Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Siebentes Kapitel

Es war an einem andern Herbsttag, da war der Himmel nicht so sonnig und die Erde nicht leuchtend.

Der »Wächter« auf der Höhe, der einsame Baum, der über das Tal hinwegsah, hatte sein letztes Laub verloren. Es tanzte um den Stamm, viel lose Blätter gingen weit fort, und nur ein paar treue blieben da und schmiegten sich unten am Fuß an den mütterlichen Leib.

Kalt pfiff der Wind über die Felder. Schwere, frühe Dämmerung kam und hüllte die fröstelnden Berge ein, und einzelne Regentropfen flogen wie kalte, zornige Tränen durch die Luft.

Die Krähen sangen ihr Räuberlied, und alle Käferlein, die schon halb im Wintertraum lagen, hörten es, und ein Zittern lief über die zarten Leiber.

Weit weg fiel manchmal ein Jägerschuß, wie ein Signal von Sieg und Tod.

Und dann war wieder Stille und Öde.

Wer da einsam war, erschrak, und eine Furcht kam ihm in dieser tiefen Verlassenheit, und wenn er jenseits der Hügel den Eisenbahnzug fahren sah, wünschte er, mitzureisen nach freundlichen, hellen Städten.

Städte haben keine Jahreszeiten; sie haben sich abgeschlossen von den Schauern und Freuden der Natur. –

Ein Mann stieg den kleinen Hügel hinauf und setzte sich an den Fuß des wilden Kirschbaumes. Er stützte die Hände gegen den Boden und ließ den Kopf sinken. Sein Gesicht war voll Trauer. Unten am Fuße des Hügels arbeiteten fleißige Leute. Sie luden Rüben auf einen großen Wagen. Er kümmerte sich nicht um sie, sah kaum einmal verdrossen nach ihnen hin. Er freute sich auch nicht über die lodernden Feldfeuer, die ihren roten Schein über den grauen Feldhügel breiteten.

Wenn er überhaupt einmal den Kopf hob, sah er nach der Straße hin, die ins Land hinausführte und sich im Nebel verlor. Dann rang sich ein schwerer Seufzer von seiner Brust und sein Auge bekam etwas Stieres.

Dr. Friedlieb, der ein wenig später den Hügel von der andern Seite her erstieg und den Mann sitzen sah, lächelte, stemmte die Hände in die Seiten und rief:

»Heda, Steiner! Oller Unteroffizier! Sie sitzen ja so majestätisch betrübt da wie Napoleon bei Probstheida! Was machen Sie denn da?«

»Nichts!« sagte Steiner mit müder Gebärde.

»Nichts? – Nichts is gut! – Nichts is richtig!«

Dr. Friedlieb kam vollends heran und betrachtete sein »Faktotum«.

»Also – nichts? So! Warum denn nu – warum denn nu ausgerechnet – nichts?«

»Ich warte, bis die Leute die Rüben aufgeladen haben, und dann fahre ich sie heim.«

»Ja, könnten Sie bei dem Aufladen nicht ein bißchen helfen?« Steiner schüttelte den Kopf.

»Ich bin bloß als Kutscher engagiert«, sagte er abweisend.

»Hm, hm! Als Kutscher! Als herrschaftlicher Runkelrübenkutscher beim Dr. med. Amtsvorsteher und Gutsbesitzer Friedlieb. Na, dann – dann werd' ich mich ein bissel zu Ihn' setzen.«

Er nahm Platz und sah Steiner von der Seite her an. »Sagen Sie mal, Mensch, warum machen Sie denn ein so blödsinnig trübes Gesicht? Warum sehen Sie denn so essigsauer aus?«

Steiner seufzte.

»Wenn man eben bessere Tage gesehen hat –«

Dr. Friedlieb schlug sich aufs Bein.

»Bessere Tage! Das is stark! Bessere Tage als bei mir?«

»Herr Doktor, ich war Unteroffizier und Kapellmeister!«

»Also gewissermaßen immer in leitenden Stellungen, meinen Sie! Sie sind 'n Schaf, Steiner! Sie haben's doch ganz gut so.«

Steiner schüttelte wieder den Kopf und holte zu einer Rede aus.

»Sehn Sie, Herr Doktor, so ganz richtige Künstler sind wir ja nich gewesen.«

»Nein, Steiner, nein!«

»Ich mein', so Konzertkünstler! Aber schön war's doch, ja, schön war's doch – man hat doch die Musik gerne gehabt.«

»Ja, das seh' ich ein! Na, da kann ich Ihn'n eine Freude machen. Die Pohlsdorfer haben heute rübergeschickt, Sie soll'n dort nächsten Sonntag Tanzmusik machen.«

Steiners Gesicht hellte sich auf.

»Alle vier?« fragte er glücklich.

»Ja, natürlich alle vier. Pro Mann fünf Mark. Die Kerle wollten bloß vier Mark geben. Das habe ich ihnen ausgeredet. Gute Musik ist gutes Geld wert. Na, sehn Sie, Steiner, wenn Sie Ihre Sache gut machen, da kriegen Sie nach und nach 'n gewisses Renommee, und dann beblasen Sie hier die ganze Gegend.«

»Das wär' herrlich!« rief Steiner begeistert.

»Tja, Musik is ja an und für sich kein Mumpitz. Aber ständige, seßhafte Musik muß es sein, keine rumziehende. Der Musikmensch muß ebenso anständig sein wie jeder andre. Na, da sind Sie wohl jetzt zufrieden, Sie oller Königgrätzer? Oder läuft Ihnen sonst noch ne Laus über die Leber?«

»Fräulein Jettel«, antwortete Steiner seufzend.

»Mein Lieber, erstens is es nich anständig von Ihnen, in Verbindung mit meiner Schwester gleichnisweise von einer über die Leber laufenden Laus zu reden, und zweitens habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich da nichts machen kann. Da müssen wir uns eben in Geduld fassen. Es is aber möglich, daß da bald mal 'ne gründliche Änderung wird.«

Steiner faltete die Hände, sah andächtig gen Himmel und sprach im stillen: »Gott geb 's!« Dann sagte er laut: »'n bissel besser is es ja schon geworden, seit ich »gnädiges Fräulein« zu ihr sag'. Das sagt ja sonst kein Mensch zu ihr. Der Robert, der hat's ja gut getroffen, der sagt zu Fräulein Hartmann einfach »Christel«.«

Dr. Friedlieb fuhr überrascht herum.

»A–ch! Einfach – einfach »Christel«?«

»Ja, sie hat's von ihm verlangt. Sie hat ihm verboten, daß er Fräulein Hartmann sagt. Und sie hat ihm schon 'ne Masse Hemden und Unterhosen und Strümpfe und 'n neuen feinen Anzug gekauft. Aber halt, herrjeh – das soll ich ja nich weitersagen – da hab' ich ja 'm Robert 's Ehrenwort drauf geben müssen. Herr Doktor, Sie werden's nicht weitererzählen, nicht wahr –«

Dr. Friedlieb saß ganz steif da. Sein Gesicht war plötzlich blasser geworden, und nur auf seiner Stirn sammelte sich eine dunkle Glut.

»Christel,« wiederholte er, »Christel!«

»Ja, Christel! Sie is überhaupt sehr freundlich zu ihm, steckt ihm alle guten Bissen zu, und einmal habe ich gesehen, wie sie ihn ganz sacht' an der Hand nahm. Na, das macht Fräulein Jettel ja nu alles nicht.«

Friedlieb hörte nicht auf das, was Steiner sagte, er blickte starr hinunter ins Dorf nach dem Kretscham, und es war, als ob er mit etwas Unfaßlichem ränge und gegen eine böse Sorge ankämpfe, die ihn unversehens überfallen hatte.

Da riefen die Knechte vom Felde herauf, der Wagen sei jetzt voll. Steiner erhob sich, stieg den Hügel hinunter und fuhr langsam dem Friedliebschen Hofe zu.

Sein Herr saß noch oben am kahlen Baum.

Der »Wächter« streckte seine leeren Äste über ihn aus wie drohend geschwungene Ruten, und der Wind spielte in ihnen mit leise höhnischer Melodie.

Die Christel!

Auch Dr. Friedlieb stemmte die Hände gegen den Boden, ließ den Kopf sinken und seine Augen bekamen etwas Stieres, und auch er saß da wie Napoleon bei Probstheida.

Sie war vierundzwanzig, er war fünfundvierzig Jahre alt!

Fast das Doppelte!

Und er hatte immer gezögert, hatte es nie gewagt! War zu elend feig dazu gewesen.

Hatte Rücksicht genommen auf die Schwester! Auf diese Schwester! Mit der sich niemand vertragen konnte.

Hätte er sie doch rausgeworfen mitsamt ihren Katzen und Erbauungsbüchern!

Dann wäre alles besser geworden.

Sie konnte doch ihre Katzen auch wo anders füttern, ihre Schwarten auch wo anders lesen!

Sie mußte doch nicht immerfort seinem Leben, seinem Werk, seinem Glück im Wege sein!

Die Christel!

Das einsame, gute, liebe Mädchen! Seht nur an!

Nun kam ein andrer, ein Junger, ein Schöner, einer, der ihrer Jugend gefiel, und der alternde, feige Dr. Friedlieb saß auf, blanker Erde wie ein Narr.

Aber gar so schnell war es gekommen. Und gleich solche Dinge für ihn kaufen und sich Christel nennen lassen!

Der Volksfreund, der Reformator tobte dagegen.

Das war zu viel!

Sie brauchte sich nicht mit jedem, dem sie Gutes tun wollte, gleich auf du und du zu stellen.

Das ging über alles Maß!

Und dann, daß niemand davon etwas hören durfte, daß dieser Trottel, dieser Steiner, hatte sein »Ehrenwort« geben müssen, nichts zu verraten –

Das war das Verdächtigste!

Der Doktor sprang auf und stieg den Feldweg hinab bis nach der Landstraße.

Dort sah er zu seinem Unglück den Winkler-Maurer schwer betrunken die Straße entlang wanken. Er trug die Schnapsflasche in der Hand. Dr. Friedlieb holte ihn ein, riß ihm die Flasche aus der Hand und roch hinein.

Es war sein Hartmannscher Chemikalienschnaps. Sein Gesundheitsschnaps! Sein Kurschnaps!

Wütend zerschellte der Doktor die Flasche am nächsten Stein:

»Saufen Sie sich tot, Sie Schwein! Man ist ein Narr, wenn man solchen Lumpen helfen will. Meinetwegen können alle Säufer sich in Fusel ertränken und alle vagabondierenden Bettelmusikanten zum Teufel marschieren!«

Drunten im Dorf war eine Backstube. In der waren bereits drei Bäcker bei Fleiß und gutem Betragen bankrott geworden.

Schulze, der neue Bäcker, der die traurige Geschichte seiner Vorgänger kannte, ahnte Trübes. Er konnte zwar nicht bankrotter werden, als er schon immer gewesen war, aber er hatte Mitleid für Dr. Friedlieb, der ihm Geld geborgt hatte.

Nun saß Schulze in trüben Gedanken vor der »Feuerung« und hörte dem Knistern der Flammen zu. Er hatte nur einen sehr geringen »Schub«, es hatte sich kaum gelohnt einzuteigen, war eigentlich schade ums Holz. Aber das Feuer hatte das Gute, daß man sich dabei wärmen und so recht aussinnen konnte.

Wenn Schulze ehrlich mit sich selbst war, mußte er sich sagen, daß er sich eigentlich nie recht für einen genialen Bäcker gehalten hatte. Die Meister hatten ihn immer schnell fortgeschickt, und so war er ins Wandern geraten und hatte sich schließlich das Brot andrer Leute ganz gut schmecken lassen. Nun hatte er im Laufe der Zeit so viel von seiner schönen Kunst verlernt, daß es ihm im Anfange überhaupt nicht gelungen war, Feuer im Backofen zu machen, von den wesentlich wichtigeren Backbeschäftigungen zu schweigen. Mit Hilfe einer Frau, die er sich »zu Handreichungen« hielt, hatte er aber doch Gebilde hervorgebracht, die mit Broten und Semmeln mancherlei Ähnlichkeit hatten.

Seit der Zeit hatte Schulze einen verdorbenen Magen, die Frau, die ihm half, hatte einen verdorbenen Magen, Dr. Friedlieb hatte einen verdorbenen Magen und viele andere Leute auch noch. Die Bäuerin Bansch hatte behauptet: die Hühner hörten nach dem Genusse des Schulzebrotes auf zu legen, und kluge Hunde, die eine feine Nase hatten, gingen den Schulzeschen Brotkrusten mit Vorsicht aus dem Wege.

Das waren nun alles keine günstigen Ergebnisse, die einen Mann wie Schulze für seinen Beruf begeistern konnten. Dazu kam, daß er sich immer elend und müde fühlte. Er hatte das Bedürfnis, am Tage sechs bis acht Stunden zu marschieren, sonst war er müde. Wenn er manchmal vor sein enges Bäckerhaus in die freie Luft trat, überkam ihn eine schmerzhafte Sehnsucht, und er streckte die Hände aus, als ob er fortfliegen wollte, wie der kümmerliche Rauch aus seinem Schornstein.

Wie er nun heute so trübe vor seinem Backofen saß, kam eine Frau, von der er wußte, daß sie eine Witwe mit sechs Kindern war. Sie verlangte ein Brot. Er gab es ihr und fragte furchtsam:

»Schmeckt Ihn'n denn mein Brot?«

Da lächelte sie und sagte:

»Ach, sehn Sie mal, ich bin doch so arm, und wie soll ich's mit meinen sechs Kindern einrichten, wenn die a ganzen Tag immerfort nach Brotschnitten schrei'n? Da war so a Fünfzigpfennigbrot in zwei Tagen weg, und ich verdien' doch an einem Tage bloß sechzig Pfennige. Aber seit ich bei Ihn'n das Brot hole, brauch' ich viel weniger.«

Schulze wandte sich ab. Die Kinder taten ihm leid. Und wie er nun wieder allein war und über das Geheimnis der »Oberhitze« grübelte, ging die Tür auf, und ein Mann erschien:

»Woll'n Sie vielleicht gute, frische Semmeln kaufen?«

Das war der Bäckerkutscher aus der Stadt. Sein Konkurrent kam, ihm frische Semmeln anzubieten! Schulze warf ein Holzscheit nach ihm. Zorn über seine Bäckerei fand er gerechtfertigt, Hohn ertrug er nicht.

Nach einiger Zeit, als der Abend hereinbrach und der Herbstwind traurig sang vor dem Hause, fing Schulze an zu weinen. Er weinte über sich selbst und sein verpfuschtes Leben, weinte über seine Einsamkeit und seine traurige Gefangenschaft.

»Buona sera! Come sta?«

»Pohl! Pohl! Mein lieber Pohl!«

Er sank dem alten Kameraden an die Brust.

»Pohl, wo kommst du her?«

»Dalla citta! Ich gomm auf Pesuch. Ich bin ausgegniffen. Mein Padrone is' nämlich ä Kamel. Carpo di Bacco, ich habe ihm eine krosse Packpfeife rundergehau'n. Da sind wir ausnander g'raten. Gannste mich nich in deiner Bäckerei anstellen?«

Schulze sah ihn melancholisch an.

»Armer Pohl!«

Und er gab ihm einen Geschäftsbericht.

Danach sahen sie sich an und schwiegen.

»E terribile«, seufzte Pohl endlich. »Es is kreilich! Nu werd' ich müssen die Packpfeife zurücknähm' und zu mein Padrone redour gehn.«

So saßen nun zwei am Backfeuer und wußten keinen Rat, wie sie sich durch dies hungrige Leben schlagen könnten. Traurig sang der Herbstwind vor dem Bäckerhause. Er blies in den Schornstein hinein wie in ein großes Schallrohr und schläferte das Feuer ein, das unten brannte. »Packer,« sagte Pohl warnend, »Packer, ich ferchte, dein Feier wird ausgehn.«

Schulze zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Was ist gegen ein solches Naturereignis zu tun?

Pohl fing nun an von Italien zu reden. Die große Sehnsucht nach dem südlichen Land, nach dem reichen Sonnenschein und dem tändelnden Wind, der das Leben dort so leicht macht, packte ihn – wie alle, die in Italien gewesen sind.

Und wie er so erzählte, gebrauchte er viele italienische Wörter und Phrasen, von denen er zwar wußte, daß sie der andre nicht verstand, die auch keineswegs immer richtig waren, aber er tat das so wie alle, die in Italien gewesen sind.

Und er suchte nach vielem Großen, Seltsamen, Merkwürdigen, das er da unten erlebt hätte und das er nun erzählen müsse in diesem herbstlichen Nordlande, um Staunen zu erregen, und er log dabei – wie alle, die in Italien waren.

Darauf erzählte er von einer kleinen süßen Margherita, von dem dunklen Glanz ihrer Schönheit, von ihrer frohen Art, von den Wonnen jener Liebe, und als er das sagte, übertrieb er sehr arg, wie alle, die in Italien geliebt haben; aber dann sprach er von Untreue, und da wurde er wahr in seinem alten Schmerz. Pohl weinte über sein verpfuschtes Leben und seine Verlassenheit.

Traurig sang der Herbstwind vor dem kleinen Bäckerhaus, und durch das welke Laub, mit dem er spielte, schritt mit schwerem Tritt ein Mann, öffnete die Tür und rief mit tiefer Stimme ins Haus hinein:

»Schulze, mach Licht!«

Da freuten sich die zwei, die drinnen waren, und jubelten, und Pohl vergaß auf allen fremdländischen Sprachschmuck und hieß in seiner schönen sächsischen Muttersprache den Fremdling willkommen.

»Schulze, mach' Licht!« wiederholte dieser. »Denn ich fürchte, daß ich dir deine Brote und Semmeln entzweitrete.«

»Sind noch gar nicht fertig, lieber Steiner. Setz' dich daher zu uns ans Backfeuer und erzähle!«

Aber Steiner erzählte nicht, er schimpfte. Er schimpfte auf das gesamte Menschenleben und die ganze Welt und konzentrierte diesen weitläufigen Zorn schließlich auf Fräulein Jettel Friedlieb.

Sie hörten ihm zu, und dann wies Pohl in einer reichlich mit italienischen Wörtern verzierten Rede nach, daß es auch ihm übel ergehe, da sein Chef ein Kamel wäre, weshalb er heute auf und davon gegangen sei.

Worauf Schulze von der Bäckerei sprach. Einfach ohne alles Toben und Zanken. Er gab lediglich einen Geschäftsbericht. Aber seine Rede machte von allen den traurigsten Eindruck.

Und so saßen nun die drei betrübt am Backfeuer, drei Unweise aus dem Abendlande.

Da stand Steiner auf und sprach durch die Finsternis:

»Ihr könnt weiter nichts als schimpfen und klagen. Ich aber als euer alter Chef werd' euch etwas Fröhliches sagen. Nächsten Sonntag mach'n wir in Pohlsdorf Tanzmusik.«

»Alle vier?« schrien sie freudig.

»Ja, natürlich alle vier. Fünf Mark pro Mann! Die Kerls wollten bloß vier Mark geben, aber das hab' ich ihnen angestrichen. Gute Musik ist gutes Geld wert, hab' ich gesagt. Und das sagt auch Dr. Friedlieb. Denn er schätzt unsre Musik.«

Sie staunten ihn an. Sie verehrten ihn. Er nahm das in Gelassenheit hin.

»Wenn wir unsre Sache gut machen,« sagte er, »dann bekommen wir nach und nach 'n gewisses Renommee, und dann beblasen wir die ganze Gegend.«

Sie staunten ihn an. Sie verehrten ihn. Es war klar, daß Steiner ein weitschauender Mensch, daß er in Wirklichkeit ihr Führer war. Sie fühlten die geistige Überlegenheit.

»Und der Hellmich – ich will sagen der Winter – wird sich auch freuen«, meinte Schulze.

»Molto rallegrarsi – molto – molto –. das is glar«, sagte Pohl.

»Robert is der einzige von uns, der Glück hat. Er wird heiraten«, verkündete Steiner.

»Heiraten?«

»Una moglie?« Sie horchten auf.

»Ja – Fräulein Christel Hartmann! Sie nimmt ihn manchmal bei der Hand, sie hat ihm schon Hemden und Unterhosen und ein'n neuen Anzug gekauft, und er sagt schon Christel zu ihr – einfach Christel.«

Das war erstaunlich!

Die reiche Gastwirtstochter! Einfach Christel sagte er schon. Hatte eine Menge geschenkt bekommen.

Und jeder von den Dreien dachte an eine andre Frauensperson, bei der er sein Glück versucht hatte – o je!

Traurig sang der Herbstwind ums kleine Bäckerhaus.

Steiner erschrak.

»Das heißt – das vom Robert darf niemand wissen. Da gebt mir mal euer Ehrenwort drauf.«

Sie gaben ihre »Ehrenworte«.

Nun war Stille. Jeder rechnete nach, was Robert für ein Glück hatte und wie wenig heraushängen würde, wenn er selbst von seiner eigenen Schönen erhört würde.

Das Herz war ihnen bedrückt, und sie dachten an ihr verpfuschtes Leben.

Bis Steiner sich aufs neue erhob.

»Kameraden,« sagte er, »warum macht ihr solche blödsinnig trübe Gesichter? Warum seht ihr so essigsauer aus? Geht's euch nicht ganz gut so?«

Das verneinten sie.

Da fuhr er fort:

»Es is eine Stelle frei. Eine sehr ehrenhafte, feine Stelle. Sozusagen eine Kaiserlich Königliche Stelle. Landhilfsbriefträger! – Der etatsmäßige Landbriefträger is behufs Krankheit 'n halbes Jahr beurlaubt. Der Herr Amtsvorsteher is um eine zuverlässige Hilfskraft angegangen worden. Sechzig Mark monatlich! Außerdem Stiefelgeld! Er hat natürlich zuerst an mich gedacht, weil ich Unteroffizier gewesen bin, Paris und Königgrätz mitgemacht hab, aber ich hab' gesagt: ›Herr Doktor,‹ hab' ich gesagt, ›ich hab' Kameraden, da werd' ich nich mir nichts, dir nichts so 'n fetten Posten wegschnappen, da muß ich erst mit meinen Kameraden sprechen.‹ – ›Sind 'n braver Kerl,‹ hat a gesagt, ›sprechen Sie mit Ihren Kameraden!‹«

»Das is anständig vor dir«, sagte Schulze der Bäcker. »Ich würd' mich ja für so 'n Posten begeistern. Denn wenn ich am Tage so sechs bis acht Stunden laufen könnte –«

Er machte Bewegungen mit den Armen wie ein flügelbeschnittener Storch in einem zoologischen Garten.

»Oh, oh, come mai! Ich hätt' ja sozusagen ooch was für mich«, meinte der Italiener. »Ich gönnte besser die Atressen lesen, wenn mal eene aus Idalchen gommen däte.« So sprachen die Leute am Backofen.

Steiner, der Philosoph, meinte: »Wir müssen losen. Robert wird für seinen Teil verzichten. Wir drei andern werden losen. Und wen's trifft, der mag sein Glück genießen.«

Sie beratschlagten, und dann losten sie.

Sie zündeten ein Licht an, und dann legten sie unter eine stroherne Brotschüssel ein Stück Kohle, das sollte heißen: »Du bist ein kohlschwarzer Pechvogel, mein Lieber«, und unter eine zweite Brotschüssel legten sie einen kleinen Kamm, das sollte tragikomisch andeuten: »Du kannst dich kratzen«, aber unter die dritte Schüssel legten sie eine Brotkrume, und das sollte das Siegeszeichen sein und heißen: »Du hast dein Brot gefunden.«

Dann stellten sie die drei ganz gleichen umgekehrten Schüsseln auf die glatte Diele und schoben sie schnell und wirr durcheinander, so daß am Ende keiner mehr wußte, was eine jede verdeckte.

Sodann drehte sich jeder noch dreimal um seine Achse, und dann losten sie.

Steiner wählte zuerst. Er zog die Kohle. Trübselig nickte er, und Nase und Mund wurden spitz wie bei einem Raben.

Pohl, der Italiener, zog den Kamm. »Kratz' dich«, sollte das heißen. Er fuhr durch seine langen Haare und betonte, daß er bei sich immer sehr auf Sauberkeit gehalten hätte.

Schulze, der Bäcker, zog das Brot, zog das Siegeslos, war Kaiserlich Königlicher Landhilfsbriefträger.

»Der einzige, der a nahrhaftes Gewerbe hat«, knirschte Steiner.

»A Klick hat der!« rief Pohl.

Schulze betrachtete sein Siegeszeichen.

»Ich fürchte,« sagte er, »ich fürchte, es wird ein saures Brot sein.«


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