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Die Kinderhölle in Berlin

(1920)

Die Bilder, die hier veröffentlicht werden, bedürfen keines Kommentars. Sie reden selbst laut und furchtbar. Sie erzählen den Untergang eines Volkes.

Hunderttausende von Deutschen, Millionen von deutschen Kindern leben heute in diesem Elend. Langsam ist es emporgekrochen: vom Lumpenproletariat zu den Arbeitslosen, von den Arbeitslosen zu den kleinen Handwerkern und Rentenempfängern, von diesen bis zu den auf mittleren Lohnstufen stehenden Arbeitern und Angestellten. Heute erreicht es schon Familien mit einem Wochenverdienst von 200 bis 250 Mark. Die Photographie Nr. 7 ist bei einem kleinen Klempnermeister aufgenommen, der einen eigenen Laden mit Lehrling hat und im Monat etwa 1000 Mark verdient; die Photographie Nr. 8 bei einer Postassistentin, die an Gehalt und Rente zusammen ebenfalls etwa 1000 Mark im Monat hat. Im Berliner Norden und Osten, am Wedding, am Gesundbrunnen, in den volkreichen Vierteln am Görlitzer und Schlesischen Bahnhof gibt es kaum ein Haus, in dem nicht mehrere solche Elendswohnungen sind, in dem nicht vielleicht die Mehrzahl der Familien nur noch krampfhaft sich am Rande dieser kalten, grauen Hölle hält.

Den Umfang dieses Elends ahnt man, wenn man hört, daß es am 15. September in Deutschland 730 000 Arbeitslose gab, und daß die Arbeitslosen heute bereits nur einen Bruchteil der in Elend verkommenden Deutschen bilden. Der Direktor des Statistischen Amts in Berlin-Schöneberg, Dr. Kuczynski, hat berechnet, daß das Existenzminimum einer Groß-Berliner Familie von vier Köpfen heute neunzehntausend Mark beträgt, und daß noch nicht 10 % der Groß-Berliner Familien über dieses Einkommen verfügen. Die nebenstehenden Bilder zeigen nicht Ausnahmefälle, sondern nur ganz schlicht, wie der größte Teil der übrigen Berliner Familien, der größere, lebt. Sie sind der sichtbare und schreckliche Kommentar zu den statistischen Berechnungen.

Die Einzelheiten dieses Schreckens sind in jedem dieser Totenhäuser des Berliner Ostens und Nordens, dieser Totenhäuser eines Volkes, die gleichen. In luftloser Enge, in viel zu wenigen Räumen viel zu viele Menschen. Daß vier oder fünf Erwachsene und Kinder durcheinander in einem Zimmer wohnen, ist fast die Regel. Ebenso, daß drei oder mehr Menschen in einem Bette schlafen. Das Mobiliar, die Tapeten, die Wände und Decken sind fast überall in einem Zustande fortgeschrittener Verwahrlosung. Die Wohnung auf Bild Nr. 6, wo die Tapete von den Wänden hängt und die Feuchtigkeit bereits einen Überzug von Schimmel und von Pilzen an der Wand gebildet hat, ist keine Ausnahme, sondern im Gegenteil: diese Verwahrlosung ist die Regel. Auf Bild 2 ist das Elend noch schlimmer, und auch diese fürchterliche Spelunke, wo Fußboden, Wände und Decke in der Auflösung begriffen scheinen, ist noch nicht das Letzte. Kaum in einer einzigen Wohnung sind alle Scheiben ganz; man sieht von außen in den langen Straßen der Arbeiterviertel ganze Reihen von Fenstern, die bloß mit Pappe oder Holz geflickt sind.

Wäsche, auch Bettwäsche, ist überall eine Seltenheit. In Betten, die für drei oder vier Kinder als Lagerstatt dienen, besteht der nackte Bezug oft nur noch aus Lumpen. Sehr bezeichnend hierfür ist die Photographie Nr. 8, die Lagerstatt der elfjährigen Tochter der Postassistentin.

Sogar die Leibwäsche fehlt in zahlreichen Fällen fast völlig. Ebenso, namentlich bei den Kindern, Schuhzeug und warme Kleidung. Die Kinder des Klempnermeisters G. auf Bild Nr. 7, die keine Wäsche, keine Socken, keine Schuhe besitzen, und von denen das kleine in der Wiege sitzende fast nackt war, sind nicht etwa Ausnahmefälle, sondern durchaus normale Berliner Erscheinungen. Es gibt Kinder, die, weil sie überhaupt keine Wäsche, keine Schuhe, keine Kleidung irgendwelcher Art besitzen, nur in Tücher gehüllt über die Straße getragen werden können!

Selten sind Handtücher und Seife. Reinlichkeit ist in den früher so peinlich sauberen Berliner Arbeiterfamilien ein Luxus geworden, um den sie mit Verzweiflung ringen müssen. Ergreifend ist, wie trotzdem fast überall dieser Kampf geführt wird, und wie über dem durchbrechenden Elend in so vielen dieser traurigen Zimmer ein falscher, schmerzlicher Schimmer früherer Sauberkeit und Behaglichkeit fortbesteht.

Mit der gleichen ermüdenden und erschütternden Eintönigkeit und mit noch fürchterlicheren Folgen wiederholt sich das Elend natürlich bei der Nahrung. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, daß mindestens drei Viertel der Berliner Bevölkerung in besorgniserregender Weise noch heute unterernährt ist, ein großer Teil noch heute physisch an Unterernährung langsam zu Grunde geht. In jeder dieser Familien bis zu 1000 Mark Monatsverdienst ist die Tageskost gleich, unterscheidet sich nur durch Abweichungen nach der negativen Seite. Morgens für Kinder und Erwachsene eine oder, wenn die Verhältnisse es erlauben, zwei Schnitten Brot trocken oder bei den besser Situierten mit etwas Marmelade oder Margarine. Dazu Kaffee-Ersatz. Mittags an der Arbeitsstätte wieder ein oder zwei »Stullen«, bestenfalls mit Margarine. Abends Kartoffeln, Weißkohl oder Mohrrüben. Fleisch nur bei den Wohlhabenderen und höchstens einmal die Woche. Ohne die Quäkerspeisung, die der einzige Lichtpunkt im Leben von tausenden und abertausenden von Berliner Familien ist, würde eine ganze Kindergeneration aufwachsen, die nie etwas anderes zur Kräftigung oder zum Genuß bekommen hätte als trocken Brot, Kaffee-Ersatz und Wassergemüse. Die Mutter auf dem Bilde Nr. 6 lebt von etwas Brot frühmorgens und den Resten der Quäkerspeisung, die abends ihre Kinder übrig lassen. Sonst hat sie wochenlang nichts zu essen. Die Kinder des Klempnermeisters (Bild Nr. 7) bekommen nicht Milch, sondern eine Art Ersatzsuppe. Auch die Familie S. (Bild Nr. 1) ist außerstande, für ihre kleinen Kinder die Milch, auf die sie Anspruch hätten, zu bezahlen. Der Vater ist schwindsüchtig und arbeitslos, die Mutter krank, alle Kinder rachitisch. Die ganze Familie ißt bloß einmal am Tage etwas Weißkohl oder Kartoffeln. Dasselbe hört man eintönig in einer Familie nach der anderen.

Und wenn es die Eltern selbst nicht sagten, so würde der grauenerregende körperliche Zustand fast aller Kinder dieses Verhungertsein zum Himmel schreien. Hier brauche ich den Bildern nichts hinzuzufügen; nur einige sachliche Angaben. Die beiden Kinder auf dem Bilde der Wöchnerin, Wally und Willy P. (Bild Nr. 4), sind acht und sieben Jahre alt, Körpergröße 90 cm, die Größe eines dreijährigen Kindes; beide haben auch erst vor wenigen Monaten laufen gelernt. Die Kinder des Klempnermeisters G. (Bild Nr. 7), sind mit gräßlichen, von der Unterernährung herrührenden skrophulösen Schwären bedeckt, auch die beiden Kleinen in der Wiege und auf dem Schoße der Mutter. Der kleine Junge auf dem Bilde Nr. 6, ein gewecktes, und trotz des Elends lustiges Kind, ist acht Jahre alt. Man würde ihn nach seiner Körpergröße auf höchstens fünf Jahre schätzen. Zu dem Bilde des kleinen Jungen (auf Abbildung 1) braucht gewiß nichts hinzugefügt zu werden. Jedoch es stellt keine Ausnahme dar; viel Schlimmeres ist bereits veröffentlicht. Gerade der Durchschnitt zeigt, bis in welche körperliche Verkommenheit, bis in welche Untermenschlichkeit eine ganze Generation Berliner und deutscher Kinder durch den Hunger verstoßen worden ist. Es gibt heute in der Charité fünfmal so viel Kinder mit Tuberkulose und Rachitis wie vor dem Kriege. Auch sind die Fälle gleichzeitig viel schwerer geworden: vor dem Kriege war die Hälfte leicht, jetzt sind drei Viertel sehr schwer. Man sehe sich auf allen hier mitgeteilten Photographien die Gesichter der Kinder an: das aufgeschwemmte, wässrige, blasse Fleisch, den form- und kraftlosen Körper, die rachitischen, verkrümmten Arme und Beine. Das ist der Typus des Nachwuchses. So endet, in diesen tragischen, unendlich rührenden und hilflosen Kleinen, deren Seele nur ein Dostojewski schildern könnte, das einst so kräftige, so schaffensfreudige deutsche Arbeitsvolk.

Es ist unbegreiflich, ja in tiefstem Grade beschämend, daß diese Volkskatastrophe, die ungeheure Kindertragödie, die sich in unserer Mitte abspielt, anscheinend kein Aufsehen bei uns erregt! Eine Heilung, eine Wiedergutmachung, soweit eine solche überhaupt möglich ist, ist allerdings nur denkbar auf einer ganz breiten und vor allen Dingen auch internationalen wirtschaftlichen Grundlage. Sie setzt voraus und fordert gebieterisch den nationalen und internationalen Wiederaufbau, von dem so viel die Rede und bisher so wenig zu sehen ist. Wenn nichts anderes die Gewissen aufrütteln, die Menschen vorwärtstreiben kann, daß sie endlich Ernst machen, so sollten es die toten Kinderaugen der deutschen Großstädte tun. Wir müssen wieder mit unserer Arbeit, mit unsrer Produktivität Nahrungsmittel, Kleidung und anständige Wohnungen bezahlen können, bezahlen dürfen. Und dazu brauchen wir den Wiederaufbau der Weltwirtschaft, die Wiedereinbeziehung Deutschlands in ihren Kreislauf, die friedliche Sprengung der Fesseln, die unserm Schaffen und Austausch auferlegt worden sind.

Aber bis wir das erreichen, ist sofort etwas anderes nötig. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um wenigstens die Kinder zu retten. Im nationalen Rahmen ist bei der Verarmung Deutschlands, bei dem allgemeinen Mangel an Kleidung und Nahrungsmitteln die Sache gewiß schwer, aber nicht unmöglich. Wenn von den ungeheuren Umsätzen, die in den Schieberbars und Tanzpalästen des Westens stattfinden, nur ein kleiner Prozentsatz freiwillig oder durch eine besondere Besteuerung der Rettung der Kinder zugeführt würde, so würden schon Summen herauskommen, von denen sich wenigstens etwas der Quäkerspeisung hinzufügen ließe, etwas auch für die Bekleidung und die Reinlichkeit der verkommenden Bevölkerung Ost- und Nord-Berlins. Es würde zu einem Skandal, wenn die deutsche Wohltätigkeit nichts für Rettung der eigenen Volksgenossen täte. Es gibt in Berlin große Namen und große Firmen, die sich an die Spitze einer sofortigen Aktion stellen können, um noch vor dem Winter zu retten, was von den verelendeten Berliner Kindern zu retten ist. An diese wenden sich die hier abgedruckten Bilder mit ihrer stummen Sprache und dem grenzenlosen menschlichen Entsetzen, das aus ihnen schreit. Mögen diejenigen, die es können, schnell und in großem Stil das Nötige unternehmen. Sollte eine solche Aktion damit gefördert werden können, so ist die Schriftleitung der Deutschen Nation (Berlin W 8, Unter den Linden 17/18) gern bereit, Zuschriften oder Vorschläge, die zu diesem Zwecke an den Verfasser dieses Aufsatzes gerichtet werden, zu sammeln und den Zusammentritt eines Aktionskomitees auf diesem Wege zu vermitteln.


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