos diese neue, bis auf Hauptmann unerhörte Perspektive wirkungsvoller als die andere. Deshalb ist Hauptmanns Rose Bernd lebensvoller, wärmer, menschlicher, sogar dramatischer als Hebbels Klara: eben aus dem angegebenen Grunde, weil das, was uns bei Klara und Rose Bernd erschüttert, nicht die Individualität der Mädchen, sondern die furchtbare Gewalt der in sie eindringenden, in ihrer Seele rasenden, sie niederstreckenden sozialen Mächte ist.

So kleidet sich in diese fremden Mächte, die die Seele füllen, bei Hauptmann zugleich das Schicksal. Was sein visionäres schöpferisches Gefühlsverhältnis zur Welt hervorruft, ist die Sicherheit, daß jedes Stück Natur oder Welt ein Schicksal ist; daß seine Kräfte wie Arme sich polypenartig nach dem Menschen ausstrecken, ihn ergreifen, in ihn eindringen, ihn vernichten können, daß aber gleichzeitig diese selben Kräfte fruchtbar in anderen Menschen emporsprießen, sie mit Glanz und Freude füllen, sie erheben, in ihnen zum Reichtum und Segen der Erde werden. Diese Vorstellung vom Schicksal ist natürlich sehr verschieden von der, die sonst das Drama seit der Renaissance leitet: die Individualität ist da ihr eigenes Schicksal, die fremden Mächte, wie die Hexen in ›Macbeth‹, der Geist in ›Hamlet‹ lösen dieses Schicksal, das im Charakter liegt, bloß aus. Aber dasselbe Bild wie Hauptmann vom Schicksal zeigt die antike Tragödie. Der Grieche sah, wie ich sagte, im Handeln des Menschen eigentlich ein Handeln von Dämonen durch den Menschen. Das Schicksal war der Inbegriff dieser durch die lichten Götter des Olymps zurückgedrängten, von ihnen in Zaum gehaltenen, aber immer noch in der Seele übermächtigen Dämonen. Es war der Rest, der ungestaltete, formlose Rest der alten Nacht, ohne andere Attribute als Dunkelheit und Gewalt, ein einziges, ungeteiltes, ungeformtes Mächtechaos. Deshalb kennt die antike Tragödie bloß ein Schicksal: das Schicksal; während das moderne Drama, in dem jede Figur ihr eigenes Schicksal in der Brust trägt, aus vielen verschlungenen, einander stützenden, einander befehdenden Einzelschicksalen aufgebaut ist. Man kann in dieser Hinsicht die antike Tragödie mit dem antiken Tempel vergleichen, wo Alles nur in einer Richtung drückt und lastet, während im modernen Drama wie im gotischen Dom zahllose Kräfte in allen Richtungen durcheinanderstreben. Die Schwierigkeit, die dem Drama die antike Schicksalsanschauung bietet, daß die Figuren nicht eigentlich miteinander sondern alle mit einer einzigen übermächtigen Kraft ringen, hat bekanntlich zu allerlei gewaltsamen Lösungen geführt, um den Knoten zu schürzen oder wieder zu entwirren: Orakelsprüchen, Prophezeiungen, Göttern ex machina. Aber ganz haben die Griechen diese Schwierigkeit nie überwunden; ihrem Drama hat bis zuletzt die dem Schicksal gleichwertige, gleich starke Kontrastkraft zur Erzeugung eines sich selber genügenden Kräftespiels gefehlt. Hauptmann dagegen hat nach meiner Ansicht den Weg zur Lösung dieser Schwierigkeit frei, einen Weg, der in seinem wunderbaren Helios-Fragment angedeutet ist. Dort verschlingen sich zwei Welten, zwei Schicksalsströmungen aus verschiedenen Weltenecken, zwei Visionen, beide von derselben Kraft des Gefühls getragen, beide mit derselben Deutlichkeit geschaut. Hier würde, wenn er dieses Fragment oder etwas Ähnliches zu Ende führte, das entstehen, was die neuen, von ihm ausgebildeten Kunstmittel als Vollendung erwarten lassen: ein Schauspiel, das die visionäre Kraft des antiken Dramas mit dem kunstvollen, in sich selber ruhenden Kräftespiel des modernen vereinigte.

 

Daß die Mächte, die die Seele brechen, gleichzeitig die sind, die sie aufrichten, und umgekehrt, daß die Gewalten, die sie emportragen, dieselben sind wie die, welche sie in die Tiefe stürzen, ist eine Weltanschauung, die bald ihre helle, bald ihre düstere Seite hervorkehrt: an sich ist sie weder weltbejahend noch weltverneinend; nur gibt der Kontrast, der in ihr enthalten ist, sowohl der Weltverneinung, wo sie vorherrscht, wie der Weltbejahung, wenn sie siegt, das größtmögliche Pathos, die leidenschaftliche Energie. Deshalb war das griechische Altertum zugleich das heiterste und das tragischste aller Zeitalter. –

Hauptmann hat den Wert des Lebens, soweit sich etwas aus den Farben, in denen er es schildert, schließen läßt, in seinen frühen Dramen eher verneint als bejaht. Kaum ein Schimmer von Lebensfreude fällt in Werke wie ›Vor Sonnenaufgang‹ das ›Friedensfest‹, ›Einsame Menschen‹. Jetzt dagegen, in diesem Griechenbuch, tritt er mit der leidenschaftlichsten Begeisterung für das Leben ein. Was zwischen jenen ersten und diesem letzten oder vorletzten Werk liegt, ist die allmähliche Entdeckung der Heiterkeit, deren Sinn und Wert sich Hauptmann erschlossen haben; nicht des Komischen, sondern der Heiterkeit, des Glücksgefühls, das den Menschen überkommt, wenn sein Organismus, sein geistiger und physischer, mit einem Übermaß von Kraft arbeitet, und Leben dadurch für ihn zu einer Art von Spiel oder Tanz wird. Da es nur auf das Übermaß von Kraft, nicht auf den Inhalt des Erlebten ankommt, so kann der an den Marterpfahl gebundene Indianer heiter sein; der sterbende, blinde, geächtete Ödipus ist heiter: in diesem und in keinem anderen Sinne waren überhaupt die Griechen heiter. Was das Leben rechtfertigt, sind für Hauptmann die Momente überschwenglicher geistiger und physischer Kraft, die als Heiterkeit empfunden werden. »Als höchste menschliche Lebensform erscheint mir die Heiterkeit«, sagt er selbst in diesem Buch.

Dieses Glücksgefühl der sieghaften Kraft erlebt der Mensch nicht nur an sich, er denkt es auch aus sich heraus, hinein in die Natur; auch die Naturmächte scheinen ihm, wo er Blühen und Gedeihen, Wachstum und Fruchtbarkeit oder auch nur, wie im Wellengetümmel, irgendeinen Überschwang der Kraft sieht, heiter; und diese Augenblicke des Naturglücks erlebt er dann dramatisch mit, als wäre es seine eigene Kraft, die er spürte. Nirgendwo ist das schöner ausgedrückt als in diesem Buch: »Von gestern zu heut sind die Baumwipfel grün geworden im lauen Regen. Die Luft ist feucht. Der Garten, in den ich eintrete, braust laut. Der Garten der Kirke, wie ich den Garten des Königs jetzt lieber nenne, braust laut und melodisch und voll. Düfte von zahllosen Blüten dringen durch dunkle, rauschende Laubgänge und strömen um mich mit der bewegten Luft ... Der Webstuhl der Kirke braust wie Orgeln: Choräle, endlos und feierlich. Und während die Göttin webt, die Zauberin, bedeckt sich die Erde mit bunten Teppichen. Aus grünen Wipfeln brechen die Blüten; gelb, weiß und rot, wie Blut. Das zarteste der Schönheit entsteht ringsum. Millionen kleinere Blumen trinken den Klang und wachsen in ihm. Himmelhohe Zypressen wiegen die schwarzen Wedel ehrwürdig. Der gewaltige Eukalyptus, an dem ich stehe, scheint zu schaudern vor Wonne im Ansturm des vollen, erneuten Lebenshauchs.« So wird durch ihren Kraftüberschwang die Welt im ganzen zu etwas Beglückendem. Das Schauspiel der siegenden Naturmächte gibt uns durch eine Art von Widerhall die Heiterkeit, die wir in sie hineinfühlen, zu unserem Gebrauch zurück. Wir genießen die Welt als etwas im ganzen Wünschenswertes, weil sie durch die Schauspiele, die sie uns erleben läßt, unser Machtgefühl, unsere Heiterkeit steigert.

So wird durch das Einfühlen von Heiterkeit in das Kräftespiel jene vorhin skizzierte Weltanschauung, die überall ein Spiel gleichzeitig grausamer und gütiger Naturmächte sieht, weltbejahend: denn überall gibt es Sieg; und Untergang und Tod sind immer nur die Vorbedingungen irgendeines neuen Lebens. Der Mord (in der Tragödie), sagt Hauptmann in diesem Buch, ist »jene Schuld des Lebens, ohne die sich das Leben nicht fortsetzt«; »Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung, Haß und Liebe als Lebenswut«. Das Tragische wird durch die Heiterkeit umgewertet: Tragödie und Komödie haben, wie Hauptmann sagt, das gleiche Stoffgebiet. Man denkt an die Umwertungen tragischer Stoffe durch Wedekind und Shaw.

Doch die Vorbedingung dieser Bejahung der Welt und ihrer Tragik ist die Kraft: die Kraft, aus der die Heiterkeit hervorgeht. Und die enge Verkettung von Tod und Leben, Sieg und Untergang zwingt den Menschen, dieses Mittel, durch das er das Grauen vor dem Furchtbaren der Natur überwindet, mit Leidenschaft zu verfolgen. Kraft, physische, geistige, moralische, wird so, als Quelle der Heiterkeit, zum eigentlichen Zweck des Lebens. Das Leben hat wieder einen Zweck; es hat für jeden Einzelnen den Zweck, daß er physisch und seelisch kräftig werde, damit er zur Welt mit Heiterkeit Ja sage.

Das Bedeutsamste an dieser Wendung, die natürlich Nietzsche nahe steht, scheint mir, daß mit einem festen Lebenszweck auch sofort das Fundament für eine Kultur da ist; denn Kultur ist nur die Summe aller Mittel, die einen angenommenen Zweck des Lebens möglichst vollkommen erfüllen. Die Barbarei oder das Kulturchaos seit drei Jahrhunderten kommt vom Fehlen eines Lebenszwecks, nachdem die Kraft des Christentums gebrochen ist. Wir kennen seitdem nur noch lauter Mittel, um zu leben, aber nicht mehr irgendeinen wirklichen Zweck des Lebens. Das Geld, das mächtigste Hilfsmittel, der elendeste Zweck, den das Leben haben kann, ja, als Zweck des Lebens nur denkbar in einer tragischen Groteske wie Molières ›Geizigem‹, ist das beredteste Symbol dieses Zeitalters. Wenn unsere Zeit vielleicht Aussicht hat, eine neue Epoche der Kultur einzuleiten, so beruht diese Hoffnung ausschließlich darauf, daß wir wieder anfangen, einen wirklichen Zweck des Lebens zu erkennen; nämlich Heiterkeit, und als Vorbedingung dieser Heiterkeit die höchstmögliche physische und seelische Kraft.

So kommt auch Hauptmann denn von diesem Standpunkt aus zu einem festen Begriff von Kultur: als »einer fleischlichen Bildung zu kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft freier Menschlichkeit«. Sein Vorbild dabei sind natürlich die Griechen; und man versteht daher, was er meint, wenn er sagt, daß das Griechentum »zwar begraben doch nicht gestorben sei«, und daß, wenn man erst alle die Schmutzschichten, unter denen es begraben liegt, erkennen würde, »dann auch vielleicht für das lebendige Griechenerbe die große Stunde der Ausgrabung kommen würde«. – Zunächst ist ihm Kultur, da ihr Ziel Heiterkeit und Kraft ist, daher eine »fleischliche Bildung«; denn körperliche Kraft ist die Unterlage jeder anderen. Am überraschendsten dabei ist gewiß für unsere gemeinen Vorurteile, daß er in diesem Zusammenhange auch den spartanischen Züchtungsgedanken wieder aufnimmt, die Hirtenweisheit, die sich bei der Paarung von einer sorgfältigen und bewußten Schätzung des zu erwartenden Produkts leiten läßt. Doch wenn man die Prämisse zugibt, daß zur Erreichung des höchsten Lebenszweckes auch körperliche Kraft nötig ist, so wird man diese Folgerung, oder mindestens den Wunsch nach einem starken Einfluß des Züchterstandpunktes bei der Gattenwahl kaum ablehnen können; auch ist nicht einzusehen, inwiefern dieser Züchterstandpunkt »unmoralischer« oder drolliger sein soll als der sentimentale oder gar der Geldbeutelstandpunkt, die jetzt bei uns die Wahl bestimmen. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß Hauptmanns Antipode, der Ultrareaktionär und Nationalist Barrès in seinem Buch über Griechenland gerade nur in diesem einen Punkt mit Hauptmann zusammentrifft, daß er dem lykurgischen Züchtungsgedanken auch für unsere Zeit wieder Wert zuspricht. Und ich für meinen Teil stehe nicht an zu erklären, daß mir Staatspreise für gutgezogene menschliche Produkte mindestens ebenso rationell erscheinen wie für gutgezogene Hammel oder Hühner. – Die andere Seite der »fleischlichen Bildung«, in der die Kultur, insofern sie Kraft und Heiterkeit bezweckt, wurzeln muß, ist dann die Erziehung des gutgezogenen Körpers zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten, und zwar durch Spiel und Wettstreit. Hier hat unsere Zeit schon viel getan, und Hauptmann kommt einem ihrer tiefsten Instinkte entgegen, wenn er im Stadion »den herrlichsten Teil der griechischen Phantasmagorie« sieht. Von hier aus führt auch die Brücke zur geistigen Kultur. »Aus dem Grunde der Stadien sproßten, nackt, die athletischen Stämme einer göttlichen Saat des Geistes hervor«, sagt Hauptmann mit Recht von Griechenland. Geistige Kultur ist nichts als verfeinerte körperliche Kultur: Kraft und Heiterkeit der Sinne und des Willens aufgebaut auf dieselben Eigenschaften der Muskeln und des Fleisches, Vergöttlichung der Welt durch Vergöttlichung des Leibes. Das wird auch unsere Zeit lernen müssen, – und sie scheint dazu bereit zu sein, – wenn sie für eine vielleicht nahe, vielleicht auch noch ferne Zukunft die einzig heute denkbare Kultur, eine resolut diesseitige, mit Kraft und Heiterkeit als Daseinszwecken vorbereiten will.


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