Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Vierzehntes Kapitel

Es war im Februar. Die Luft war feucht und frühlingswarm. Der Himmel hing voll Regen. Der Abend brach an.

Lore ging langsam durch die Pappelallee, die von der Stadt herkam. Zweimal blieb sie stehen, wandte sich um und ging ein paar Schritt zurück auf die Stadt zu.

Ach, es war zwecklos. Er war doch nicht zu Hause. Fünfmal war sie in seiner Wohnung gewesen. Ganz vergebens.

Hatte er es geahnt, daß sie kommen würde, war er absichtlich fortgegangen?

Nach Teichau kam er nicht mehr.

Zum Sterben müde setzte sich das Mädchen auf einen Straßenstein.

Sie zog einen zerknitterten Brief aus der Tasche und las wieder die eine Stelle:

»Um zu heiraten, ist mein Gehalt zu klein. Wir müßten uns zu sehr einschränken. Später, wenn ich mehr Einkommen habe, werde ich Dich heiraten. Unterdessen mußt Du sehen, wie es sich einrichten läßt.«

Da faßte das Mädchen der alte Trotz, sie ballte die Hände und mit zornerfüllter Stimme sagte sie: »Lump! Lump! Lump! Und gerade du!«

Die Müdigkeit kam wieder, die schwere furchtbare Angst. Lores Gesicht wurde weißgrau wie das Restchen Schnee am Wegrand; sie glitt vom Stein auf den Boden und wußte nichts mehr.

So lag zweifaches junges Leben einsam auf der feuchten Straße in herabdämmernder Nacht.

Der Wind wurde kalt. Es war noch zu zeitig zu knospendem Lenz. Der Wind wurde todesscharf. Und er drückte Lores blonde Locken in den Schmutz.

Arme, dumme Lore, wenn du gewartet hättest, bis dein Frühling kam, lägst du mit deiner blühenden Hoffnung in prangenden Blumen.

Die Pappeln ächzten und schüttelten die Köpfe, als entsetzten sie sich nach alter Weiber Art über das sündige Kind.

Eine Lerche duckt sich am Wegrand. Sie hat sich betrügen lassen von der milden Luft, ist zu zeitig aus dem sicheren Süden zu ihrem kalten Nest gekommen, und nun sind in der Winternacht ihre Lieder erstorben, und sie wird erfrieren in ihrem kalten Nest und die glücklichen Lieder ihrer Schwestern nicht mehr hören.

Ein Strauch streckt seinen Zweig über das regungslose Mädchen. Dieser Zweig stand immer an der lustigen warmen Südseite. Er öffnete zu früh seine Knospen, und er allein wird leer und tot sein, wenn die andern Zweige Blätter tragen. – – –

Da kam die Straße entlang Robert Winter gefahren. Er hatte die Lore nach der Stadt gebracht und sie da verloren, hatte sie lange gesucht und endlich gehört, sie sei nach Hause gegangen.

In scharfem Trabe fuhr er die Straße entlang. Das eine Pferd bäumte auf, wurde scheu, sprang zur Seite. Ein Blick zeigte Robert eine menschliche Gestalt am Boden. Die Pferde gingen ihm durch. Weithin erst den Hügel hinauf brachte er sie zum Stehen. Da ging er zurück und fand die Lore.

Zuerst schrie er auf und rief laut ihren Namen.

Dann kniete er sacht bei ihr nieder.

Schaute sie an ... schaute sie an ...

Starrte ihr lange ins bleiche, veränderte Gesicht.

Wie schwere aufgeregte Sturmzuckungen gingen wilde Gedanken durch seine Seele.

Er fand den Brief – las ein paar Worte ...

Da kam die Erkenntnis wie ein greller Blitz.

Er sah ihre kranzberaubte Stirn. – – –

Langsam stand er auf. Die Arme hingen ihm schlaff herab, die Brust sank zusammen, der Kopf fiel schwer nieder.

Es war still in ihm, wüst und öde, als er sah, daß junge Ehre im Schmutz lag und junges Glück verdarb.

Und er lehnte sich an den Stamm einer Pappel und schloß die Augen.

Er hörte den Baum ächzen, hörte, wie der Strauch am Wegrande wimmerte und wie ein Vogel sich aufhob mit müden Flügeln.

Dann wurde seine Stirn rot, und die Gedanken kehrten wieder.

Er wußte, daß es aus war mit allem Hoffen und Bangen. Über das nächtliche Feld schlich die Verzweiflung an ihn heran, stechender Schmerz und tobender Zorn.

Stürz' dich auf sie, rüttle sie wach, ziehe sie zu Gericht! Er stand vor ihr, ächzend, bebend, rasend.

Aber als er sie wachrütteln, sich austoben wollte mit seiner beleidigten, verratenen Liebe, war es ihm, als sei plötzlich jemand hinter ihn getreten.

Eine Frau.

Die faßte ihn an den geballten Händen und legte den Kopf auf seine zuckende Schulter und sprach mit fremder Stimme:

»Tue ihr nichts zu leide! Siehe, so lag auch ich am Boden, als du noch schliefest vor dem ersten Morgenhauch deines Lebens. So lag ich mit dir in Nacht und Not. Nun bin ich weit. Aber ich kenne den, der mich begnadigt hat; der Magdalenen begnadigt hat. Tue dieser nichts zuleide!«

Da preßte Robert Winter die Hände vors Gesicht und weinte, und seine warmen Tränen fielen auf Lores Füße. Dann hob er ihren Kopf hoch und streichelte ihre Wangen. Da kam sie zu sich.

Sie sah ihn mit furchtsamen Augen an, und in halber Bewußtlosigkeit sagte sie:

»Schlage mich nicht!«

Da küßte er sie auf ihre kranzberaubte Stirn und richtete sie auf. Er kniete nieder neben ihr, putzte den Schmutz von ihren Kleidern und reichte ihr den Brief. Sie stand regungslos wie in schwerem Traum.

Dann legte er sacht den Arm um sie und sagte:

»Lore, fürchte dich nicht, ich werde dir helfen!«

Er hatte mit diesen Worten Vieles und Schweres gesagt. Sie ging schweigend neben ihm hin. Endlich sagte sie: »Er ist schlecht zu mir.«

Er entgegnete ihr:

»Diese sind alle schlecht!«

So erreichten sie das Gefährt, das dunkel am Wege stand. Es war finster geworden, die Pferde froren.

Da schauerte Lore in sich zusammen.

»Ich will nicht heim! Ich fürchte mich vor der Tante!« Er redete ihr zu, aber sie wollte nicht in den Wagen. So ergriff er die Zügel und ging langsam mit ihr neben dem Wagen her.

Der schwarze Wagen zog den schwarzen Weg entlang, als würde drin eine tote Zukunft zu Grabe gefahren.

Im Dorfe nötigte er sie in das Gefährt.

Vor dem Hause wartete sie, bis er die Pferde in den Stall geführt hatte, dann trat sie mit ihm in die Küche.

Beide waren leichenblaß.

Auf dem Küchentisch stand das Abendbrot bereitet. Die Lampe brannte, es war heiß. Und es waren alle da: Hartmann, die Frau, Christel, Berthold, auch der alte Gottlieb Peuker.

»Wo bleibt ihr denn so lange? Wie seht ihr denn aus?« Die Frau musterte Lore mit scharfen Blicken.

»Du bist ja so schmutzig! Was ist mit dir, Mädel?«

Da war es aus mit Lores Kraft, sie sank in beide Knie und gestand in zitternden, weinenden Sätzen ihre Schande. Neben ihr wie ein Beschützer stand Robert Winter. Er hatte die eine Hand auf Lores Schultern gelegt.

Die andern saßen wortlos, hörten eine schwere Beichte, die sie nicht fassen konnten.

Berthold regte sich zuerst. Er brach in lautes Schluchzen aus. Das löste auch der Frau die Zunge.

Sie sprach, überschlug sich in der Rede, kreischte, raste auf und ab und hatte kein andres Wort für Lore als »Frauenzimmer«. Dann begann sie zu weinen.

Da erhob sich Gottlieb Peuker und sagte:

»Frau Hartmann – Sie sollen nich schimpfen – Sie sollten 'm Herrgott danken. – Sie waren immer glücklich – Sie waren nie hübsch – Sie waren nie lebenslustig – Sie waren nie in Versuchung – da könn' Sie eigentlich gar nich mitreden. – Hübsche Mädel haben's schwer auf der Welt.«

Als die Frau beleidigt auffahren wollte, sagte er milde,: »Ich weiß ja – Sie wollen, daß das nich wär' – wir wollten's alle – daß keine Aufregung und Gerede würde – und Sie haben ja recht, Frau Hartmann – aber da läßt sich bloß mit gutem Willen was machen.«

Der kranke Hartmann sah von seinem Lehnstuhl aus mit halb geistesabwesenden Augen die Lore knien.

Auf derselben Stelle in dieser Küche hatte vor sechsundzwanzig Jahren die andre gekniet.

Und er sah, wie der alte Gottlieb Peuker und Robert Winter die Lore sacht vom Boden aufhoben.


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