Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Einundzwanzigstes Kapitel

Einsame lange Arbeitstage. Keine Hoffnung auf ein wenig Freude beim Erwachen, keine Befriedigung über ein gelungenes Werk beim Niederlegen. Wenn Robert vom Felde heimkam, faßte ihn immer ein Frösteln, daß er ins Haus hinein sollte. Seit die Christel fort war, fehlte ihm dort jede Behaglichkeit und jede Sicherheit. Wenn er zufrieden sein wollte, ging er in Gottlieb Peukers Stube. Manchmal traf ihn der Doktor und machte ihm Vorwürfe, daß er abends nicht öfter zu Besuch käme. Aber trotz aller Freundlichkeit des Doktors fühlte Robert, daß er nicht zu ihm gehöre, daß er in jenen Haushalt nicht hineinpasse.

Täglich grübelte er darüber, was er anderes beginnen, wohin er sich flüchten könne. Er wußte keine Zufluchtsstätte. Sein ganzes Leben hatte es mit sich gebracht, daß er wenig Energie besaß.

So sind die Überzähligen im Leben!

Ihnen wird von Urbeginn ab die Daseinsberechtigung bestritten, und wenn sie nicht von sehr starker Art sind, müssen sie furchtsam und feige werden. Sie haben kein lautes Ja und kein trotziges Nein, sie stehen dort, wohin sie gestellt werden, und fürchten oft, auch ohne Grund, überflüssig und lästig zu sein. So werden sie unfroh, untüchtig. Und manche werden heimtückisch, wie verprügelte Tiere heimtückisch werden.

Manchmal machte sich Robert Vorwürfe, daß er nicht mit den Kameraden gereist sei.

Er hatte von ihnen keine Nachricht. Das Briefschreiben fiel ihnen schwer. Aber im September bekam er doch einen Brief. Steiner schrieb:

»Lieber Freund!

Es geht uns nur soso lala! Wir haben keine richtige Melodie. Denn auf der Trompete macht sich nicht alles gut. Manchmal haben wir sehr das Heimweh gehabt, und auch zeitweise das Reißen. Aber nach Teichau können wir nicht mehr. Es ist wegen unsrer Ehre und dann wegen Herrn Doktor. Dich möchten wir gern einmal wiedersehen. Wir haben Dich sehr lieb, denn Du bläst eine feine Nummer. Wenn Du wieder mit uns ziehst, kannst Du der Kapellmeister sein. Mir ist schon alles egal geworden. Dem Pohl auch! Der spricht fast bloß noch deutsch. Denn er hat nichts davon. Am besten geht es Schulze, weil der gern lauft. Aber wir können kaum mit. Lieber Robert, weil wir nicht nach Teichau und auch nicht ganz in die Nähe kommen können, wollen wir Dich doch gern einmal sehen. Wir sind Sonntag in acht Tagen in der Waldschenke bei Gliesnitz. Da hast Du nicht so weit, bloß ein Stückchen mit der Bahn. Da komme doch einmal. Wenn Du wolltest so gut sein und Dein Waldhorn mitnehmen und wieder mit uns losziehn, das wäre uns eine Freude. Und wir können dann beraten, ob Du Kapellmeister bist oder ich. Komme ja, wir warten auf Dich. Wir grüßen und küssen Dich alle herzlich. Dein alter treuer Chef

Steiner, Unteroffizier a. D.

* * *

Eine tiefe Freude faßte Robert, als er diesen Brief bekam. Das war Rettung, das war Befreiung. An diesem Tage war er fröhlich. Er hatte einen Ausblick, er hatte wieder einen Anschluß. Er mußte nicht mehr hierbleiben.

Du altes, frostiges Haus, bald bin ich dir entrückt; du liebloses, selbstsüchtiges Weib, bald quälst du mich nicht mehr; du dummer, dünkelhafter Bursch, bald sehe ich bessere, freundlichere Menschen als dich.

Du Arbeit ohne Freude, ihr öden Tage, ihr verdrossenen Abende, nun seid ihr aus!

Aber du alter, alter Gottlieb Peuker – ja, du freilich – ja, du –

Und du, freundliche Christel, gütiger Doktor, ja, ihr freilich –

Und du, lieber Kranker, der mich aufgenommen, als ich elend, zerrissen, ohne Habe von der Straße kam – –

So war Robert bald wieder mitten im Zwiespalt, wieder ohne Klarheit, wieder ratlos und scheu.

Und als dieser Sonntag kam, machte er sich zwar unter einem Vorwand frei, um die Kameraden aufzusuchen, aber das Waldhorn ließ er zu Hause.

Er sagte sich, er wolle sich's noch überlegen, erst mit den Kameraden reden, nachreisen könne er ihnen noch immer. Es war ein lichter Sonntag. Die klare Herbstsonne beschien Roberts Weg, als er von der kleinen Bahnstation nach der Waldschenke schritt. In seiner Seele war die bange Freude, die jeder hat, der lange nicht gesehene Freunde wiedersehen soll.

Eine kleine Anhöhe tauchte auf. Jenseits des Hügels lag einsam mitten im Walde die Fuhrmannsschenke.

Auf der Anhöhe stand ein kleiner Mann, der scharf den Weg entlang lugte und plötzlich die Mütze schwenkend verschwand. Das war Pohl, der Italiener, der da auf Posten gestanden hatte.

Rascher schritt Robert aus, und seine sonst blassen Wangen leuchteten rot. Und als er auf den Hügel kam, sah er die Kameraden mit den Instrumenten vor der Waldschenke stehen. Steiner gab das Zeichen, und dem Ankömmling tönte ein wohlbekanntes Stück entgegen:

»So sei uns treulich willkommen,
du alter, lieber Gesell.«

Steiner machte mehrere Pausen in der Baßbegleitung, während deren er sich heftig schnauzte, warf endlich die Tuba ins grüne Waldgras, eilte Robert entgegen und schloß ihn in seine Arme. Die andern folgten nach.

* * *

Hell leuchtete die Herbstsonne in die Gaststube der Waldschenke, wo die vier Musikanten mit glücklichen Gesichtern um den Tisch saßen. Steiner hielt Robert an der rechten Hand, Schulze an der linken, und Pohl, der ihm gegenüber saß, schnitt mit seinem sächsisch-italienischen Gesichte vergnügte Grimassen.

»Und du bist nicht mehr so ganz dagegen, wieder mit uns zu gehn?« fragte Steiner.

»Nein! Aber ich wollt' erst einmal mit euch reden. Ihr müßt mir noch ein bißchen Bedenkzeit lassen.«

»Bedenkzeit is was Bedenkliches«, sagte Steiner. »Nämlich, dann hat man nich viel Lust. Aber wir geben dir die Bedenkzeit. In vier Wochen kommen wir wieder hier vorbei, sagen wir genau heute in vier Wochen. Da sagst du uns Bescheid, und der beste Bescheid is, du bringst dein Waldhorn mit. Ich bin erschrocken, als ich dich so mit leeren Händen kommen sah.«

»Jo anche! Ma tu sei un camerado molto bravo! Wenn du nämlich dätst wieder mit uns kehn, da dät ich wieder viel lieber amal a pissel g'pildet räden.«

»Hast du nichts – hast du nichts von meiner Küstermagd gehört?« fragte Schulze, der Bäcker.

»Sie is verheiratet«, antwortete Robert. »An den Schornsteinfegergehilfen.«

»Verheiratet!«

Des Bäckers Augen funkelten in grimmer Trauer.

»Verheiratet! Und an einen Schmutzian! Die Weiber sind schlecht.«

»Nach meiner Witwe frage ich lieber gar nich erst«, sagte Steiner beklommen.

»Is auch besser!«

»Was heißt, is auch besser! Da muß ich doch dahinter kommen, das kann ich nich so ohne weiteres runterschlucken.«

Und Robert gab einen Bericht, der Steiner sehr traurig stimmte und ihm die Lust, nach Teichau zurückzukehren, die bei der Nachricht von Fräulein Jettels Abzug ein wenig aufgeflammt war, wieder nahm.

»La donna è mobile,« sagte Pohl, »ich hab' mein'm Bohlenmädchen von kanz alleene een samften Abschiedsdritt gegäm und prauch mich nu nich zu ärgern. Wenn ich mich immer hätt' über meine abdrünnigen Liebsten geärgert, da wär' ich schon längst mausedot. Da wär' ich euch amal was von Idalchen erzählen.«

Sie lehnten alle heftig ab.

»Und wie geht dir's, Robert? Bist du so ganz zufrieden und glücklich in Teichau?«

Robert sah zum Fenster hinaus in das sonnenbeschienene Gärtlein. Es standen Astern draußen, dicke, bunte Georginen und Sonnenrosen.

Ein Mäuslein marschierte durch den Garten und sah zu solch strahlender Blüte auf, die sich schwer zur Erde neigte, und wußte: im Winter wird sie an der Erde liegen. Dann leuchtet sie nicht mehr, aber dann liefert sie saftiges Korn. Scheine, gelbe Sonne, scheine, du bringst Segen! Das Mäuslein ließ sich noch ein wenig den Pelz wärmen und stieg dann in sein unterirdisches Haus hinab.

Vor einem Jahre hatte Dr. Friedlieb gesagt: Die Mäuse sind klüger als die reisenden Musikanten, denn sie denken an den kommenden Winter. Das fiel Robert ein.

»Ob du wirklich so ganz und gar zufrieden bist, hatt' ich dich gefragt«, wiederholte Steiner.

Robert fuhr aus seinem Nachsinnen auf.

»Ja, zufrieden, wer ist ganz zufrieden! Seid ihr ganz zufrieden?«

»Och ja, ja, nee, nee! Wie man's halt so nimmt!«

»Einmal haben wir Kalbsnierenbraten gehabt«, sagte Schulze, der Bäcker, andächtig.

»Och!« machte Steiner überlegen, »Braten haben wir überhaupt öfters gehabt.«

»Und zweemal ham mer in kanz richt'jen Petten geschlafen.

O letto mollu! 50 Fenn'je bro Pett! Und bicksauber sag' ich dir. Geene eenz'je Wanze!«

»Och ja, 's macht sich schon«, sagte Steiner wieder. »Und dann, man is halt sein freier Herr. Man braucht sich nich sozusagen behandeln lassen. Von Jettels und so!«

»E vero! Mei padrone, der verrickte Gerl, hat mich auch behandelt. Und was macht a, wie ich 'n mal 'ne Ansichtsgarte schicke? A schreibt, ich soll wieder redour gomm'n. A engagiert mich wieder. Das hab' ich aber ritiutato. Abkelehnt! Der Gerl is mir zu wenig solide.« »Backen tu ich auf keinen Fall mehr!« sagte Schulze. Die andern fanden diesen Vorsatz löblich.

»Und Menschen lernt man halt so kennen auf der Tour«, nahm Steiner wieder das Wort. »Da war mal abends in eener Kneipe eener, der machte sich mit der Schlacht von Koniggrätz mausig. Na, da lurt ich aber, denn mit Koniggrätz kann mir doch keener was vormachen! Was erzählt der Kerl? A tut so, als wenn überhaupt er der Macher von's Ganze gewesen wär', als wenn ohne ihn die ganze Sache zum Deiwel gegangen wär'. Als wenn wir andern nich auch dagewest wären. Na, das wurmte mich schon lange; aber 'n Gift kriegt' ich, als der Kerl behauptete, er und Bismarck hätten sich persönlich gekannt. A hieß Tulpe, der Kerl. Da erzählt er nu, wie er in einem Straßengraben gelegen und immerfort wie ein Wilder übers Feld fortgeschossen hätte, da wär' uff der Straße sein Bekannter, der Bismarck, vorbeigeritten gekommen und hätte gesagt: ,Unteroff'zier Tulpe, komm'n Sie raus aus 'm Graben, die Schlacht is gewonnen.' Darüber kriegte ich nu eine gräßliche Wut. Meine Herren, sagte ich, meine Herren, hier steht einer, der Koniggrätz wirklich mitgemacht hat, Unteroffizier Steiner. Koniggrätz und Paris. Dahier in dem Seidenpapier sind meine Orden, daß Sie sehn, daß alles wahr is. Wenn den dort Bismarck gekannt hat, dann hat mich der alte Kaiser Wilhelm gekannt. Und wie ich amal nach Berlin gereist war und vorm historischen Eckfenster stand, da sah mich der Kaiser stehen und sagte: `Is das nich der Unteroff'zier Steiner? Holt mir einmal den Mann rein! Gut, ich wurde geholt, und a hieß mich setzen, und wir plauderten so vom Kriege und von Königgrätz und von Paris. Und zuletzt da sagte der Kaiser zu seiner Frau: `Auguste, hol amal die Kümmelflasche, ich will meinem alten Freunde Steiner amal einschenken. Was sagen da die Kerle? Durcheinander schrein sie alle, das wär' nich wahr, und eener sagt, das wär' 'ne halbe Majestätsbeleidigung. Verflucht, dem bin ich aber gekommen! Den hätt' ich beinah gebackpfeift. Und wenn meine Geschichte nich ganz wahr sein sollte, da is die Tulpe-Geschichte vom Bismarck auch nich wahr. Na, da war denn der Tulpe schön blamiert.«

»Si non è vero, è ben trovato«, sagte Pohl. Schulze machte durch eine Zigarre, die er sich in den Mund steckte, einen dicken, vertuschenden Strich durch sein ironisches Gesicht, und Robert sah wieder durchs Fenster hinaus zu den Sonnenrosen. Nur Steiner lachte siegesbewußt.

»Ich will dir eben bloß beweisen, Robert,« sagte er, »daß man doch auf der Reise was erlebt. Das is doch nich so stupide, wie Rübenaufladen oder gar von Salatbeeten Spatzen vertreiben. Das paßte mir gerade!« Die andern begriffen Steiners Absicht, und nun erzählte jeder einen Schwank, einen lustigen Streich von seiner Reise und gab sich Mühe, das Musikantenleben im rosigsten Lichte erscheinen zu lassen. Was sie Bitteres und Entbehrungsreiches erlebt hatten, verschwiegen sie. Schulze fiel aus der Rolle:

»Weißt du noch, Robert, wie mir mal der Vorwurf gemacht wurde, ich hätte kein'n sogenannten Takt, weil ich früher mal hätte mit meinem adligen Kameraden vor dem Schlosse seiner Eltern musizieren woll'n? Na, andre Leute –«

Steiner und Pohl winkten ab; aber Schulze fuhr fort: »Andere Leute wollten in dem kleinen Städtel spielen, wo die Lore wohnt, und gar zur Lore hingehn. Aber da hab' ich gesagt: Das wär' aufdringlich, hab' ich gesagt, das tun wir nich!«

Roberts Gesicht wurde blaß, seine Augen groß, er sagte kein Wort.

Steiner und Pohl waren unwillig und schimpften auf ihren Kameraden.

Es kam auch keine lustige Stimmung mehr auf, obwohl Robert die melancholische Anwandlung abzustreifen versuchte. Schließlich gab er einen Bericht über sein Leben. Er verheimlichte nicht seine Leiden, aber er verschwieg auch die Vorzüge seines gegenwärtigen Standes nicht.

Da ließen die anderen die Köpfe hängen, und nun sah Steiner durchs Fenster und sagte so nebenher:

»Die Georginen blühen schon wieder. Das sind die dümmsten Blumen, die ich kenne.«

Als der Abend nahte, begleiteten die Musikanten Robert zur Bahn. Sie gingen langsam mit ihm und sprachen viel auf ihn ein. Als sie auf der Station anlangten, brauste der Zug schon heran. Es gab einen kurzen Abschied, aber sie riefen immerfort noch »Auf Wiedersehen!« als er es schon nicht mehr hören konnte, und schwenkten ihre alten Hüte.

Als die Station verschwunden war, lehnte sich Robert müde ans Fenster. Das Abendrot umspann den Himmel und glänzte über Bergen und Wäldern. Aber das Abendrot machte ihn traurig, die fremden Berge sahen ihn so ernst an, die Wälder waren so dunkel. Die Wiesen und Felder dehnten sich lang und breit, und wenn er lustige, heimkehrende Spaziergänger lachen hörte, tat es ihm weh. Dieser Tag hatte ihm kein Glück gebracht.

Er hatte ihm wohl die ganze Liebe und Treue der Kameraden wieder gezeigt, ihre treuherzige Art; aber er war klug genug, zu erkennen, daß er ihr Kamerad nicht mehr sei.

Als er von der Festung kam, aus Knechtung und Schande, fand er sich bei ihnen zurecht. Jetzt, da er ein geordnetes Leben kennengelernt, da er tiefere Menschen gesehen, die ihm geneigt waren, würde er bei den Musikanten nicht mehr glücklich sein können.

Einsam würde er sein bei all ihrer Treu. Denn für das, was in seiner Seele vorging, hatten sie kein Verständnis. So würde er fremd neben ihnen wandern.

»Ich werde euch wohl nicht mehr wiedersehen, ihr guten Kerle!« dachte er bei sich.

Und er fuhr hinaus in die anbrechende Nacht.


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