Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Zehntes Kapitel

Stille Novembertage.

Die große Einsamkeit auf allen Fluren. Den ganzen Tag liegen sie stumm und müde; nur am Morgen und Abend werden sie lebendig.

Dann tanzen die Nebelfrauen ihren Reigen. Von den Wiesen und Wasserbächen kommen sie her, wo sie sich gebadet haben, huschen im flatterhaften Gewande heran und tanzen ihre wirren Tänze, und die Weiden schauen zu wie alte Herren, die an losem Spiel noch einmal Ergötzen suchen.

Das ist dann, wenn ein leichter Wind die Weise spielt. Wenn es ganz still ist, dann gehen die Nebelfrauen schwer und müde in ihren grauen Schleiern wie zur Totenfeier, und wo sie gegangen sind, hängen an allen Halmen und Erdschollen Tränen. Sie weinen, der Wind sei gestorben, und leichtfertig Volk weint schnell.

Bis der Wind ausgeschlafen hat und als Sturm erwacht. Dann kommt der große Hexensabbat, dann fliegen die Nebelfrauen durch die Luft, tanzen auf den Spitzen der Baumkronen, rupfen den Hahn auf dem Kirchturm, machen ihre waghalsigen Sprünge von den Bergen in die Täler, von den Tälern auf die Berge, und die alten Herren am Bachrand beugen die Häupter, denn diese Tollheit ist über ihren Geschmack.

Selten einmal sind die Nebelfrauen häuslich. Bei ganz klarer Luft bleiben sie den Tanzsälen fern und halten sich verborgen. Dann sieht man nur aus einem fernen Waldgrund einen leichten Rauch aufsteigen. Dort kochen die Nebelweiblein ihr Mahl und flicken die zerrissenen Gewänder.

Die große Einsamkeit auf allen Fluren. Den ganzen Tag steht der alte Wegzeiger an der Straße dicht am Dorfe und zeigt mit seinem Arm nach der Stadt. Keiner kommt, der ihn um Rat früge. Langweilig ist solcher Dienst und auch beschämend für einen rüstigen Greis. Die Linde neben ihm beklagt sich manchmal, daß sie die Mäuse in die Füße beißen und sagt, das sei so listig, als wenn ein Mensch Flöhe in den Strümpfen habe. Das mag sein, aber es ist doch immerhin eine Abwechslung. Ihn beißt keine Maus; nicht deswegen, weil er ein Mann von amtlichem Charakter ist, sondern weil er einen dicken, schwarzen Teerstrumpf anhat, den die Mäuse meiden. Immer nur jahraus, jahrein zu sagen: »Nach Soolberg sechs Kilometer« ist stupide, namentlich da alle Leute, die vorbeikommen, ihn gar nicht um seine Weisheit befragen, sondern schon selber wissen, daß diese Straße nach Soolberg führt. Auch sein Brustschild: »Das Betteln ist in diesem Dorfe streng verboten« macht ihm wenig Freude. Die Fechtbrüder, die vorbeikommen, können wahrscheinlich nicht lesen, denn nicht einer erschrickt vor seinem Brustschild, und sie betteln alle.

Was gilt's? Er wird sich das Leben nehmen. Sich in einer dunklen Nacht quer über die Straße legen und von einem schweren Wagen überfahren lassen.

Da kam eines Tages Dr. Friedlieb daher und blieb beim Wegzeiger stehen. Der wußte als kluger Mann des Wegweisers Leiden, wußte, daß er sich über die Leute grämte, über die Fuhrwerke, die Fechtbrüder und über die Mäuse. Er bedauerte ihn aber nicht, sondern klopfte ihm mit dem Spazierstock ans Bein und sagte: »Brumme nicht, hölzerner Kerl, ein Dorfwegzeiger is keine Litfaßsäule, und ein Amtsvorsteher is kein Landrat.«

Und ging weiter. War auch in schwerer Einsamkeit. Vormittags ging er angeln. Saß sich müde am großen Teichrande. Fing eine Menge Fische und verschickte sie ins Dorf. Mußte aber selber öfter nachsehen gehen, ob die Fische auch richtig zubereitet wurden, denn die Scherwenken hatte einmal zwei prächtige Schleien in den Mist vergraben, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wußte. Dann grübelte er am Teichrande darüber nach, ob er ein Kochbuch für die Dörfler schreiben solle. Aber er konnte selbst nicht viel kochen. So ließ er's.

Nachmittags ging er auf die Jagd. Oft bekam er sentimentale Anwandlungen und ließ zwei oder drei Hasen laufen. Dann schaute er ihnen nach, und wenn er sie in sicherer Entfernung halten sah, wußte er, was sie sprachen: »Siehst du, Alte, du hattest die Wache, und wenn der Dr. Friedlieb nicht so dumm wäre, hätte er durch deine Unachtsamkeit eines von uns erwischt.« »Sei still, Alter, wenn er deine zweite Frau erschossen hätte, wäre das ganz gut gewesen.«

Dann sah der Doktor, wie die beiden Hasenweiber sich balgten und schritt befriedigt weiter.

Wenn ihm dann aber – die Christel einfiel und der junge Musikant, den er selber ins Hartmannsche Haus gebracht hatte, war all seine gute Laune dahin, und die Einsamkeit der Felder fiel ihn an. Dann kam er sich plötzlich mit seinen fünfundvierzig Jahren alt und lächerlich vor, wie einer, der Jugend, Liebe und Glück versäumt hat und im Herbst nach Veilchen sucht. Alt! Lächerlich! Dumm! Er ertrug das nicht lange, er kehrte heim und zankte zur Ablenkung mit seiner Schwester Jettel, die er für noch älter, lächerlicher und dümmer hielt, als er selbst war. Oder er ging ins Dorf und revidierte die Luft in den Bauernstuben. Er hatte es längst so weit gebracht, daß die Stuben gelüftet wurden und auch überall ein Thermometer war. Wer kein Thermometer hatte und nicht die Stuben lüftete, durfte sich auf die peinliche Gegnerschaft des Amtsvorstehers gefaßt machen. Der machte ihm mit allerlei Polizeimaßregeln das Leben sauer und kehrte sich nicht daran, daß der Amtsvorsteher dem Doktor zuliebe parteiisch war. Wer unhygienisch lebte, war bei ihm verloren.

Sein Lieblingsplan war die Einrichtung eines Volksbades. Drei Dinge gehören dazu, meinte er, aus unserer Bauernbevölkerung Menschen von Eisen zu ziehen: erstens gute Stubenluft, zweitens Gemüsegenuß, drittens Baden. Wenn das erreicht würde, dann müßte bei der kerngesunden landwirtschaftlichen Arbeit ein Durchschnittsalter von hundert Jahren leicht zu erreichen sein.

Und ob er sich jedesmal bei seinem Gange durchs Dorf vornahm, das Hartmannsche Haus zu meiden, am Ende ging er immer wieder hin. Nicht der Christel wegen, redete er sich vor, nein, um ein Glas Bier zu trinken, um zu beweisen, daß er kein Abstinenzler sei, um andererseits durch seine Gegenwart andere von der Unmäßigkeit abzuhalten.

Wenn ihn dann Hartmann bediente, plauderte er verdrossen eine halbe Stunde mit ihm, bekam ihn bald satt und behauptete plötzlich, Hartmann müsse sich mehr um seine Bauernwirtschaft kümmern. Den ganzen Tag in der Gaststube sitzen, sei nichts für ihn. Frau Hartmann bediente nie Gäste, das war ihm lieb, denn er vertrug sich nicht mit ihr. Blieb der Flederwisch, die Lore. Mit der hatte er immer Krieg. Sie hatte keinen Respekt vor ihm. Früher paßte ihm das, da nahm er sie gern mal an den rosigen Ohren, jetzt fand er sie leichtfertig und kindisch und knurrte sie an, wenn sie ihm absichtlich eine uralte Zeitungsnummer vorlegte oder sonst einen Possen trieb.

Oft quälte er sich lange und ging am Ende doch nach der Küche hinüber, wo er sich brummend und mit irgendeiner Ausrede einschmuggelte und die Christel fand, die er vergeblich in der Gaststube erwartet hatte. Dann saß er auf einem Küchenstuhl und erzählte gleichgültige Geschichten. Und er war friedlich in sich. Es war ihm immer, als hätte er den ganzen Tag lang nur diesen einen Stuhl gesucht, als könne er auf keinem anderen ruhen. Die Christel polterte nie bei der Arbeit, wie die Jettel, sie stellte nie eine dumme Frage, sie gab nie eine alberne Antwort, wie die Jettel. Sie verstand ihn, ja sie konnte ihm sogar widersprechen, ohne ihn zu reizen. In dieser Küche war keine tote Einsamkeit, hier war Friede und stille Freude.

Einmal trat Robert Winter ein. Er hatte nur etwas zu bestellen. Dabei hustete er leicht.

»Sie haben sich wohl erkältet, Robert?« fragte Christel besorgt.

»Ach, das hat nichts zu sagen, Christel«, sagte der und ging. Dr. Friedlieb gab dem Kohlenkasten einen Fußtritt. »Was das für ein ›Gechristel‹ und›Geroberte‹ is! So'n blödsinniger Lausehusten hat gar nichts zu bedeuten.« Christel sah ihn erschrocken an, wandte sich um und schwieg. Das brachte den Doktor in Verlegenheit. Einen schweigenden Gegner konnte er nicht gebrauchen, wenn er schimpfen wollte. Als das Mädchen still weiterhantierte, hatte er das peinliche Gefühl, eigentlich sei er ein Grobian, der Ursache hätte, sich selbst am Kragen zu kriegen und hinauszuwerfen.

»Ich will ja nich schimpfen,« begann er aufs neue, »aber wegen einem bissel Husten – tja, natürlich dürfen Sie ihn ja fragen – selbstverständlich – und da hat Ihnen – kein Deibel was reinzureden – ich meine ja auch bloß, so schlimm is es nich – und Sie können ihm vorläufig Spitzwegerich, Fenchel und Hirtentäschelkraut untereinanderkochen – tja, das is ja richtig – aber das ›Robert‹ sagen und dann – dann so kurzweg ›Christel‹ – das – das wundert mich eben.«

Da sah sie ihn mit ihren tiefen Augen, die er so liebte an ihr, ernst aber freundlich an und sprach: »Er arbeitet für meine Eltern, ich arbeite für meine Eltern; deswegen sagt er ›Christel‹ zu mir und ich ›Robert‹ zu ihm. Und Freundlichkeit braucht er, denn er ist ein sehr armer Mensch.«

Stand der Herr Dorfreformer da mit rotem Kopf. »Freundlichkeit braucht er! Tja! Sie meinen, der Dr. Friedlieb is 'n alter Esel – reden Sie nich rein, das weiß ich besser – 'n alter Esel, der erst die Leute ansässig macht und sie dann schlecht und ohne alle Freundlichkeit behandelt. Haben recht, Christel, haben recht! Ich bin 'n Unglückskerl! Eh' ich mich's verseh', bin ich grob, ungerecht, schnauzig und ruppig. Haben ganz recht! Freundlichkeit! Da liegt der Hase im Pfeffer. Mit Freundlichkeit läßt sich die Welt erobern. Die liebe Sonne am Himmel is weiter nischt als freundlich. Na, Christel, geben Sie mir Ihre Hand – Ihre gute Hand, – Sie wissen ja – das heißt, Sie wissen eigentlich gar nichts – Sie haben gar keine Ahnung – nein, nein, wirklich, Sie haben keine blasse Idee – die Hauptsache is, daß es eben wirklich weiter nichts is wie Freundlichkeit – wie – wie – na, wie soll ich sagen? – wie ganz gewöhnliche christliche Nächstenliebe!«

Sie sah den Mann, der ihre Hand festhielt, ernst an und schwieg.

So standen sie ein paar Sekunden lang. Da lief ein Zittern durch Dr. Friedliebs Hand.

»Christel – Christel ist es mehr – ist es noch etwas anderes?«

»Ja.«

Er ließ ihre Hand los.

»So wollen Sie ihn heiraten?« fragte er.

Sie machte eine heftige Gebärde.

»Nein – nein!«

Dann wandte sie sich ab von ihm. Er stand noch eine Minute lang mit gesenktem Haupte da, dann ging er zur Küche hinaus.

Er ging nach Hause und saß lange am Fenster seines Arbeitszimmers. Sein großes, stolzes Haus lag auf einer Anhöhe, und man konnte von da das Tal übersehen. Friedliche Nacht dort unten. Kein Sturm und böses Wetter. Heimlich blitzten die rötlichen Lampenlichter auf und der Doktor wußte, daß friedliche Menschen im Tale wohnten. Wohl hatte so mancher seine Kümmernis, aber keines einen schweren Kummer. Ohne daß er's wollte, fiel dem Doktor ein, er habe wohl Anteil, habe wohl sein Verdienst an diesem Frieden. Da schüttelte er den Kopf. Nun ja, ein paar Dutzend Menschen hatte er das Leben gerettet, aber das hätte ein anderer Arzt auch getan, ein paar ruinierten Existenzen hat er wieder aufgeholfen, ein paar leichtsinnige Galgenstricke vor Schande und Zuchthaus bewahrt. Stimmt! Aber weiter nichts als Pflicht gewesen. Wer weiter nichts als seine Pflicht tut, braucht sich nicht zu rühmen. Kommt gerade noch mit »genügend« durch beim Herrgott. Und wenn er nebenbei ein alter Esel ist wie er, der seinen eigenen Vorteil verpaßt, die Blume an seinem Wege höchstens mit der klobigen Stiefelsohle berührt anstatt mit suchender Hand, braucht er sich nicht zu beschweren und keine Grimassen zu schneiden, wenn ein anderer kommt, der klüger ist als er.

Aber schwer ist es – schwer!

Müde stützt er sich aufs Fensterbrett und legt den Kopf auf die Hand. Die Uhr schlägt wieder. Da richtet sich Dr. Friedlieb auf. Seine Hand ist feucht. Zornig wischt er sie an seinem Rocke ab. Dann springt er energisch auf und zündet das Licht an.

Einen Bogen Papier nimmt er und schreibt darauf: 45=24.

»Na, da sieh hin, alter Herr! 45=24. Viel kannst du nicht mehr von Mathematik, aber das weißt du doch noch: 45=24 ist keine Gleichung. Da ist ja eine ganz erschreckliche Differenz von 21. Von einundzwanzig Jahren! Weißt du, was einundzwanzig Jahre sind im Menschenleben? Was das für eine Kluft ist? Und dann guck mal in den Spiegel! Bilde dir ja nicht ein, du seist ein strammer Kerl, bei dem noch kein Härlein grau ist. Du hast rechts in der Kopfecke einen Ministerwinkel und links einen und auf dem Wirbel steht das Buschwerk schwach. Hast eine Warze an der linken Schläfe und einen in der Mitte geteilten Vollbart, der gar nicht modern ist. Hast überhaupt eine Visage, die dir selber nicht gefällt, viel weniger einer Frau. Und bist ein grober, klobiger, schnauziger, ruppiger Kerl, den jeder Ladenkommis mit seiner Höflichkeit aussticht. Der keinen Schritt tanzen, kein amüsantes Gespräch führen kann, dem keine Liebesritterlichkeit einfällt und wenn er nachdenkt, daß er schwitzt. Du und ein vierundzwanzigjähriges Mädchen! Etablier' dich als Erbonkel, und wenn du an Hochzeit denkst, dann sehne dich nach dem Ehrenposten eines Trauzeugen!«

So, jetzt war er fertig mit sich! Jetzt hatte er sich die Wahrheit gründlich gesagt. Jetzt mußte er ruhig werden. Aber eine Viertelstunde später saß er wieder am Fenster und starrte in die Nacht hinaus.

Die Christel! Die Christel!

Das war ja nicht um das Mädel, das war ja um ihre liebe Seele.

Und immer kam die Hoffnung wieder. »Nein« hatte sie gesagt. »Nein, nein!« auf seine Frage, ob sie den Musikanten heiraten wolle. Aber so sprechen alle Mädchen, die ihre Liebe nicht verraten wollen. Der Christel war es wohl ernst mit ihrem Nein. Aber sie wollte den Musikanten nur deshalb nicht, weil sie die Eltern fürchtete. Ihre Liebe gehörte doch dem Fremden.

Eine Frau ohne Liebe wollte Dr. Friedlieb nicht, und Liebe – Frauenliebe, meinte er, könne er nie verdienen.

Indes war der, auf den sich des Doktors Neid richtete, einsamer als alle. Äußerlich fehlte ihm nichts. Christels Fürsorge erriet alle seine Wünsche. Sie verbesserte seine Kost, legte ihm heimlich Speck oder Schinken auf die Brotstullen, steckte ihm Zigarren in die Sonntagsjacke und suchte ihm die Arbeit zu erleichtern, wo sie konnte. Der Musikant als armer Kerl glaubte das alles annehmen zu dürfen, aber eine rechte Freude hatte er daran nicht.

Abends, wenn er in seine Schlafkammer kam, fand er gewöhnlich unter seinem Kopfkissen ein paar auserlesen schöne Apfel.

Er kannte die milde Hand, die sie hingelegt hatte, aber er segnete sie nicht und aß die Apfel mit gutem Appetit, aber ohne Freude.

Einmal jedoch, als er sich wie immer im Finstern zu Bett gelegt hatte und wie gewohnt nach der rundlichen letzten Atzung griff, kam er erst ins Spucken und Schimpfen, dann aber lachte er laut und glücklich.

Er hatte in eine rohe Kartoffel gebissen.

Die hatte die Lore hingelegt.

An diesem Abend schlief er selig ein, und seine Träume waren sonnig und glücklich, waren voll Klang und silbernem Lachen.

Der düstere Abend der Pohlsdorfer Kirmes war längst vergessen. Lore hatte ihm gesagt, er müsse sich getäuscht haben, ein anderes Paar gesehen haben im unsicheren Nachtlicht, denn sie sei von der Seite ihrer Begleiterin, der Fischer Selma, nicht gewichen. Das hatte schwere Last von seiner Seele genommen. Und doch kam alle Tage neue Sorge. Alle Tage lachte die Lore mit irgendeinem jungen Burschen. Dann leuchtete ihr Gesichtlein, dann flatterten die blonden Haare um ihre weiße Stirn, und dem Burschen, mit dem sie sprach, glänzten die Augen.

Um die Christel kümmerte sich kein Mensch. Und auch Robert erlag dem blonden Zauber, und Lores rohe Kartoffel schmeckte ihm besser als Christels schöne Äpfel.

Er war oft ungerecht gegen das stille Mädchen und undankbar in seinem Herzen. Ihre Fürsorge war ihm lästig, weil er mehr und mehr zu dem Gedanken kam, sie sei in ihn verliebt. Auch der schlichte Mann will ja das Weib erobern, nicht finden. Ein paarmal war er ungeduldig, ungezogen gegen die Christel. Wenn er daran dachte, sie heiraten zu sollen, faßte ihn ein tiefinnerer Schauer, den er nicht verstand, faßte es ihn wie Krankheit in der Seele, wie Entsetzen.

Unschlüssig, verwundert, ratlos war er oft.

Warum war sie so freundlich? Warum kam sie ihm so sehr entgegen? Oft, wenn er seine Mahlzeit hatte in der Küche, merkte er gar wohl, wie ihre Augen an ihm hingen. Dann überlief es ihn, und eine schwere Unruhe überkam ihn.

Was wollte sie? Sie war ein reiches Mädchen. Bekam sie sonst keinen? Oder warum gefiel er ihr so? Er wollte nicht, daß er ihr gefiel, er wollte ihre Fürsorge nicht mehr, er wollte lieber hungern, ohne diese Liebe, die ihm widerstand.

Gut, daß er ihr das silberne Herzchen damals nicht gegeben hatte, gut, daß er es der Lore geschenkt hatte, die es freilich noch nie getragen hatte, nicht einmal am Wochentag.

Als der November zur Neige ging, war die Christel plötzlich verändert. War noch stiller und um einen Schein blasser. Steckte ihm nicht mehr zu, legte ihm keine Äpfel unter das Kopfkissen, wurde flammend rot, wenn er sie traf und ging ihm aus dem Wege. Ganz verwirrt war sie. Er hatte sie beleidigt. Das tat ihm leid, denn gut war sie, gut und lieb. Auch hübsch, wenn er es recht bedachte. Nur, daß er sie nicht lieben konnte, nicht so wie die Lore. Sie war wohl eifersüchtig.

Immer ratloser wurde er, immer einsamer.

Da, als er einmal allein beim Abendbrot saß, kam sie wieder und setzte sich ihm gegenüber. Sie war blaß und mußte sich Mühe geben zu reden.

»Ich möchte mich einmal aussprechen mit Ihnen, Robert. Ich hab' Zutrauen zu Ihnen, und ich weiß wohl, daß Sie mich nicht verraten werden, wenn ich Ihnen etwas anvertraue.«

»Ja – ja – natürlich nicht!« würgte er heraus.

»Ich bin – sehr unglücklich. Sehen Sie, ich bin jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Wenn mein Bruder Berthold vom Militär zurückkommt, wird er wahrscheinlich heiraten und die Wirtschaft übernehmen. Die Eltern gehen dann in den Auszug, und ich bin hier übrig. Ich muß dann fort. Neben einer jungen Frau hätte ich keinen Platz. Ich muß dann in ein fremdes Haus in Stellung; denn bei den Eltern will ich nicht bleiben. Das wird mir schwer werden. Am besten wär' es für mich gewesen, ich hätte auch heiraten können.«

Robert wurde blaß. Jetzt mußte es kommen. Sie sah ihn ruhig an und fuhr fort:

»Aber ich kann nicht heiraten, denn es gibt nur einen einzigen Mann auf der Welt, mit dem ich glücklich sein würde, und der denkt nicht ans Heiraten. Dieser Mann ist der Doktor Friedlieb.«

»Der – der Doktor –«

Er starrte sie an.

»Ja! Ich weiß, daß es töricht von mir ist. Er hat keine Frau gefunden, die ihm gefiel, bis in seine vierziger Jahre; was sollte er an mir schlichtem Mädel Gefallen haben? Aber ich wollte es Ihnen aus einem bestimmten Grunde sagen, Robert. Ich möchte keinen anderen Mann auf der Welt als den Doktor Friedlieb. Und weil ich ihn nicht haben kann, werde ich niemals heiraten.«

Er starrte sie noch immer sprachlos an.

Sie stand auf und reichte ihm die Hand.

»Das alles habe ich Ihnen im Vertrauen gesagt, Robert. Sie sollen mich immer verstehen. Sie sollen wissen, daß ich nicht glücklich bin, und wenn ich ein paar Kleinigkeiten für Sie tue, dann sollen Sie es nicht falsch auffassen, sondern bloß denken: sie tut's, weil sie nicht glücklich ist und ich auch nicht.«

Da sah er, daß sie ihn durchschaut habe. Scham und Bestürzung faßten ihn.

»Christel – ich bin – ich wußte nicht – ich bin schlecht! Ich schäme mich so!«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, Robert! Sie sollen bloß immer daran denken, daß wir Freunde sind, die besten Freunde!«

Sie nickte ihm noch zu und ging hinaus.


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