Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Siebzehntes Kapitel

Langsame, schwere Wanderung.

Unsicheres Wandern ins Dunkle.

Seht, sie ist schön und geht ohne Ehre und Liebe aus der Heimat!

Seht, sie ist jung und hat kein Ziel! Und der neben ihr geht, führt sein Glück ins Weite.

Er löscht den Stern aus an seinem dunklen Himmel, tilgt den einzigen Rosenstock aus seinem armen Garten.

Er muß großmütig sein und ist jung. Er muß schweigen und hat eine Seele voll schreiender Wünsche.

Schwere, unsichere Reise! Das Mondlicht fällt fahl durch wandernde Wolken. Da gleiten seltsame Schatten über den Weg, lagern und recken und dehnen sich im toten Grase am Wegrand und zerrinnen gespenstisch in nichts. Sie kommen am Teiche vorbei, der drüben nächtlich liegt. Die Nebelfrauen huschen zwischen den Stämmen hervor, lauern und winken mit weichen, grauen Armen.

»Seht, sie kommen wieder! Sie kommen zu zweien! Kommt, ihr schönen Menschen, kommt und schwimmt auf dem stillen Wasser. Schwimmt mit den Gesichtern nach oben – nebeneinander! Der Mond wird kommen und silberne Wasserrosen um euch streuen. Leuchtende Funken werden um euch sprühen. Der Wind weiß schöne Lieder. Dazu werden wir tanzen. Wir tanzen gern, wenn schöne Menschen im Wasser schlafen. Wir tanzen leise, daß sie nicht erwachen. Kommt, legt euch zur Ruhe!«

Die beiden bleiben stehen, und ein paar Augenblicke sieht auch Robert hinüber nach dem Wasser.

Denn es ist ein schweres Wandern.

Aber eine lichte Wolke zerrinnt, und zwei Sterne schauen tröstend aus hoher Weite.

Robert weiß nicht, ob ihn bei der Geburt ein Blick seiner Mutter traf, ob sie ihm einmal liebreich die Hand auflegen konnte oder ob sie noch früher starb, aber der Segen dieser Mutter hat ihn doch begleitet durch ihr todernstes Andenken und ihn gestützt in den schwersten Augenblicken seines Lebens, mehr als manches andre Kind, das durch viele Jahre eine gleichgültige Mutter hatte.

So sagte er jetzt:

»Lore, wir wollen weitergehen!«

Sie wanderten schweigend, er trug jetzt ihr leichtes Reisebündel. Ein paarmal wollte er von ihrer Zukunft sprechen, aber er war es nicht imstande. Tröstende Worte erstickten in seinem eigenen Herzeleid.

In der Pappelallee, wo er sie gefunden, sagte sie mit inniger Bitte:

»Verzeih mir, Robert!«

Sie schlang den Arm um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er konnte nichts andres sagen als: »Sei still, Lore, sei still!«

Und ging weiter mit ihr. Als sie aber auf die letzte Anhöhe kamen und die Lichter der Stadt aufblitzen sahen, blieb er stehen.

Jetzt – diese paar Schritte noch – dann war alles aus, war alles Glück für ihn zu Ende.

Da verließ ihn seine Führerruhe. Da riß er sie in seine Arme, preßte sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen, glühenden, durstigen Küssen. Küßte sie unter Lachen und Weinen, gab ihr tausend zärtliche Namen – und schlug sich plötzlich mit den Fäusten gegen die Stirn und ging den Hügel hinab der Stadt zu, sah sich nicht einmal um, ob sie ihm folge.

In der Stadt führte er sie in ein fremdes Gasthaus und befahl ihr zu warten, bis er zurückkomme.

So ging er allein und lieferte Hartmanns Brief ab. Er fand ältere, gutmütige Leute. Sie kamen in große Verlegenheit, aber er redete ihnen zu und sagte, die Lore würde nicht lange bei ihnen bleiben.

So faßten sie sich und willigten ein.

Dann kam die Lore zu ihnen. Der Schritt über diese fremde Schwelle war schwer. Aber die alte Frau, deren Herz ruhig und unbeteiligt war, fand so viel freundliche und vor allen Dingen so viel wohltuend gleichgültige Worte, daß es Lore leichter wurde.

Fremder Gleichmut ist eines der besten Mittel gegen die Fieber unsres Lebens.

Es war noch nicht acht Uhr. Robert Winter sagte, er wolle noch etwas besorgen, und er komme noch einmal wieder.

Er reichte dem Mädchen die Hand über den Tisch hin, und sie erschrak, daß sie so kalt war.

Und Robert ging und fand ein Geschäft noch offen, dort kaufte er einen Revolver.

Er lud ihn vor den Augen des Verkäufers.

»Ich habe einen weiten Weg,« sagte er, »und er ist unsicher.«

Die Waffe in der Tasche, ging er ein paar Straßen weiter und stieg in einem Hause bis zu einer Tür empor, an der war eine Visitenkarte mit der Aufschrift: Fritz Scholz, Postassistent.

Er traf den zu Haus, den er suchte.

Scholz geriet in schwere Verlegenheit.

»Ach ... Herr Winter ... das ist ja eine Überraschung ... wo kommen Sie denn her? ... Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Ich danke! Ich bin nicht müde.«

»Aber – aber was ist denn? Wie sehen Sie denn aus?«

»Ich komme wegen der Lore.«

Er sah ihn haßerfüllt, drohend an, und der andre erbleichte.

»Wegen – wegen Fräulein Lore?«

»Ja!«

Robert schwieg und ließ den Gegner in Spannung.

»Was – was ist denn mit Fräulein Lore?«

Robert entgegnete nichts, aber seine Augen glühten und seine Hand fuhr in die Tasche.

»Ist – ist etwas geschehen?« stammelte der andre.

»Was geschehen ist, wissen Sie!«

»Ist ein Unglück geschehen?«

Robert gab wieder keine Antwort.

»Ich bitte Sie, Herr Winter, ist ein Unglück geschehen?«

Robert schwieg, aber ein unheimliches Keuchen drang aus seiner Brust.

»Um Gottes willen, sprechen Sie doch, ist was mit Lore passiert?«

»Ja. Ich hab' sie am Teiche gefunden.«

Da verzerrt sich das Gesicht des jungen Mannes, und die Hände graben sich in seine Haare.

»Tot – Winter – tot?«

Keine Wimper zuckt an dem andern.

»Ertrunken, Winter, ertrunken – wegen mir –«

Er taumelt nach dem Tische, hält sich an, hebt die Augen entsetzt zu ihm auf.

»Im – im Teiche – ertrunken?«

Da endlich redet Robert.

»Nein! Ich kam noch zur rechten Zeit.«

Scholz sinkt auf einen Stuhl.

»Sie ist nicht – nicht tot? – Winter – da – da –« Er streckt ihm die Hände hin, aber Robert steht bewegungslos. »Sie können gut Theater spielen, Herr Scholz«, sagt er mit Eiseskälte.

»Theater, nein – ich – ich – ich – Sie wissen ja nicht – Sie wissen ja nicht! – Das wär' ja mein Ende –«

»Es wäre nicht schade um Sie – Sie Schuft!«

Fritz Scholz zuckt kaum zusammen bei der Beleidigung. »Bin ich – bin ich ein – Schuft?« lallt er wie geistesabwesend.

Da wirft sich Robert Winter zum Richter auf.

»Wer ein so schönes – fröhliches – reines Mädchen, wie die Lore war, verdirbt und sie dann im Stiche läßt, der ist ein großer Schuft. Gestern fand ich sie auf der Straße – ohnmächtig – sie hatte sich zuschanden gelaufen um Ihretwillen – Sie waren nicht zu Hause. Abends da hat dann die ganze Familie ihr Grauen gehabt über Sie – und dann, da holte ich die Lore vom Teiche. – Gelt, Sie hätten die Lore nicht geholt, Sie saßen hier in der warmen Stube. Aber Sie sind ein ganz dummer Mensch! Was wissen Sie von dem Jammer eines solchen geschändeten Mädchens? Was wissen Sie von einem so hilflosen Kinde? Sehen Sie mich an! Meine Mutter ist auch so einem gewissenlosen Schuft, wie Sie sind, in die Hände gefallen, sie ist am Wegrande gestorben, und ich – ich bin nicht gestorben – ich, das uneheliche Kind, bin ein glücklicher Mensch in der Welt geworden. Und so wird's nun der Lore gehen und ihrem Kinde.«

Der andre hat sich die schweren Vorwürfe angehört, jetzt erholt er sich.

»Herr Winter, ich weiß nicht, was Sie sagen. Es ist wahr, ich hab' der Lore geschrieben, ich könnte sie noch nicht gleich heiraten, meine Eltern sind dagegen.«

»Ach«, unterbrach ihn Winter mit bösem Hohn. »Die Eltern! Sie geben dem Söhnchen die Erlaubnis nicht. Wegen der andern Sache hatte er nicht erst um Erlaubnis gefragt. Sie glauben wohl, Sie – Sie Bursche, Ihr Lebensglück und das Glück Ihrer Eltern ist wichtiger als das Lebensglück des Mädchens? Das Mädchen ist ja zehnmal mehr wert als Sie und Ihre ganze Sippschaft!«

»Herr Winter – das ist zu viel. Jetzt schweigen Sie! Ich werde die Lore heiraten, aber erst in zwei Jahren. Ich laß mir von Ihnen ja bloß so viel gefallen, weil Sie meine Braut –-«

Robert lachte laut auf.

»Ihre Braut! Sie täuschen sich vielleicht. Sie glauben doch nicht, daß die Lore keinen bessern bekommt?«

Fritz Scholz sah ihn verständnislos an.

»Was soll das heißen? Einen andern? – Wen? – Sie?«

»Mich nicht! Ich bin ein armer Kerl. Aber es gibt einen, dessen Einkommen nicht zu klein ist, sie zu heiraten, bei dem die Lore sich nicht um die Ehre zu reißen braucht, am Hungertuche mitzunagen – Berthold Hartmann.«

»Berthold Hartmann –den dummen Menschen –«

»Besser weniger klug und weniger schlecht! Die Mutter weigert sich noch, aber – sie wird nachgeben.«

Da gewinnt Fritz Scholz seine Fassung wieder.

»Das – das geht nicht – das ist unmöglich –den nimmt ja die Lore nicht – und ich geb' sie ja auch nicht her – ich geb' sie nicht her – lieber wollte ich mit ihr hungern.« »Reden Sie nicht so! Der Lore wird bei dem Berthold wohler sein als bei Ihnen.«

»Aber ich liebe sie doch – ich lieb' sie ja so sehr –«

Robert lacht rauh.

»Das hat man gesehen!«

»Es war ja bloß augenblickliche Verwirrung – Ratlosigkeit – ich geb' sie ja nicht auf – ich geb' sie nicht auf.«

»Sie werden es müssen.«

»Nein! Tausendmal nein! Und das Kind! Mein Kind! Sie gehört doch zu mir!«

Da werden Robert Winters Züge mit einem Male weicher.

»Ist es Ihnen um das Kind?« fragte er leise.

»Ja!«

»Ist das wahr?«

»Ja!«

Eine Minute lang steht Robert Winter regungslos. Er kämpft den letzten Kampf.

»Wollen Sie – wollen Sie die Lore wirklich haben?«

»Ja! Ja!«

»Werden Sie gut mit ihr sein?«

»Ja! Immer!«

Robert schweigt noch eine kurze Weile. Dann sagt er tonlos:

»Sie ist hier in der Stadt bei Bekannten: Gartenstraße 15, bei Hübner.«

Fritz Scholz springt auf.

»Ich will hingehen – mit ihr reden.«

Robert winkt ihm ab.

»Morgen! – Morgen ist es – zeitig genug.«

Dann steht er wieder in Gedanken, versunken und fragt endlich:

»Werden Sie bald heiraten?«

»Ja. Wenn die Lore will – bald!«

»Es ist gut!«

Robert Winter greift in die Tasche und legt einen Revolver auf den Tisch.

»Was – was soll das?«

»Den schenk' ich Ihnen als Hochzeitsgeschenk.«

Die Blicke bohren sich ineinander. Mit Schaudern sieht Fritz Scholz den Gegner an, von dem er weiß, daß er wegen einer Gewalttat drei Jahre gefangen war.

»Den schenk' ich Ihnen«, wiederholt Robert Winter.

Dann wendet er sich zur Tür.

Aber er dreht sich noch einmal um.

»Ich habe etwas vergessen zu sagen: Die Lore bekommt zwölftausend Mark Mitgift. Zwölftausend Mark!«

* * *

Robert geht nach der Gartenstraße zurück. Er bittet die alten Leute, ihn mit Lore auf ein paar Minuten allein zu lassen.

Mit gesenktem Kopfe steht er vor dem Mädchen, und mit leiser Stimme sagt er:

»Sei nicht mehr traurig, Lore, er wird dich heiraten. Ich war bei ihm. Morgen kommt er her, und er heiratet dich bald. Und er tut's – weil er dich liebt. – Ich hab' es ausgeforscht. Von der Mitgift hab' ich ihm erst zu allerletzt gesagt. Er heiratet dich bald.«

Sie starrt ihn an. Kein Leuchten geht über ihre Züge, keine Freude blitzt auf in ihren Augen.

»Lore, wirst du nun ruhig und zufrieden sein?«

Sie sieht ihn mit brennenden Augen an und schluckt und findet kein Wort.

Sie sieht ihn noch einmal an, und dann sinkt sie mit dem Kopf auf die Tischplatte und weint bitterlich.

Junges Kind, kam dir eine Erkenntnis?

Robert steht erschüttert vor ihr.

Dann küßt er sie leise auf den blonden Scheitel und geht davon.


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