Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Sechzehntes Kapitel

Robert ging nach der Küche zurück. Dort traf er Christel allein. Er fragte nach Lore. Sie wußte nicht, wo das Mädchen war.

Nun ging Robert Winter die Lore suchen. Er fand sie nicht in Haus und Hof.

Er stieg bis auf den Boden hinauf und fand sie nicht. Scheu starrte er nach den dunklen Ecken und Winkeln. Es ist furchtbar, auf dunklen Böden nach Unglücklichen zu suchen.

Nirgends!

Durch das Bodenfenster fiel noch fahler Lichtschein. Robert trat heran. Von hier aus hatte die lustige Lore mit ihrem roten Tüchlein gewinkt, als er mit seinen Kameraden Liebeslieder blies beim »Wächter« drüben jenseits des Teiches.

Der Teich!

Schwarz wie eine finstere Lache lag er da unten. Drohend und unheimlich.

Wenn die Lore ...

Das Wasser – ... das Wasser lockt schwache Weiber ... Ein töricht Märchen wird kleinen Kindern erzählt: Die Mütter empfingen ihre Kleinen aus dem Teiche.

Keine Mutter bekam ihr kleines Kind aus dem Teich; aber so manch Unglückselige hat ihr Kind in den Teich getragen.

Da eilt er die Treppe hinab, da läuft er hinaus ... »Lore! Lore! Liebe Lore!«

Der Wind pfeift ums Wasser, die Weiden biegen sich in frostiger Einsamkeit, der Ruf verhallt. Roberts Blicke suchen die schwarze Fläche ab, ob ein lichtes Kleid aufschimmere, ein Arm aus dunkler Tiefe noch einmal in letzter Verzweiflung sich weiß emporstrecke nach Leben und Rettung.

»Lore! Lore! Es ist alles gut! Gib Antwort!«

Die Weiden ächzen, ein schwarzer Vogel fliegt auf. Schatten und Nebel huschen hin und her, feucht und glitschig ist der tote Rasen.

Robert eilt, sucht das ganze Ufer ab, findet nichts.

Und steht wieder still und starrt das Wasser an.

Das liegt vor ihm in schwarzer Schweigsamkeit.

»Lore, ich bringe dir Hilfe!«

Er ist am andern Ufer. Da stehen die Weiden dichter, da muß er oft zwischen starken Ruten hindurchdringen, die ihm ins Gesicht schlagen.

»Lore, fürchte dich nicht!«

Da wimmert es zwischen zwei Weiden.

Er findet sie. Sie kauert am Boden, dicht am Wasser, den Kopf weit vorgeneigt zur Flut.

Mit eisernem Griff faßt er sie am Arm.

»Lore, du darfst es nicht tun!«

»Ich kann nicht ... ich fürchte mich so ... ich fürchte mich so...«

»Es ist Sünde, Lore, es ist schreckliche Sünde –«

»Ich fürchte mich so – die Tante – – ich soll fort – – ich weiß nicht wohin, o Gott, mir graut so vor dem Wasser!«

»Komm, Lore, ich muß mit dir reden!«

Mit Gewalt nur kann er sie vom Boden aufziehen. Sie hält sich an einer Weidenrute fest und leistet Widerstand.

»Ich will nicht nach Hause! Ich fürchte mich – die Tante hat mich geschlagen!«

»Du sollst nicht nach Hause. Ich bringe dich fort! Komm mit mir!«

Er zieht sie vom Teiche weg. Die grauen Nebel schleichen um die beiden. Die Nebelweiber hatten sich schon zum Totentanze gesammelt. Nun gehen sie mit verdrossenen Schritten über das leere Wasser ans jenseitige Ufer.

Robert hält immer noch das Mädchen fest am Arm und redet tröstend auf sie ein. Er erzählt ihr von ihrem Onkel Hartmann und daß alles noch gut werden könne.

Da wird sie etwas ruhiger und faßt einen zagen Mut. Lacht unter Tränen leise – krankhaft auf – – lacht dem Leben wieder entgegen. Aber als sie dem Hause nahe kommt, kehrt die Verzweiflung zurück.

»Die Tante! Sie hat mich geschlagen! Sie jagt mich hinaus.«

So führt sie Robert in Gottlieb Peukers Stube. Der Alte sitzt in trüben Gedanken am Tisch. Vor ihm liegt die Tabakspfeife, die er heute noch nicht angezündet hat. Ehe die beiden reden können, sagt er:

»Lore, du mußt fort! Du mußt deshalb fort, weil du dir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen kannst. Du hast gefehlt, das is wahr, am meisten hast du gegen, gegen – na ja, ich werd' nich auch noch 'ne Strafpredigt halten. Aber wie's deine Tante treibt, das is zu arg. Dazu hat sie gar kein Recht. Du hast die ganze Zeit hier in der Wirtschaft gearbeitet, viel Geld verdienen helfen und dafür wenig oder nichts gekriegt. Dafür wirst du bei der ersten unglücklichen Gelegenheit rausgejagt aus dem ›christlichen‹ Hause. Hier ist das Rausschmeißen Mode. Heb' 'n Kopp hoch, Lore, 's wird schon gehen, und wenn's nich anders geht, zieh' ich als Rentier, und du wirst meine Wirtin.«

Lore hört den alten Mann reden. Und in ihr, die vom Felde des Todes herkommt, ist ein Verwundern, wie dieser Mann so ruhig sprechen, wie er scherzen kann.

Die Wärme der kleinen Stube dringt auf das Mädchen ein, und es schüttelt sie, als ob ein tödlicher Frost aus ihr herausfahre. O, sie fühlt, daß es gut sei in dieser warmen Stube. – – –

Da überließ Robert Winter das Mädchen der Obhut des alten Freundes. Er ging hinüber ins Wohnhaus und kehrte nach einiger Zeit mit Christel zurück.

Christel brachte Mantel und Hut für Lore und ein kleines Paket mit den wichtigsten Sachen.

Robert brachte die Abschiedsgrüße des Onkels, eine Geldbörse und einen Brief.

Der Brief war an ein altes Ehepaar in der Stadt gerichtet, dem Hartmann einmal aus großer Not geholfen hatte und das er nun bat, die Lore aufzunehmen.

Sie verhandelten das Nötige – in kurzen, abgerissenen Sätzen, dann sagte Gottlieb:

»Mach den Abschied kurz, Lore! Geh in Gottes Namen!«

Sie stand langsam auf, reichte Gottlieb und Christel mit großen, irren Augen die Hand, fand kein Wort, keine Träne und ging.

Und der Sohn der Hagar ging mit ihr.

Hartmann sah durchs Fenster. Der Mond beleuchtete die Straße. Da sah er die zwei jungen Leute dahinschreiten. Sie gingen denselben Weg, den vor langen Jahren Martha Hellmich ging. Und Lore hatte ein kleines Päckchen in der Hand wie jene.

Aber das alte Tor war fort. Es war zusammengefallen in der Nacht, da Robert ins Haus kam.

Der Weg war damals geöffnet worden für diese zweite.

Langsam gingen die zwei.

Es waren zwei!

Die andre mußte allein gehen.

Allein in den Tod.

Alte Sünde stand auf in junger Reu'.

Auf altem Wege ging ein altes Geschick.


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