Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Dreizehntes Kapitel

Das alte Jahr starb dahin. Nicht in schwerem Todeskampf, in stumpfer Agonie ging es seinem Ende entgegen. Die Augen verschleiert von schweren Wolkenschatten, die Glieder in regloser Starre, kaum daß ein leises Wimmern klang aus tiefen Gründen. Vom dunklen Kirchturm klang das Läuten zur Jahresschlußandacht, das Glöcklein des Priesters, der dem sterbenden Jahre einen letzten Segen spenden wollte.

Da kamen von den Berghängen, von einsamen Wiesenhöfen her, aus dunklen Toren heraus die Menschen und gingen schweigend und mit bedrücktem Herzen dem Klange der Glocken nach. Sie gingen leise, wie man leise geht durch ein Sterbehaus, und wenn sie von dem alten, todgeweihten Jahr sprachen, von seinen Fehlern und von seinen Vorzügen, dann taten sie es mit gedämpfter Stimme.

Einer ging nicht zur Kirche, einer hörte nicht die mahnende Frage des Priesters: »Wer hält heute letzte Silvesterfeier auf dieser Erde?«

Das war Hartmann. Er saß zu Hause.

Gelähmt.

Ein Schlagfluß hatte seine linke Seite getroffen noch vor Weihnacht. Zwei Tage lang hatten die Seinen um ihn gebangt, dann war der Tod an ihm vorbeigegangen.

Nun saß er im Lehnstuhl, und an seiner Seite standen seine Tochter Christel und sein alter Freund Gottlieb. Die andern waren alle in der Kirche.

Und auch Hartmann hielt Silvester.

Vor ihm auf dem Tische lagen Feder und Papier. Nach der Feder griff er und schrieb, während seine Tochter und sein alter Freund ihm mit feuchten Augen zuschauten, mit der ungelähmten rechten Hand auf den weißen Bogen:

»Im Angesichte Gottes und in Gegenwart meiner Tochter Christine Hartmann und des Gottlieb Peuker bekenne ich, daß der Robert Hellmich, der sich Robert Winter nennt und jetzt bei mir in Dienst ist, mein leiblicher Sohn ist. Ich bitte allen ab, denen ich Unrecht getan habe, am meisten Martha Hellmichs Eltern, und ich bestimme, daß Robert Hellmich nach meinem Tode aus meinem Vermögen fünfzehntausend Mark erhält. Alles andre bekommen meine Frau und meine Kinder Berthold und Christine zu gleichen Teilen. Ich segne alle meine Kinder, auch den Robert, der keinen Haß mehr auf seinen Vater haben soll, und ich bitte Gott, daß er uns allen gnädig sei.«

Darunter schrieb Hartmann Ort, Datum und Namen, und auch Gottlieb Peuker und Christine Hartmann unterschrieben das Testament.

Christel nahm den Bogen Papier an sich, und dann hielt sie mit dem alten Gottlieb Wache bei dem Kranken.

Auf dem Gesichte Hartmanns lag ein Hauch des Friedens. Langsam stieg eine Röte in seine Stirn und ein Glanz in seine Augen.

Nun er eine mutige, gute Tat vollbracht, würde es nicht so schwer sein, den Schritt zu tun ins andre Leben. – –

Die Kirchgänger kamen heim, die Abendmahlzeit ging vorüber. Da verlangte Hartmann, daß alle zu ihm in die Stube kämen und einen Silversterpunsch tränken. Ja, er wollte, sie sollten lustig sein.

Aber sie wurden nicht lustig. Es war nicht allein die Gegenwart des Kranken, die sie drückte – Hartmann ging es verhältnismäßig gut –, aber sie sahen alle mit bangen Augen ins neue Jahr.

Die stolze, kalte Frau hatte das Schicksal mit rauher Hand angefaßt. Ihren Mann hatte sie wohl nie geliebt. Ihr Herz war zu hart für Frauenliebe. Aber es hatte doch eine weiche Stelle. Sie liebte den Sohn. Die Tochter war ihrer Seele fremd geblieben in ihrer Art. Den Sohn, der gar keine Eigenart hatte, der hilflos ihr immer anheimgegeben war, den liebte sie.

Nun hatte sie schweren Kummer. Als ihr Dr. Friedlieb nicht die ganze Wahrheit über Berthold enthüllen wollte, war sie mit ihm nach der Stadt gefahren, und ein alter, rücksichtsloser Sanitätsrat hatte ihr gesagt:

»Liebe Frau, Schonung, Diät und Digitalis, so hält's noch ein paar Jahre. Eine Gesundung gibt es in diesem Falle nicht.«

So lebte sie neben einem zum Tode verurteilten Kinde, und da ihr Herz nie etwas von einer Ergebung in einen andern Willen gewußt hatte, war es ohne Trost und ganz voll Zorn und Angst.

Berthold wußte nichts von seinem Schicksal, aber auch er war nicht heiter, weil die Lore nicht mit ihm scherzen wollte.

Und wie er klammerte auch Robert Winter all seine Zukunftshoffnungen an das schöne Mädchen und war voll Sorgen.

Die Friedlichsten im Kreise waren Gottlieb und Christel. Ihre Seelen hatten keine heißen Wünsche und angstvollen Fragen ans neue Jahr.

Die Lore aber – die Lore – –

Mit blassem Gesicht ging sie einher, mit verängstigten Augen; sie erschrak, wenn sie jemand unvermutet ansprach, und wenn sie lachen wollte, war es wie ein Klang von zersprungenem Glas.

Und als das Blut so schwer in ihr auf- und niederging und eine Hitze sie überfiel, die sie nicht aushielt, ging sie vors Haus in die kalte Silvesterluft und starrte den dunklen Weg entlang, der nach der Stadt führte.

Siehe, die Kränze welken alle. Wenn ein König einzieht durchs geschmückte Tor, sind die Rosen schon welk, und wenn das kurze Fest aus ist, fallen sie auf den Schutt. Die Dichter hängen grüne Lorbeerkränze in ihre Stube. Aber gar bald spielt der leise Windhauch, der durch geöffnete Fenster dringt, mit dürren Blättern, und so dürr wurde auch die grüne Begeisterung des Abends, an dem der Dichter den Kranz bekam. An Altären und Kirchenmauern welken die Kränze, und von den Gräbern verweht sie am Ende der Wind wie trockene Spreu. Selbst in den Kinderhänden sind die Kränze nicht bleibend; im kühlen Abendrot frieren sie auf verlassenen Spielplätzen. Das ist Blumen- und Menschengeschick.

Aber die Menschen trauern nicht lange um schnell vergängliche Blüten. Sie suchen einen neuen Garten, einen neuen Anger und winden einen neuen Kranz.

Der eine aber ist nur einmal grün.

Den flicht Gott selbst mit seinen heiligen Händen aus zarten Blättlein und weißen Blüten, die er im stillen, umhegten Winkel seines Paradieses pflückt, und legt ihn dem Menschenkinde, das in die Welt reist, um die Stirn. In stillen Stunden sieht der Mensch diesen Kranz, und ein weltfremder Duft aus dem fernen, blühenden Garten unsrer Sehnsucht dringt in seine Seele.

Die Mutter sieht den Kranz auf der Stirn des Kindes, wenn es lächelnd und rosig im Bettlein schläft. Der Kinderfreund sieht ihn, der an einem Spielplatz stehen bleibt, wenn die Locken der jauchzenden Mädchen sich lösen, die Hüte von den Köpfen gefallen, die bunten Schleifen verlorengegangen sind, sieht den grünen Kranz mit den weißen Blüten fest auf den kinderseligen Häuptern ruhen.

Der Jüngling sieht ihn und atmet beglückt seinen Duft, wenn er sich gläubig und vertrauend zum ersten Kuß auf die weiße Stirn der Geliebten neigt.

Die arme, alte Jungfer fühlt ihn wie eine Krone und beugt sich lächelnd zu ihrer bescheidenen Arbeit, wie ein heimlich Königskind, das dient.

Die Nonne sieht ihn, wenn sie Totenwache hält bei der Schwester, die mit weißem Gesicht in der schwarzen Truhe liegt.

Diesen Kranz hatte Lore nicht mehr.

So manch einer wird er gestohlen.

So vielen reißt ihn der rauhe Sturm des Lebens vom Kopf.

So manchen verwelkt er unter der Glut der klopfenden Adern.

So viele, viele verlieren ihn um nichts, weil sie ihn nicht kennen; denn wenn sie ihn wirklich kennten, gäben sie ihn nicht her. Und einige vertändelten ihn.

Lore hatte ihn vertändelt.

Nun fuhr der Winterwind über ihren bloßen Kopf, und sie fror.

Nun wartete sie wie alle, daß der, der sie beraubt, kommen und sie schützen würde gegen den Frost, ihren Scheitel nicht leer lassen, sondern ihr aus friedlichen Palmenzweigen eine Frauen- und Mutterkrone flechten würde. – Eine qualvolle, schlaflose Silvesternacht verging.

Am Morgen harrte Lore auf einen tröstenden Brief. Aber sie bekam nur eine Karte, darauf stand mit bunten Buchstaben gedruckt:

»Die besten Wünsche zum neuen Jahre!«


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