Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Achtes Kapitel

Am selben Nachmittag wanderte Robert auf der nebligen Landstraße einsam dem Dorfe zu. Er war in der Stadt gewesen. »Dort hatte er Einkäufe machen müssen. Es waren lauter kleine Dinge gewesen, die er nun in einem Paketchen heimtrug. Frau Hartmann hatte ihm zehn Mark mitgegeben und ihm dreimal befohlen, sich ja in jedem Geschäft eine quittierte Rechnung ausstellen zu lassen. Dann hatte ihn Herr Hartmann beauftragt, vierzig Mark bei der Agentur der Lebensversicherung für ihn einzuzahlen. Das hatte aber Frau Hartmann nicht zugeben wollen, hatte immer darum herumgeredet, diese Einzahlung könne auf eine andre Weise besorgt werden, bis die blasse Christel sich erregt an die Frau gewandt hatte:

»Mutter, mit im ganzen fünfzig Mark geht er nicht durch! Mir scheint, er ist so ehrlich wie wir.«

Darauf war ein heftiger Streit entstanden, und Herr Hartmann hatte Robert gewinkt, er möge gehen. Draußen vor der Tür hatte er ihm die vierzig Mark übergeben, außerdem eine Mark Zehrgeld. Das war viel. Robert hatte für die Mark in einem Geschäft ein kleines silbernes Herzchen gekauft. Er wollte der Christel etwas schenken, wenn er jetzt nach Hause kam.

Den Weg entlang standen hohe Pappeln. Die bogen sich im Herbstwinde, und es war anzusehen wie ein großer, seltsamer Reigen. Hüben eine Reihe sich schwingender Bäume, die einander die Hände zu reichen schienen, drüben eine Reihe, und sie tanzten und sangen ihre düstere Melodie.

Wer einsam am Herbsttag durch eine Pappelstraße geht, den faßt die Schwermut. Auch Robert schritt rascher vorwärts, der Einsamkeit zu entfliehen, die ihn drückte.

Wie Furcht war es in ihm, als ob hinter den dicken Stämmen ein Unheil lauere, als ob aus dem Straßengraben sich ein Feind erheben könne. Das war so, weil er nie allein gewandert war.

So freute sich Robert, als er einen alten Mann und eine alte Frau einholte, die offenbar auch aus der Stadt kamen. Jedes trug in einem bunten Tuch ein Paket. Robert blieb um wenige Schritte zurück und musterte die Leute. Sie mochten ungefähr siebzig Jahre alt sein, schritten aber ganz rüstig vorwärts und waren beide nur wenig gebückt. Er redete sie an, fragte, ob sie auch nach Teichau gingen.

»I nu freilich«, sagte der Mann. »Wir sind ja aus Teichau. Ich bin der alte Hellmich-Bittner aus dem kleinen Häusel neben dem Schulzbauer-Gute.«

Robert erwiderte, daß er in Teichau noch sehr wenig bekannt sei, da er erst einige Wochen im Orte wohne.

»Sie sind Wohl der neue Wirtschafter beim – beim – im Kretscham?« fragte die Frau.

»Ja, beim Herrn Hartmann«!« erwiderte Robert. Und er schlug vor, sie könnten den Weg nach Hause gemeinsam zurücklegen. Die beiden Alten sahen sich an, dann sagte der Mann auf den Vorschlag Roberts:

»Nu, ja, ja! Wenn wir Ihn'n nich zu sachte gehn.«

Und dann schwiegen sie. Robert wunderte sich über die Leute. Sie benahmen sich merkwürdig gegen ihn. Aber das war wohl, weil er ihnen so fremd war.

»Hellmich-Bittner!« hatte der Mann gesagt. – Es fiel Robert ein, er könnte den beiden Leuten sagen, daß er eigentlich auch Hellmich heiße. Das würde sie vielleicht interessieren, obwohl Hellmich hierzulande ein sehr verbreiteter Name war. Aber er überlegte, daß er dann bloß unnütze Erklärungen geben müsse, daß vielleicht ein Gerede im Dorfe entstehen würde, und hauptsächlich, daß es Herrn Hartmann nicht lieb sei, wenn er sich anders nenne als Winter. Also erzählte er nur, daß er das Musikantenleben satt gehabt habe und daß er nun froh sei, eine Unterkunft zu haben. Herr Hartmann sei sehr gut.

Darauf sagten sie nichts. Sie blickten vor sich auf den Weg.

Da sah Robert sie an, und es fiel ihm ein, die alten Leute seien wohl auf Hartmann oder jemand aus seinem Hause nicht gut zu sprechen. Das war ja leicht möglich, namentlich bei dem Charakter der Frau des Gastwirts. Es gab viele solche Feindschaften im Dorfe.

Eine Weile schritt Robert schweigend neben dem alten Paare hin. Dann fragte er die Frau, ob sie ihn nicht ihr Paket tragen lassen wolle, er habe ja so gut wie nichts in den Händen und er sei noch jung und stark, er könne ihr leicht die Bürde abnehmen. Sie wollte nicht und redete viel dagegen, aber ihre müden alten milden Augen glänzten freudig und zuletzt gab sie ihm das Paket.

»Aber wenn's Ihn'n etwa zu viel mächt,« sagte sie, »da geben Sie mir's bald wieder.«

Der alte Hellmich blieb stehen und zog seine Tabaksdose aus der Tasche.

»Na, da schnuppen Se amal mit mir!« sagte er. Er war sichtlich erfreut über die kleine Freundlichkeit, die der junge Mann seiner Frau erwiesen hatte.

Robert nahm eine kleine Prise Tabak, und sie erschien ihm wie ein wirkliches Geschenk, da der alte Mann, der vorher so wortkarg gewesen, nun so freundlich mit ihm war.

Sie wurden nun alle fröhlicher und schritten plaudernd die Straße entlang.

»Ja,« sagte der alte Hellmich, »wir gehen jeden Mittwoch in die Stadt, wenn Markt is. Denn sehn Sie, meine Mutter da, die is sehr vergnügungssüchtig.«

»Sei ock stille«, sagte die Frau. »Wer hält's denn zu allererst nich derheeme aus, wenn der Mittwoch kummt? Du! Du mußt eben durchaus in die Stadt.«

»Nu ja«, meinte der Mann gut gelaunt. »Ma will halt ooch amal was sehn. Im Dorfe kumm' wir kaum aus'm Hause, na, und da gehn wir halt immer Mittwochs in die Stadt. Da kaufen wir das bissel Kram, was wir brauchen und bringen auch für andre Leute was mit. Wir sind beede rüstig. Die Mutter is achtundsechzig, und ich bin ooch erst siebzig. Na, da geht's schon. Und in der Stadt is halt schön. Überhaupt die Schaufenster. Die sehn wir uns jedesmal an. Die Mutter studiert immer die neuen Moden.«

»Ach, du alter Narrenhans«, sagte die Frau.

»Ja, ja, Sie könn's globen, bei a Hüten und bei a Spitzenkleidern krieg' ich sie kaum weiter. Na, und da is doch su viel Verrücktes dabei, und da stehn wir halt da und brummen und schimpfen jeden Mittwoch a bissel uff die hoffärtige Welt und freuen uns jedesmal wieder drüber. Wenn ich amal 's große Los gewinne, da koof ich meiner Mutter a rosa Spitzenkleid und een grün' Hutt.« Er lachte über seinen Scherz.

»Nee aber, Vater, nee aber –« Die Frau geriet in große Beschämung. »Wenn du's große Los gewinnst, da kaufste dir zu allererste 'n goldne Uhre, daß du's weißt! Denn wer steht denn immer und ewig beim Uhrmacherladen?« Nun war der Mann verlegen, Er wandte sich an Robert. »Na, nu sehn Sie, gelt ja, das is ja nu alles bloß Spaß! Ansehen kost' doch nischt! Und so a Uhrmachergeschäft, das seh' ich halt für mei Leben gerne. Das is halt 'ne Pracht.«

»Und jedesmal wünscht a sich 'n andre Uhre«, sagte die Frau.

»Nu je je,« meinte der Mann, »warum soll man sich nich a bissel Abwechslung gönnen? Wenn ich dann wieder derheeme bin, denk' ich die ganze Woche an die Uhre, die ich mir gewünscht hab'. Und manchmal träumt mir, ich hab' sie. Das is fein. Das is rein schade, wenn man uffwacht. Und dann bin ich immer begierig, ob sie a nächsten Mittwoch noch da sein wird.«

Er sah wieder lächelnd vor sich hin.

»Ja, wir sind liederlich«, begann er aufs neue. »Jeden Mittwoch mach'n wir blau. Jeden Mittwoch verreisen wir. Und dann tun wir uns was an; ich een Paar Würstel und een' Kümmel und die Mutter een Paar Würstel und –«

»Sei ock stille«, unterbrach sie ihn.

Da schwieg er und verriet die kleine Schwäche seiner Frau nicht.

Die Abendsonne blickte durchs Gewölk und beleuchtete die drei, die durch die Pappelallee gingen. Ein großer Friede war in Robert. Er hörte nicht mehr das schwermütige Lied der hohen Bäume, und Furcht und Sorge waren weit. Diese alten Leute waren lieb. Er fragte, ob er sie gelegentlich einmal besuchen dürfte.

Da waren sie erst ein wenig verlegen, aber dann sagten sie, ja, er solle nur einmal kommen.

»Überhaupt, wenn Ihn'n amal was fehlen tät,« sagte der alte Hellmich, »die Mutter is klüger wie a Dukter.«

Sie widerstritt, aber er behauptete: »Ja, das is wahr. Sie hat alle Sorten Tee, und wenn Sie amal 'n Geschwulst oder so was hätten, das bringt sie Ihn'n gutt weg. Das is wahr.«

»Ich Hab' halt so a paar Hausmittel«, sagte die Frau. Und wieder gingen sie eine Strecke Weges. Das Gespräch stockte. Da fragte Robert, um etwas zu sagen, von dem er glaubte, es würde die Alten erfreuen: »Da haben Sie wohl natürlich auch Kinder und Enkelkinder.«

»Nee – nee!« sagte der Mann beklommen.

»Nee – nee!« seufzte die Frau.

Robert merkte, daß er an eine wunde Stelle gerührt habe und brachte das Gespräch bald auf etwas andres.

Ein zeitiger Abend brach herein. Es wurde Nacht, ehe sie Teichau erreichten. Sie gingen die Dorfstraße hinab. Ehe sie den Kretscham erreichten, blieben die Hellmichleute an einem Seitenwege stehen.

»Wir biegen hier ab«, sagte Hellmich. »Wir haben's hier näher, 's is schon spät.«

Robert gab der Frau ihr Paket und sie dankte ihm herzlich. In dem Augenblick brach der Mond hell durch die Wolken. Er bestrahlte mit silbernem Licht Roberts Gesicht.

Da starrte ihn die alte Frau an. »Sie – Sie – Sie –!«

Sie atmete schwer.

»Mutter, was is denn? Was is denn?« fragte Hellmich erschrocken.

Auch Robert war verwundert.

Die Frau erholte sich.

»Es – es is – is nischt – es war bloß – so eine Ähnlichkeit – ich seh' schon nich mehr gutt – und jetzt im Mondscheine – da bin ich erschrocken. – Da seien Sie och nich böse – da nehm'n Sie's och nich übel!«

Sie reichte Robert die Hand und verschwand mit ihrem Manne in der Gasse.

Robert schaute ihnen nach. Der Mond verschwand wieder hinter dunklen Wolken. Der Wind sang wieder sein trübes Lied. Und Robert tappte die finstre Gasse hinunter nach Hartmanns Hause.


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