Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Neunzehntes Kapitel

Es war Juni geworden. Auf dem schmalen Fußwege, der vom Bahnhof her nach Teichau führte, schritt Dr. Friedlieb. Er trug eine leichte Reisetasche.

Bei einer Wegkreuzung zog er die Uhr, rechnete aus, daß jetzt Kaffeezeit sei und daß nach einer geraumen Weile hier die Christel vorbeikommen müsse, falls die Hartmannschen Leute auf den Waldwiesen beschäftigt wären.

Falls – ja falls – denn ob es wirklich der Fall sei, wußte er nicht. Er war anderthalb Tage lang verreist gewesen, Zeit genug, um auch in wichtigeren Dingen die Übersicht über die lokalen Geschehnisse zu verlieren. Doch er setzte sich an den blühenden Wegrand und wartete.

Und er hatte sich nicht verrechnet. Die Christel kam. Sie trug ein leeres Körbchen am Arm, in dem sie den Arbeitsleuten das Vesperbrot gebracht hatte.

»Herr Doktor, Sie waren verreist? Und wir hörten, daß auch Ihr Fräulein Schwester verreist sei.«

Der Doktor zog das Mädchen sanft neben sich an den Wegrand.

»Verreist – ja verreist – und Fräulein Schwester auch verreist – sie vorneweg, ich hinterher! – Sie is nämlich – – ausgekniffen!«

»Die Jettel? Ach!«

»Die Jettel! Jawohl! Ausgekniffen, desertiert, genau so wie dieser verfluchte Kerl, der Steiner, und die anderen Halunken. Einfach auf und davon! Na, Christel, unter uns gesagt, ich bin froh, daß sie fort is!«

Das Mädchen schwieg.

»Ja, sehn Sie, Christel, wir paßten einmal nich zusammen. Sie war mir zu dumm, und ich war ihr zu grob. Und das sagten wir uns bei jeder passenden Gelegenheit. Vorgestern früh hat die Jettel dem Winkler-Maurer 'n Taler geborgt, mittags hat er den Taler versoffen, nachmittags hab' ich's rausgekriegt und mit der Jettel Krach gemacht, und abends mit'm letzten Zuge fuhr sie ab. Alles an einem Tage! Es hat sich alles logisch und knapp entwickelt und abgespielt! Na, ich Hab' natürlich getobt, wie ich's rauskriegte, namentlich weil sie mir so 'n blödsinnigen Brief hinterlassen hatte. Der triefte von Sentimentalität und Unlogik. Immerhin, dachte ich, es is die Schwester! Wirst ihr mal nachfahren! Eigentlich, sagte ich mir, mußt du ihr gar nich nachfahren, denn wer fortlaufen will, der lauft eben. Aber – na ja, ich fuhr!« Er hielt inne.

»Und wo trafen Sie die Schwester?«

Dr. Friedliebs Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an.

»In einem Jungfernstift! O – Christel!«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Geschwindelt habe ich heute – geheuchelt – scheußlich! Zugeredet habe ich ihr, sie soll wieder mit heimkommen. Zugegeben habe ich, ich hätte unrecht gehabt, war' zu grob gewesen, und sie sei 'ne ganz patente Schwester. Na, und lauter solchen Quatsch! Denken Sie, sie hat sich bereden lassen? Keine Spur! Sie bleibt! Was die in dem Stifte Gutes stiften wird, ist mir unklar. Und ich sitz' dahier und weiß nich, ob ich mich ärgern muß oder ob ich mich freuen darf.«

Das Mädchen schwieg wieder.

»Wissen Sie was, Christel, ich werd' mich einfach freuen. Freilich, mein ganzes großes Hauswesen is jetzt ohne weibliche Aufsicht. Und das wird ja – das wird ja auf die Dauer – – hm ja!«

Auch er schwieg. Heimlich summten wilde Bienen in gelbem Ginster und blühendem Klee. Ein Schmetterling setzte sich auf einen schwanken Rittersporn vor die beiden Menschenkinder und schlug leicht mit seinen bunten Flügeln. Von fernher rief ein Kuckuck. Und die alte Linde am Wege streute weiße Blüten auf den Weg, auf Ginster und Rittersporn und auf das schweigende Paar.

Christels Augen irrten durch grünes Blattgerank ins tiefe Himmelsblau. Ihre Wangen blühten wie roter Mohn, und ihre Gestalt bebte leise wie die Ähren auf reifendem Felde.

Dr. Friedlieb hob eine kleine Schnecke auf, die sich durch den Sand quälte und setzte sie auf ein grünes Blatt. Eine Weile kämpfte er mit sich, dann sagte er:

»Christel, ich möchte mich einmal zu Ihnen aussprechen. Ich weiß, Sie sind klug, Sie werden mich verstehen, Sie werden mir auch nichts übelnehmen. Es ist ja schwer, was ich sagen will, aber ich will's nicht so ewig mit mir rumtragen; es wird mir leichter werden, wenn Sie alles wissen, und dann werden wir erst recht Freunde sein. Daß Sie aber nicht von vornherein erschrecken, sag' ich's bald: Heiraten will ich Sie nicht.«

Ein leichtes Zucken ging durch des Mädchens Körper, und ihr Auge wurde starr. Der Doktor bemerkte es nicht.

»Nein, heiraten will ich Sie nicht! So dumm bin ich nicht!«

»Sie – Sie sollen ja auch nicht«, sagte sie heiser. »Ich weiß – ich weiß! Ich hab' mir das selbst gesagt, und deshalb haben Sie nicht nötig, mir einen Korb zu geben. Ich weiß, daß Sie trotz allem und allem den Musikanten lieben –«

Sie sprang auf.

»Nein, das ist nicht wahr! Oder ich liebe ihn doch nicht so, wie man einen Mann liebt, den man – den man heiraten möchte!«

Er sah sie scharf an.

»Ach! – Was – was Sie sagen! Und es muß wahr sein, denn Sie lügen nie.«

Er sah sie ganz fassungslos an, und nun wurde sein Gesicht rot.

»Ich will jetzt gehen, Herr Doktor!«

»Wollen Sie nicht hören, was ich Ihnen anvertrauen wollte?«

»O ja!«

Langsam und müde setzte sie sich nieder.

»Also heiraten will ich Sie nicht!« begann er aufs neue. »Es wäre ja sehr albern von mir. Wie im Frühjahr die Musikanten ausgerückt sind, habe ich mich schwer geärgert; am meisten habe ich mich aber geärgert, daß gerade der eine nicht mit ausgerückt ist, der Winter! ›Was will der Kerl?‹ habe ich mich gefragt. ›Warum zieht er nicht mit seinen Kameraden? Hat er nicht als Musikant ein frohes Faulenzerleben? Und was hält ihn hier? Die Lotte ist fort; so kann's nur die Christel sein!‹ Sehen Sie, und das war mein Gram!«

Er schwieg ein bißchen, dann fuhr er fort:

»Es ist ja schrecklich dumm von mir. Es ist unmotiviert, es ist ruppig. Aber ich kann nicht anders. Denn der Winter würde dann hier im Dorfe bleiben; und das wollt' ich Sie eben bitten. Fräulein Christel: Wenn Sie mal heiraten, dann heiraten Sie nach auswärts.«

»Warum?«

Sie fragte in arglosem Staunen.

»Warum? – Weil – weil ich sonst fort müßte; denn hier im Dorfe Ihnen immer als der Frau eines anderen zu begegnen, das – das hielt' ich nicht aus. Das machte mich rasend, das brächte mich um!«

Groß richteten sich die Augen des Mädchens auf den Mann. »Seien Sie nicht böse, Christel, wegen dieses dummen Geredes; ich will Sie ja auch wirklich nicht heiraten, aber ich könnte es auch nicht mit ansehen, daß Sie die Frau eines anderen sind, weil ich Ihnen – weil ich Ihnen so rasend gut bin.«

Er ergriff ihre Hand und preßte seine Stirn darauf. Wie eine Bildsäule saß das Mädchen da mit weißer Stirn und entfärbten Wangen, ganz leblos; nur in den Augen brannte ein seliges Licht auf.

»Ich liebe Sie, Christel, ich liebe Sie, und wenn ich nicht einundzwanzig Jahre älter wäre als Sie, da wollte ich um Sie werben –«

»Ist es – ist es nur das Alter?« stammelte sie.

Er hob den Kopf hoch.

»Ja – was sonst? Nur das Alter! Nur das!«

Da stieß das stille Mädchen einen leisen Jubelruf aus und schlang die Arme um den Hals des Mannes und preßte das glühende Gesicht an das seine.

Dr. Friedlieb saß ein bißchen ganz still da und stand dann auf.

»Erlauben Sie – das – das ist mir nicht klar!«

Christel schlug die Hände vors Gesicht.

»Mädel, liebes Mädel, sieh mal, einundzwanzig Jahre –«

»Es ist – es ist ganz gleich – es ist gut so!«

»Gut so?« wiederholte Dr. Friedlieb in stupidem Tonfall. Dann setzte er sich nieder.

»Nein, nein, Christel, davon ist keine Rede! Ich durchschaue Sie doch! Aus dem alten, schnauzigen Doktor Friedlieb machen Sie sich doch im Grunde genommen gar nichts! Na, das wird Ihn'n niemand verdenken können! Aber Sie sind eine edle Natur, Sie wollen sich opfern, Sie wollen jetzt, da ich so alleine dastehe, sich opfern. Aber daraus wird nichts! Das wär' unrecht, wenn ich das annähme, wenn ich Sie auch – auch so über alles gern zur Frau möchte.«

Sie saß neben ihm, schaute ihn an, faßte ihn an beiden Händen. Tränen rannen über ihre Wangen, und dann schmiegte sie sich an seine Schulter und sagte ihm mitten im schweigenden Walde leise ins Ohr von ihrer Liebe.

Die wilden Bienen summten in Ginster und Klee, der Kuckuck rief von ferne, der Wind fuhr leise durch die blühenden Zweige der Linde.

Das Weib sucht bei dem Manne, den es liebt, Schutz. Selbst wenn es keinen Schutz brauchte, würde es doch solchen suchen, würde sich lieber absichtlich schwächer machen, als daß es der holden Gabe entbehrte.

Wilhelm Friedlieb und Christine Hartmann hatten den Wald noch nicht verlassen, als sie ihm die Not ihres Lebens offenbarte. Sie klagte nicht über ihre freudlose Jugend, nicht über die Mutter, aber sie mußte ihm das sagen, wofür ihre Seele keinen Ausweg sah.

»Der fremde Musikant – der Robert Winter ist mein Bruder!«

Dr. Friedlieb, dem sein Glück noch in den Sinnen lag, verstand sie nicht.

Da erzählte sie alles vom Eintreffen Roberts bis auf diesen Tag.

»Es war so schwer zu tragen – so schwer durchzuführen – ich hab' dich oft um Rat bitten wollen – ich durfte nicht – der Vater hatte es mir verboten. Aber jetzt muß ich dir alles sagen.«

Langsam begann der Doktor die schwere Sache zu verstehen.

»Und warum – warum sagt ihr 's ihm nicht? Ihr müßt ihm doch reinen Wein einschenken!«

»Der Vater fürchtet sich! – Die Mutter!«

Sie hatte geglaubt, die Entdeckung würde ihn in Erregung versetzen. Das war nicht der Fall.

Ganz ruhig, beinahe belustigt, sagte er:

»Richtig, die Mutter! Na, ein schrecklicher Angstmeier ist ja der Hartmann, gar kein richtiger Mann, und sie is 'ne böse Nummer! – Doch halt, verflixt, das werden ja jetzt meine Schwiegereltern! Siehst du, Christel, ich bin doch alt, ich kann nich in 'n richtigen respektvollen Schwiegersohnston reinfinden. Na ja, er fürchtet sich, – ich versteh' das – und gesorgt hat er für den Robert durch das Testament – das is nu wieder mal anständig von dem Hartmann! Wenigstens nach seinem Tode erkennt er das Kind an. Aber ich, ich alter Esel bin immerfort auf den Robert eifersüchtig gewesen! Auf den Bruder!« Sein glückliches Lachen hallte laut durch den Wald. »Was sollen wir denn machen? Gib mir einen guten Rat. Du bist so klug!«

»Nee, klug nich! Aber, sieh mal, Christel, ich werd' dir einen Rat geben: Wir könn'n nämlich gar nischt machen!« »Ja, siehst du,« fuhr er ernster fort, »ich will dich nicht ängstigen, aber es steht doch schlecht mit deinem Vater. Wenn einer mal so 'n Schlaganfall weghat, dann ist die größte Schonung notwendig. Wenn es jetzt zu einem heftigen Streit zwischen deinen Eltern käme, würde es wahrscheinlich deines Vaters Tod sein.« »Ich weiß es!«

Traurig sah Christel vor sich hin. Dr. Friedlieb grübelte darüber, wie er eine tröstende Zärtlichkeit anbringen könne; es fiel ihm aber nichts anderes ein, als daß er das Mädchen fest am Oberarm nahm. »Nicht so – nicht so betrübt sein, Christel, 's ist ja auch Unsinn! Der Robert hat 's doch ganz gut so. Das bissel Zeit, da dein Vater noch lebt, kann er sich gedulden. Und dann bringen wir schon alles ins richtige Geleis.«

»Wenn er aber vor der Zeit von uns fortgeht – wieder in die Welt hinaus –«

»Das müssen wir verhindern! Ausreißen laß ich ihn nicht! Die andern Musikanten sind mir zwar ausgerückt, die Jettel auch. Aber bei der Jettel hab' ich's gewußt. Jawohl, gewußt. Ich hab's gemerkt, daß sie zwei Reisekörbe packte. Pack' nur, pack', dacht' ich! Damit sie recht unbehelligt flüchten konnte, ging ich aus. In der Pappelallee Hab' ich gewartet, und als ich sie fahren sah, da – da sah ich nach der Uhr, ob sie auch 'n Schnellzug noch erwischen würde. Wie ich dann nach Hause kam, habe ich anstandshalber getobt, und am andern Tage bin ich nachgefahren. Alles nur zum Scheine! Das war 'ne Heuchelei von mir, 'ne Gefühlsroheit! Aber, zum Teufel, ich konnt' mir nich helfen. Sie hat mich zuviel geärgert.«

Das Mädchen lächelte ein wenig.

»Und wenn ich dich ärgern sollte?«

»Wirste schon, Christel, wirste bestimmt! Jede ärgert! Die eine oft, die andere manchmal! Die Jettel oft, du manchmal! Damit bin ich ganz zufrieden. Und sieh mal, Christel, sieh mal –«

Er schrieb mit seinem Stocke in den Sand: 45 = –24. »Also das ist eine Rechnung mit negativen Größen! Bist doch vier Jahre in die Stadtschule gegangen, wirst das schon kapieren. Also minus fünfundvierzig Jahre, das bin ich, und minus vierundzwanzig Jahre, das bist du! Verstehst du, jedes Jahr, das man lebt, ist minus eins. Man steigt in der Ziffer und sinkt im Werte. Es is wie bei den Schulden. Weniger ist da immer mehr. Also, wenn sich so 'ne minus fünfundvierzig neben eine minus vierundzwanzig stellt, das is eigentlich 'ne Mogelei! Und wenn sich da mal die Vierundzwanzig bissel mausig macht, da kann die Fünfundvierzig gar nischt dagegen knurren, denn sonst rückt die Vierundzwanzig aus, und die Fünfundvierzig steht allein da und zielt mit ihren zwei falschen Gleichheitsbalken ins Blaue.«

Dr. Friedliebs Augen glänzten. Er hatte das Gefühl, sich jetzt als Liebhaber unterhaltend und witzig gezeigt zu haben. Das kluge Mädchen sah lächelnd auf die Rechnung im Sande. Sie wies auf die –24. »Und wenn wir da dazurechnen, was an Hilflosigkeit und an Fehlern da ist und von der Fünfundvierzig abziehen die ganze Tüchtigkeit, die Herzensgüte, die Hochachtung –« Sie kam nicht weiter. Dr. Friedlieb zerstörte in Hast die Rechnung mit dem Stocke.

»Christel sei still, du hast von Mathematik keine Ahnung! Du kannst nicht zu reinen Zahlen bloße, nichtige Begriffe addieren. Aber du bist ein guter Kerl!«

Glückselig schaute er sie an. Und er reichte ihr die Hand. »Christel, paß auf, es wird fein werden!«

Ehe sie aus dem Walde traten, bekam er Lust, seiner Braut einen Kuß zu geben, aber es kam ihm zu peinlich vor, und so lenkte er sich selbst ab, indem er sich nach der Scharwenken erkundigte.

* * *

Während des Restes dieses seines Verlobungstages besuchte Dr. Friedlieb noch fünf Patienten, erwog mit dem Liebigbauern die Anlage eines Brunnens, zankte eine Magd aus, die sich für ihre Ausstattung beim Tischler einen »Glasschrank« bestellt hatte, versprach, ans Landratsamt einen Protest wegen ungerechter Verhängung der Hundesperre einzureichen, hatte einen Streit mit der alten Leipelten, weil sie ein Kopftuch unter dem Strohhute trug, und untersuchte die Hosentaschen einiger Dorfbüblein, ob sie auch brauchbare Schnäuztüchlein enthielten. Er fand einige Unordentlichkeiten und stellte fest, daß es nicht recht sei, wenn ein verantwortlicher Beamter wie er tagelang verreise. Nach dem Feierabend traf er Robert Winter auf der Straße. Er nahm den jungen Mann, der darob sehr erstaunte, mit in seine Wohnung.

»Setzen Sie sich, Robert, ich komme gleich wieder!«

Der Doktor brachte zwei Flaschen Wein und stellte sie auf den Tisch.

»Also, Robert, die eine Flasche is Sekt – kostet vier Mark fünfzig Pfennige – die andere ist Mosel – is unter Brüdern zwölf Mark wert. Woll'n mal erst die Mosel trinken.«

»Herr Doktor, ich weiß nicht – wie ich zu der Ehre –«

»Woll'n mal erst die Mosel trinken! 'ne Flasche Mosel für zwölf Mark is immer 'ne Ehre! Für Sie und für mich! Also, daß Sie sich nich etwa vor lauter Erstaunen verschlucken – ich Hab' mich verlobt!«

Robert Winter verfärbte sich ein wenig.

»Der Herr Doktor haben sich verlobt? – Auf der Reise?«

»Jawohl, Robert – ganz recht – auf der Reise! Ganz richtig geraten – auf der Reise! Mußte extra verreisen, um endlich mal dazu zu kommen.«

Der Doktor lachte, daß er sich schüttelte. Der Musikant aber saß ganz betreten da.

»Arme Christel!« entfuhr es ihm.

»Na, hör'n Sie mal, Robert, das find' ich nu nich gerade sehr höflich von Ihnen! Es ist ja wahr, ich hab' mir 's auch lange bedacht, aber –«

»Verzeihen nur der Herr Doktor, es is mir so rausgefahren, mir tut halt das Mädchen leid, der Herr Doktor wissen ja nich –«

»Was weiß ich nicht? Hat sich Ihnen die Christel anvertraut?«

Der Musikant nickte.

»Und da sagen Sie, das Mädel tut Ihnen leid?«

»Ja, ich sollte auch gewiß nichts verraten, es is mir jetzt so entschlüpft –«

»Raus mit der Sprache! Was hat sie gesagt? Ich muß das wissen! Sie wären ein grundschlechter Mensch, Robert, wenn Sie mir's nicht sagten. Es hängt alles davon ab, mein Glück, Christels Glück! Ist sie – ist sie unglücklich?«

»Ja, die Verlobung muß sie ja unglücklich machen!«

»Muß sie unglücklich machen? So! – So! – Muß sie unglücklich machen! Na dann – sowas läßt sich ja Gott sei Dank rückgängig machen.«

»O, nein, Herr Doktor, nicht doch – ich weiß ja nicht, was ich sag', sie kann ja ihren Sinn seitdem geändert haben.«

»Was heißt seitdem? Seit Sie mit ihr gesprochen haben? Seitdem den Sinn geändert? Sehr gut! Das ginge ja flinker wie bei einer Wetterfahne! – Man soll sich nich mit Weibern einlassen!«

Der Doktor hieb sein Weinglas auf, daß es zerbrach. Robert Winter saß mit bleichem Gesicht da.

»Was geht Sie das überhaupt an?« brüllte der Doktor auf ihn los. »Wann – wann haben Sie mit der Christel gesprochen?«

»O, es ist wohl über ein halbes Jahr her.«

Der Doktor starrte ihn an.

»Ein halbes Jahr? – Ja, Mensch, was – was haben Sie denn vor einem halben Jahr von meiner Verlobung sprechen können?«

»Von Ihrer Verlobung ja natürlich nicht, Herr Doktor; aber, ach Gott, ich war ja schuld, ich hatte mich da mal so dumm benommen, und da sagte mir die Christel –«

»Was sagte sie?«

»Es gibt nur einen Mann, den ich lieb hab' und den ich heiraten möchte, aber der gar nicht daran denkt, und das ist –« »Wer ist das? Wer? Wer ist der Kerl? Wer is der Lause-Wenzel?«

»Sie! – Sie, Herr Doktor!«

Dr. Friedlieb ging langsam um den Tisch und setzte sich aufs Sofa.

»Ich?«

Mehr war er nicht imstande zu sagen.

»Ja, Sie, Herr Doktor! Und wenn jetzt die Christel hören wird, daß Sie sich auf der Reise verlobt haben, da wird sie natürlich – sehr unglücklich sein, und weil sie so ein gutes, liebes Mädchen ist, tut sie mir halt leid.«

Dr. Friedlieb saß ganz still. Ganz leise nur grunzte er oder stieß ein kurzes, meckriges Lachen aus. Dabei zeigte er abwechselnd mit dem Zeigefinger nach Roberts Stirn und nach seiner Stirn. Schließlich sagte er langsam und mit großer Herzlichkeit:

»Robert, Sie sind ein Kamel!«

»Das heißt,« setzte er hinzu, »immer hübsch unparteiisch: ich bin auch eins. Also, sehen Sie, da liegt mein schöner Römer in Scherben, und der gute Wein auf Jettels guter gehäkelter Tischdecke. Weil wir Kamele sind! Also, Robert, jetzt werde ich Ihnen mal 'ne Sonne aufgehen lassen: die Christel, das is ja eben die, mit der ich mich verlobt habe.«

»A – ch! Die Christel? A – ch! Und Sie sagten auf der Reise?«

»Auf der Reise! Auf 'm Wege vom Bahnhof hierher! Hatte die Reisetasche und 's Paraplue dabei in den Händen und noch den Lokomotivruß im Gesichte.«

Kleine Mißverständnisse machen die Menschen rasch vertraut miteinander, sie schlagen leichte intime Brücken von Seele zu Seele. So bei diesen Männern, die sich bisher fast fremd geblieben waren.

Beim dritten Glase fragte Dr. Friedlieb:

»Also unpassend benommen haben Sie sich mal gegen die Christel? Sind ja 'n toller Kerl! Sowas hätt' ich Ihnen Duckmäuser gar nicht zugetraut. Was war denn los gewesen?«

Robert Winter war blutrot.

»Herr Doktor, ich kann – ich will – bitte, erlassen Sie mir das!«

Der Doktor brummte. Nach einer Weile sagte er:

»Ich kann mir's denken: Die Christel ist sehr freundschaftlich zu Ihnen gewesen, und da haben Sie gedacht. Sie sei in Sie verliebt.«

Den Musikanten faßte eine Beschämung. Er stand auf.

»Herr Doktor, ich möchte nach Hause –«

»Nee, nee, keene Spur! Ich hab' nämlich ganz dasselbe gedacht. Ja, sehn Sie, der Mensch kann sich täuschen. Wenn z.B. hier im Dorfe mal 'ne Witwe war, und ich kümmerte mich 'n bissel um sie, weil ich dachte, das wär' so meine Pflicht und Schuldigkeit, gleich dachten die alten Schachteln, ich hätte Absichten. Mit Witwen ist das überhaupt immer schwierig, die erschweren einem die soziale Fürsorge kolossal. Um mal auf was anderes zu kommen: Sehn Sie, Robert, von unserer Verlobung weiß außer Ihnen noch niemand was. Hartmann is krank, ich muß mal 'ne gute Stunde abpassen, daß ich 's ihm sage, sonst erschrickt er am Ende zu sehr, weil ich doch einundzwanzig Jahre älter bin. Der Frau gönn' ich 's ja, denn der würde ich kaum sehr grün werden, und wenn ich Sultan wäre und von ihr dreißig Töchter heiratete. Aber sie würde raufgehen und 'm Alten 'ne Szene machen. Also muß ich mir 's verkneifen und kann sie mit der Verlobung erst später ärgern. Der Berthold is 'n dummer Kerl; also sind von der ganzen Familie bloß Sie übrig, dem ich mich anvertrauen kann.«

Robert Winter lächelte ein wenig.

»Von der ganzen Familie sagen der Herr Doktor?«

Friedlieb erschrak ein bißchen und nahm sich vor, sich nicht zu verraten.

»Ja, nu ich meine, Sie sind doch so 'n bissel was wie Pflegesohn. Sie sind doch nich wie 'n gewöhnlicher Angestellter. Sie müssen doch jetzt die ganze Geschichte dort über Wasser halten. Na, und die Christel, die behandelt Sie doch wirklich wie 'n Bruder.«

Der Musikant saß vor dem Doktor mit roten Wangen. »Ja, das ist wahr! Wenn ich eine Schwester hätte, sie könnte nicht besser zu mir sein als Fräulein Christel. Und deswegen erschrak ich vorhin so, und deswegen freu' ich mich jetzt so, daß es zwischen ihr und Ihnen, Herr Doktor, so gekommen ist.«

Dr. Friedlieb wandte sich ab und trat ans Fenster.

»Freilich,« fuhr Robert fort, »freilich für mich ist es schlimm, denn wenn Fräulein Christel aus dem Hause fortgeht, dann werd' ich auch nicht mehr bleiben.«

Mit einem Ruck drehte sich Dr. Friedlieb wieder um. »Das ist Unsinn! Unsinn ist das! Greulicher Unsinn! Mensch, das werden Sie nicht tun, Sie werden auf alle Falle dableiben, auf alle Fälle abwarten!«

»Herr Doktor, das können Sie mir nicht verdenken! Ich bin mit meinen früheren Kameraden nicht fortgegangen, ob sie mir auch so zugeredet haben. Ich wollte aushalten, hauptsächlich der Christel wegen, weil die immer freundlich war, weil ich immer spürte, die hat mich gern, der bin ich nicht im Wege.«

»Und wem sind Sie denn im Wege? Doch nicht Herrn Hartmann?«

»Nein, dem auch nicht, der ist auch gut zu mir! Sehr gut! Aber jetzt ist er krank, ich sehe ihn oft viele Tage nicht. Aber die Frau und der Berthold –«

»Der Berthold auch?«

»Früher vertrugen wir uns. Aber jetzt, wo er so anders is, da die Lore fort ist, wo er mit allen liederlichen Mädeln rumzieht, da – ich hab' ein paarmal ihm zugeredet, und seit der Zeit ist's aus. Gestern hat er mir gesagt, ich hätte auf seinem Hofe gar nichts zu suchen.«

»Der Berthold ist 'n Trottel! Bei dem langt's in keiner Weise, weder hin noch her. Aus dem werden Sie sich nichts machen.«

»Aus ihm nicht so viel, aber aus der Frau! Sie regiert nu das ganze Haus, und sie kann mich nich leiden, ich weiß, ich bin ihr geradezu verhaßt. Gestern, wie der Berthold das zu mir gesagt hat, hat sie laut gelacht. Sehn Sie, wenn man da 'n bißchen Ehrgefühl hat, da muß man doch gehen. Ich weiß nich, was die Frau gegen mich hat, aber sie will mich raushaben. Ich bin ihr ein Dorn im Auge. Sie zeigt mir das bei jeder Gelegenheit.«

Dr. Friedlieb ging aufgeregt durch die Stube.

»Ich glaube das gern, Robert! Aber das muß man eben auf sich nehmen. Denken Sie, wenn die jetzt meine Schwiegermutter wird, ich werd' 'n leichten Stand haben? Aber fortlaufen kann ich deswegen nicht. Und wo wollen Sie denn hin? Ich würde sagen: ziehen Sie zu mir! Aber das will ich doch jetzt der Familie nicht antun, wo ich heirate. Sie sind ja auch dort gar nicht zu entbehren. Die Frau is bloß so vernagelt, sie müßte ja froh sein, daß Sie da sind.«

»Sie sind so gütig zu mir, Herr Doktor, so von Anfang an und immer –«

»Nu nee, immer nich! 's hat Zeiten gegeben, wo auch ich Sie zum Deibel gewünscht habe. Na, wegen der Christel! Weil ich so albern war, zu denken, das Mädel könnte in Sie verliebt sein. Aber jetzt, Robert, das können Sie glauben, bin ich Ihr bester Freund. Eh' ich Sie fortlaufen ließe, eher wartete ich mit der Hochzeit; na, und das könn'n Sie nicht verlangen. Sie werden dableiben, Robert, aushalten, abwarten, auch wenn die Christel nicht mehr im Kretscham ist! Sie können zu uns kommen jeden Tag.«

In tiefer Bewegung streckte der Musikant dem Doktor die Hand hin.

»Ja, Herr Doktor, ich werde dableiben, auch wenn die Christel heiratet.«

»So ist's recht! So ist's abgemacht! Es wird alles gut werden!«

Es klopfte. Eine Magd brachte ein Telegramm. Hastig öffnete es Dr. Friedlieb, entfärbte sich und sank aufstöhnend auf einen Stuhl.

»Sie – sie kommt wieder!«

»Was ist denn, Herr Doktor?«

»Die Jettel – sie telegraphiert: ›Weil du alles eingesehen hast und zugibst, daß ich nie schuld bin, komme ich morgen zurück. Deine treue Schwester.›«

Ein grimmiges Gelächter durchschüttelte seinen Leib.

»Weil ich alles eingesehen habe, weil ich zugebe, daß sie nie schuld ist, da – da kommt sie wieder! Die treue Schwester! Ich – ich werd' 's ihr anstreichen! Ich schmeiß' sie raus, ich will sie nicht mehr, ich will endlich meine Ruhe, ich will heiraten –«

Er grübelte düster vor sich hin. Dann setzte er ein Telegramm auf: »Bleiben. Ich komme morgen hin. Dr. Friedlieb.« Und schickte es durch einen Eilboten nach der Stadt.

»Nu kann ich morgen wieder verreisen,« knirschte er, »und alles das, was ich gestern und heute so – so rein anstandshalber geschwindelt habe, widerrufen. Bin der Blamierte! Hätt' ich sie einfach laufen lassen, wär' ich schön heraus! Wie ein Märtyrer ständ' ich da in meiner Verlassenheit! So – so muß ich sie – nein, Robert, man soll nicht schwindeln, nicht anstandshalber und nicht aus Verlegenheit oder Mitleid. Die Lüge ist ein Sumpf, auf den man nicht bauen kann, der einzig feste Grund ist die Wahrheit, auch wenn sie kantig und rauh und felsenhart ist. Ach, wenn man immer die Wahrheit sagen könnte!«

Er sah den Musikanten mit tiefer Bewegung an.

»Die ganze Wahrheit! Aber es gibt Fälle, wo einem der Mund verschlossen bleibt gegen allen guten Willen.« –

Als Robert Winter an diesem Abend nach Hause ging, war sein Herz leichter als sonst, und in seiner Seele dämmerte ein Heimatsgefühl auf.

Doch als er in den Kretscham trat und daran dachte, daß die Christel das Haus bald verlassen werde, faßte ihn ein Frösteln in der Sommernacht.

Und ein eigentümlicher Gedanke fiel ihn an:

Die Christel würde ihm, um heimisch zu werden, mehr fehlen als die Lore, die er so leidenschaftlich geliebt hatte.


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