Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel

»Frühmorgens, wenn die Hähne krähn,
eh' noch der Wachtel Ruf erschallt,
eh' linder all die Lüfte wehn,
vom Jagdhornruf das Echo hallt,
das Echo hallt:
Dann gehet leise nach seiner Weise
der liebe Herrgott durch den Wald,
der liebe Herrgott durch den Wald.«

Auf einem fernen Felde singen Knechte und Mägde das Lied. Die Sensen ruhen. In fröhlicher Runde sitzen die Leute, die ihr Frühstück beendet haben, und singen.

Aus dem Dorfe herauf, auf den »Wächter« zu, kommt eine Frau gegangen. Sie trägt Speise in einem Korbe und einen erquickenden Trank in einer Kanne. Es ist Frau Christel Friedlieb, die zu ihren Dienstleuten geht, die draußen im Erntefeld schwer arbeiten. Sie trägt ihren Arbeitern immer selbst die Labung.

Eine Glocke tönt zum Frühgottesdienst. Es ist gegen sechs Uhr.

Da hebt Robert Hellmich das Haupt. Er liegt dicht an einem Weizenfeld im nassen Grase.

Scheu wendet er den Kopf. Neben ihm ist ein roter Fleck. Das sind keine roten Blumen, das ist Blut.

Seine Augen haften daran und sein Blick ist irr.

»Der Weizen – das Blut – und ich! – Wo – aber ist die Mutter?«

Er unterscheidet nicht mehr zwischen seiner Geburt und seinem Tod. Am reifen Ährenfeld geboren, am reifen Ährenfeld gestorben, und zwischen Ernte und Wiederernte ein fruchtlos Leben. Er hört die Glocke tönen. Da blitzt ein klares Licht auf in seinen Augen.

»Da – da – das Dorf – das Blut! Sterbe ich? Sterbe ich hier?«

Fragend schaut er nach dem Gotteshause.

»Warum bringt ihr mir die Wegzehrung nicht? Warum laßt ihr mich so?«

Wieder sieht er den roten Fleck, entsetzt sich, kriecht ein Stücklein den Rain hinab und sinkt um in reines Gras. Die Glocke tönt, und sein fiebernder Blick geht dem Klang entgegen bis hin zur Kirche, und sein Gesicht ist bitter. Neben ihm singen leise die reifen Ähren, und sein Auge irrt den Hügel hinab über die weiße Feldflur.

Da steigt ein fremdes Bild auf vor seiner Seele, und sein Mund murmelt:

»Da irrte sie umher in der Wüste!«

»Mutter! Mutter, wo bist du? Gib mir zu trinken! Weißt du nicht, daß ich dein Sohn bin und daß du die Hagar bist? Weißt du nicht, daß wir in der Wüste sind? Alles ist weiß, alles ist heiß! Lauter weiße, heiße Wüste!«

Zu rufen fingt er an: »Mutter! Mutter Hagar! Sieh mich an, sieh mich an!«

Die Ähren wiegen sich leise, der Himmel wölbt sich hoch und blau, die siegende Sonne strahlt über der Welt, Morgenfrische liegt auf der Flur.

»Da gehet leise nach seiner Weise
der liebe Herrgott durch den Wald,
der liebe Herrgott durch den Wald!«

Das Lied klingt in den Fiebertraum, der Sterbende horcht, lauscht auf das ferne Lied.

Dort ist der Wald, über dem Felde!
Dort ist wirklich ein Wald.
Horch! Horch! Kommt nicht –
kommt nicht ein leichter Schritt?

Ein ganz leichter Schritt?

Fliegt nicht da jemand?

Schwebt nicht da jemand?

Knistert es hinter ihm in den Ähren?

Ist jemand neben ihm?

Er schließt die Augen, er öffnet sie wieder, er wendet scheu, furchtsam den Kopf und schreit auf:

»Jesus Christus!«

Eine milde Stimme antwortet:

»Du hast es gesagt: ich bin es!«

Da richtet sich der sterbende Körper auf, und die Fieberaugen werden groß und sehend vor dem Erlöschen.

Vor ihm steht Jesus von Nazareth. Sein Gesicht leuchtet wie die Sonne, und seine Kleider sind weiß wie Schnee.

»Herr! Herr! Du bist es!«

»Was fehlt dir, mein Sohn?«

Wie Balsam fließen die milden Worte in die kranke Seele.

»Verwirf mich nicht, o Herr, ich habe Hunger!«

»Selig sind, die Hunger und Durst haben; sie werden gesättigt werden!« – –

Und der Heiland streckt die rechte Hand in die reifen Ähren. Er reibt sich die Hand voll Körner, beugt sich nieder zu dem Sterbenden, träufelt ihm die Körner in den Mund und sagt:

»Mein Sohn, nimm hin und iß; das ist mein Leib!«

Sieht ihn noch einmal voll Liebe an und verschwindet in Glanz und Sonnenschein.– – –

Selig liegt der Sterbende in Gras und blühenden Blumen.

Noch einmal öffnet er die Augen, aber er kennt die Welt nicht mehr.

Er hört auch nicht, daß eine Frau laut aufschreit und zu ihm hinfliegt, ihn mit tausend süßen Namen nennt.

Aber er fühlt ihren glühenden Kuß, öffnet die Augen und schaut sie an.

»Mutter, bist du gekommen? Mutter Hagar? Hast du eine Quelle gefunden? Mich dürstet!«

Da bringt sie eine Kanne und gibt ihm zu trinken.

Er trinkt in durstigen Zügen und lächelt dann und sagt: »Siehst du, du hast eine Quelle gefunden! Und ich will dir's sagen, Mutter, der Heiland war da.«

Er hört nicht die schluchzenden Liebesnamen, er hört auch den Namen Christel nicht mehr. Er weiß nicht mehr, wer das ist.

Sie bettet seinen Kopf in ihren Schoß.

»Freue dich, Mutter, freue dich! Sei auch nicht mehr böse auf den Vater. Ich bin gut auf alle.«

»Horch – horch – Mutter – der Heiland kommt! – Er fliegt – er schwebt – dort – dort über dem Weizenfeld – schön wie die Sonne – weiß wie der Schnee – er fährt in den Himmel auf – –«

Im Sterben spricht der bleiche Mund die Worte nach, die die scheidende Seele aus strahlender Himmelshöhe hört:

»In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!«


 << zurück