Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Junger König

Wir wanderten tagelang. Manchmal nahm uns ein Bauer mit auf seinem Wäglein, manchmal fuhr uns ein Fischer eine Strecke stromaufwärts. Überall verteilten wir unsere Flugblätter, schickten auch Hunderte davon an bekannte Adressen in der Hauptstadt. Als wir näher an die Stadt kamen, merkten wir bereits, daß die Leute von unserer Botschaft heimlich redeten; die Wahrheit war schon durchgesickert.

So zogen wir heim, vielleicht heim in den Tod. Doch wir waren voll Mutes und unwandelbaren Entschlusses.

In einer Morgenstunde war es, als wir von einer Anhöhe aus die heilige Stadt vor uns sahen. O, wie anders erschien sie mir heut als an jenem Neujahrstag, da ich selig wie ein Kind die Hände nach ihr ausstreckte und keinen anderen Wunsch hatte, als spielen zu dürfen auf ihren Straßen mit bunten Kieseln!

Nun hatte ich neben vielem Glück und reicher Schönheit das Leid dort gefunden; nun waren Kummer, Not und Tod auch dort an mich herangetreten. Im letzten Märchen mußte der Märchenkönig sterben. Wir vier Kameraden lagerten uns müde ins grüne Gras und schauten schweigend den gekrümmten Weg entlang, der ins Tal hinunterführte und jenseits hinaufstieg zur heiligen Stadt.

Da hörten wir Rosseshufe aufschlagen. Den Bergrücken entlang kam ein Reiter in sausendem Galopp. Ein Mönch! Die braune Kapuze bedeckte seinen Kopf, die Kutte flatterte im Winde. Er mußte an uns vorüber, da wir dicht am Wege saßen.

Jetzt war er da. Ein Schrei, das Roß bäumte hoch auf, der Mönch sprang zur Erde, die Kapuze glitt ihm in den Nacken, goldene Locken fielen auf den braunen Habit –

»Juvento!«

Einen Augenblick starrten wir uns an, dann trat ein sonniges Lächeln auf seine Züge, er breitete seine Arme aus, wir sanken uns an die Brust und küßten uns mit heißen Tränen. Zwei, die für die Freundschaft bestimmt waren, hatten sich gefunden nach langer Irrung.

Dann saß er mit uns am blühenden Wegrand und hielt immerfort meine Hand. Er erzählte viel, aber alles kurz und hastig; seine Augen wanderten oft mit Ungeduld hinüber nach der heiligen Stadt.

Er hatte nicht teilgenommen an dem Bruderkriege, hatte das Friedenstestament des toten Königs heilig gehalten. Den Frieden hatte er gepredigt am Hofe seines Vaters, und als das nutzlos war, auf den Gassen und Plätzen des Volkes. Als der Krieg dennoch ausbrach, als eine starke Friedenspartei sich für ihn bildete, war er auf Betreiben seiner Regierung in Haft genommen und in einem entlegenen Schloß eingesperrt worden. Dort sollte er solange gefangen gehalten werden, bis die Sache seines Vaterlandes entschieden war.

Der goldlockige Scheitel senkte sich ihm, als er das erzählte, und seine großen Augen glänzten in Schmerz und Zorn.

»Gefangen wie ein gefährlicher Demagog! So müßig sitzen, während sich die Schicksale des Vaterlandes entschieden und des anderen Landes, das ich kaum weniger liebte! Keinen Anteil habe an der Gestaltung all dieser großen Dinge, keine Möglichkeit besitzen, für meine schweren Fehler Sühne zu leisten.«

»Ihre Fehler waren nicht so schwer, mein Prinz,«tröstete ich ihn;«keiner kam aus einem bösen Beweggrund; im letzten Grunde war alles nur verirrte Tugend.«

»Ich möchte Ihnen so gern glauben,« sagte er sanft, »eine solche Tröstung tut mir wohl nach diesen furchtbaren Tagen und Nächten einsamer Gewissensangst. Aber meine Schuld ist groß! Nur auf dem ruhigen Boden meines hochmütigen Schweigens konnte jener Bube seinen Giftsamen ausstreuen und seine Saat großziehen.«

»Weil Sie an das Vertrauen glaubten!«

»Aber von wem habe ich Vertrauen gefordert! Von Leuten, die mich gar nicht kannten, die gar kein Vertrauen zu mir haben konnten. Zum Beispiel von Ihnen! Sie haben meinetwegen viel gelitten, armer Freund.«

Das Blut stieg mir in die Wangen.

»Ich glaubte, daß Sie Angelika lieb hätten, und konnte Ihnen darum nicht lange zürnen.«

»Und ich sage Ihnen, daß ich nie an Ihre Braut auch nur einen Buchstaben geschrieben habe.«

Ich sah überrascht auf.

»Sehen Sie, es mußte Unfrieden und Mißtrauen zwischen Goldina und mich gesät werden, auch zwischen mich und Sie, der Sie ein wichtiger Mann im Lande geworden waren. Daher entstanden jene Briefe. Und ich schwieg dazu. Ihnen wollte ich mich entdecken. Wohl drei- oder viermal war ich nahe daran. Besonders damals als wir zum verbotenen Berg hinausritten. Ich brachte es doch nicht fertig. Ich dachte immer: die Unschuld muß etwas sein, das als klare, einfältige Selbstverständlichkeit vor aller Augen steht, nicht eine rätselhafte Sache, für die es eines komplizierten Beweises bedarf. Ich habe mich getäuscht.«

Mit großer Liebe sah ich ihn an.

»Weil Sie so hoch von der Unschuld dachten, sind Sie unschuldig!«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie wissen nicht, was ich gelitten habe! Sie wissen nicht, was das heißt, einen Krieg auf dem Gewissen zu haben, was das heißt, es mit sich selbst abzumachen in stiller Nacht, daß Tausende schuldloser Leute in Kampf und Not gehen, daß Tausende in Qual und Angst aus dem Schlachtfeld«e verscheiden, daß soviel Witwen schreien, soviel Kinder jammern, daß soviel Tränenkrüglein im Lande überfließen. Soviel Qual, soviel Not und Tod im Lande – und mir tat kein Finger weh!«

Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

»Junger König, junger König!«

Ich konnte nichts sagen, als diese zwei Worte, die in ihrer Verbindung so viel Zwiespalt enthalten, so viel schweren Herzenskampf verbergen.

Er stand auf und schlug die Kapuze wieder über den Kopf.

»Ich muß fort!«

»Wohin wollen Sie?«

»Nach Marilkaporta.«

»Sie wollen zum Heere der Ihrigen, das dicht vor der Stadt steht?«

Er lächelte trübe.

»O nein, was würde mir das nützen? Mit großer Gefahr bin ich aus meinem Gewahrsam entflohen. Käme ich zu meinem Vater, so schickte er mich ins Gefängnis zurück. Ich will nach Marilkaporta – zu unsern Feinden.«

»Sie gehen in den Tod!«

Auch meine drei Gefährten schrien auf.

Er sich uns ernst an.

»Ja, Vielleicht in den Tod! Aber glaubt mir, Ihr Freunde, ich sterbe gern vor der zweiten Schlacht. Ich kann sie nicht überleben, denn mein Herz ist nicht ruhig in diesem Kriege. Ich stehe beständig im Gericht vor mir selbst. Ich komme zu keinem Freispruch, und ohne Freispruch kann ich nicht leben. Da will ich den höchsten Richter anrufen – Gott! Nicht die schuldlosen Völker sollen sich zerfleischen, nicht friedliche Leute, die für gar nichts verantwortlich sind, nein, die sollen den Preis zahlen mit Blut und Leben, die den Streit verursacht haben, Hamrigula und ich. Ich werde nach Marilkaporta gehen und mich zum Gotteskampfe stellen.«

Eine Pause entstand. Dann sagte ich in meiner Freunde Namen und in meinem eigenen Namen:

»Das ist recht! Wir werden mitgehen nach Marilkaporta!«


Wir kamen an dasselbe Tor, durch das ich zum erstenmal die heilige Stadt betreten hatte. Damals lehnte ein Kind daran und schaute mich an mit lieben Augen, so daß ich meinte, es sei wohl meine kleine Kinderseele, die mich da grüßte. Heute saß ein Mann vor dem Tor, der las in meinem Flugblatt und versteckte es scheu, als er uns gewahrte.

Die Straßen waren mit Menschen angefüllt. Kein Wunder – jenseits der Stadt, dort, wo der blaue Felsenberg auf dem die heilige Stadt erbaut ist, in ein weites Hochplateau übergeht, stand dicht vor den Mauern der Feind.

Die Leute schoben sich in breiten Zügen langsam die Straßen entlang. Im Strome völlig eingeschlossen kamen wir unerkannt bis an unseren Redaktionspalast. Ich drückte mich mit meinen Gefährten zu einer Seitentür, öffnete sie mit dem Schlüssel, den ich noch besaß, und wir traten ein.

Leise und vorsichtig schlichen wir die Treppen hinauf, da wir nicht wußten, ob das Haus besetzt sei; behutsam öffnete ich die Tür zu dem großen, prächtigen Beratungssaal. Und da mußte ich trotz aller schweren Erregung und schlimmen Bedrängnis wieder einmal laut lachen.

Auf dem prachtvollen Präsidentenstuhl saß einsam Herr Schnaff. Niemand war sonst im Saal. Aber Herr Schnaff saß so würdevoll und großartig, so überlegen lächelnd und fein beobachtend, so herausfordernd majestätisch auf dem Stuhl, als ob er eben einer großen, gewichtigen Versammlung präsidierte.

»Wir bitten ums Wort, Herr Präsident!«

Er erschrak fürchterlich, ließ mit einem lauten Aufschrei alle seine Würde fahren und war vor Bestürzung und vor Freude über unser Wiedersehen ganz außer sich.

»Was machen Sie doch hier, Herr Schnaff?«

Er sammelte sich mühsam und antwortete:

»O, seit ich den Anschlag an die Mauern gemacht habe, läßt mich Hamrigula suchen. Ein ungeheuerer Preis ist auf meinen Kopf gesetzt. Da habe ich gedacht, ein so verfolgter Redakteur ist am sichersten auf seiner Redaktion. Da sucht ihn keiner. Fünf Tage lang habe ich aber doch in der Wandelhalle für die sentimentale Anregung gesteckt. Ich bin dort schwermütig geworden, Herr Chef, und von dem stimmungsvollen, eiskalten Grabeshauch, der über den Boden weht, habe ich das Reißen bekommen.«

Die Zeit drängte, wir mußten ernsthaft mit ihm reden. Viel wußte er nicht, da er sich solange versteckt gehalten hatte, aber er konnte uns bestätigen, daß fast das ganze Volk von dem Inhalt meines Flugblattes unterrichtet war.

»Hamrigula hat keinen schlimmeren Feind, als dieses Blatt,« sagte er. »Er hat es zwar für eine geschickte Fälschung ausgegeben, aber niemand will ihm mehr recht glauben. Nur die Kriegsnot hält die Leute noch zu ihm. Morgen und übermorgen wird die Schlacht erwartet.«

Der Erbprinz drängte zur Tat, als er das hörte. Als aber Herr Schnaff erfuhr, was wir vorhatten, machte er sich aus dem Staube.

»Einer muß freibleiben; man kann nicht wissen, wozu es wieder gut ist,« sagte er wie damals vor unserer Verhaftung und verschwand.

Wir ließen den Mann, der kein Held, aber ein braver Kerl war, ziehen.

Nun galt es, eine gefährliche Tat zu wagen. Ein paar Minuten standen wir noch im Saale zu kurzer Besprechung. Dann öffnete ich die breite Tür zum Balkon, und ich trat hinaus mit Dr. Nein, Stimpekrex und Dr. Schnugu. Der Erbprinz blieb der Abmachung gemäß vorerst im Saale zurück.

Ein Flimmern entstand wieder vor meinen Augen, aber ich straffte meinen Willen, nahm alle Kraft zusammen und trat dicht an die Brüstung.

Ein paar Sekunden standen wir so; unter uns flutete das Volk.

Da – ein Schrei – ein zweiter – dritter –

»Da! Da oben! Auf dem Balkon! Seht! Sie sind es! Sie sind es! Sie sind es!«

Die Menge stockt, ein entsetzlicher Lärm bricht los, es tobt, brandet, rast da unten, tausend Hände zeigen auf uns; unsere Namen schlagen an unser Ohr in entsetzten Schreitönen, in gellenden Jubelrufen. So, wie wenn die Geister gestorbener Männer vor das Volk getreten wären, so starren uns die Leute an, so schreien sie vor uns, schreien in Furcht, Freude, Zweifel.

»Sie sind es! Sie sind es!«

»Sie sind nicht tot! Der Regent hat gelogen!«

»Sie sollen uns alles sagen!«

»Es lebe Dr. Nein! Es lebe Dr. Schnugu!«

»Hoch – hoch Dr. Barragu!«

»Ruhe! Ruhe! Reden!«

Es ist ja nicht möglich! Sie wollen uns alle hören, es tobt ein Kampf um die Stille – minutenlang. Da heben wir vier Männer je ein Exemplar des Flugblattes in die Höhe, zum Zeichen, daß wir uns zu seinem Inhalt bekennen.

»Ist es wahr? Ist es wahr?«

Die große, schwere Frage des Volkes an uns!

»Es ist wahr! Es ist wahr! Es ist wahr!«

Wir vier heben das Flugblatt hoch und rufen immer dasselbe Wort:

»Es ist wahr! Es ist wahr!«

Und: »Es ist wahr! Wehe, es ist wahr!»pflanzt sich's fort über den Platz, wie eine Riesenwoge schwimmt das Wort hinter die Gassen und Straßen. Da fangen viele, viele an zu weinen.

»Es ist wahr, daß wir betrogen, wahr, daß wir in Not und Schande sind!« So sagen ihre Tränen. Länger als eine Viertelstunde vergeht, ohne das wir etwas anderes als diese Worte sagen könnten. Aber es ist auch nicht mehr notwendig, das Volk weiß jetzt alles.

»Hamrigula kommt! Der Regent!«

Hoch zu Roß, begleitet von einer starken Wache, kommt der Prinz. Er weiß schon, daß wir da sind, ein Blick tödlichen Hasses trifft uns, er erhebt gebietend die Hand, um zu reden –

Da ein wilder, tausendfältiger Schrei, – dem Prinzen sinkt die Hand –

Juvento ist an die Brüstung des Balkons getreten.

Totenstille!

Totenstille!

Kaum ein vereinzeltes, erschrecktes Lallen, ein leises Wimmern wie vor einem Rachegeist, der in die Erscheinung trat.

Und eine Stimme von furchtbarem Ernst schallt über den Platz:

»Hamrigula, ich klage dich an vor allem Volk des Königsmordes und des Völkermordes! Ich klage dich an aller Falschheit und Treulosigkeit und fordere dich heraus zum Gotteskampf!«

»Verräter! Lügner!« keucht der Prinz auf. »Lügner! – Nehmt sie – nehmt sie gefangen – bringt sie mir her –«

Nicht einer rührt sich.

»Hamrigula, wenn du den Gotteskampf nicht annimmst, bekennst du dich schuldig des Königsmordes!«

»Dringt ins Haus – nehmt sie – nehmt sie fest –«

Schweigen. Furchtbares Schweigen.

»So hört ihr mich, Bürger, ihr Kinder meines geliebten, toten Oheims! Keine Feindschaft ist zwischen euch und mir. Frieden will ich, Frieden! Ihr sollt nicht bluten und sterben, ihr schuldlosen Brüder. Ich werde sterben oder Hamrigula, und Gott wird richten, der die Wahrheit kennt. Wenn Hamrigula schuldlos ist, soll er mit mir kämpfen.«

»Er soll kämpfen! Er soll kämpfen!«

Wie ein furchtbarer Volksbefehl braust es über den Platz. Hamrigula hebt sich im Bügel.

»Ihr Soldaten, ich befehle euch, nehmt diese da gefangen!«

»Nein! Nein! Kämpfen! Gotteskampf! Gotteskampf! Er ist Schuldig! Schuldig! O Schande!«

Ein Gebrüll der Wut, der Empörung, der Verzweiflung. Ein wahnwitzig erregtes, schreiendes, ein weinendes, verzweifelndes Volk.

»Schande! Schande! Schande!«

Die Bürger dringen nach unserem Hause, uns zu schützen, andere wenden sich gegen den Prinzen. Da richtet er sich in dieser höchsten Not, da alles unter ihm zusammen bricht, noch einmal hoch auf:

»Halt! Ich werde kämpfen! Ich werde siegen! Ich werde ihn erschlagen!«


Die sechste Abendstunde, die Stunde des Kampfes. Der fremde König hat seinem Sohne den Kampf gestatten müssen; er hätte ihn sonst nicht wiedergesehen. Und es galt, die Reinheit der eigenen Sache zu erweisen.

Ich bin bis zur Brücke des Lebens und des Todes vorgedrungen. Jenseits hält das Militär den Weg versperrt. Der Kampf findet dicht vor der Mauer statt.

Volk! Volk ringsum! Sie zittern alle, und ich sehe, daß alte Männer sich mit welken Händen die weißen Haare zerwühlen.

Sie sind alle in furchtbarer Angst vor der drohenden Schande.

Die Königsglocke schlägt. Nun hat draußen der Kampf begonnen. Ich lehne an der Brücke und starre das düstere Felsentor, hinter dem die Schiffe der Toten ankern.

»Toter König, sie kämpfen um deine Krone!«

Und alsbald wird mir eine Antwort auf diesen stillen Gedanken. Eine Kunde bricht sich Bahn durch die Reihen der Krieger und Bürger:

»Hamrigula ist in den verbotenen Berg gedrungen und hat sich die heilige Krone aufs Haupt gesetzt. In der Zauberkraft der Krone ficht er gegen den barhäuptigen Gegner.«

O, dieses Wehegeschrei, diese furchtbare Klage des Volkes über diese neue Schmach!

»Der Erbprinz wird fallen; die Krone wirkt Wunder!«

Sie stocken alle, sie wissen nichts zu sagen. Keiner auch kann sich rühren in der dichten Menge.

»Der Erbprinz wird fallen!«

Mit brennenden Augen schaue ich nach dem Felsentor.

Da – sehe ich etwas sich bewegen – dort– dort drinnen im blauen Nebeltor.

Ich möchte schreien – aber meine Stimme ist tot –

Meine Augen sind irre. Sind sie irre?

Nein, sie sehen es wirklich – wirklich – dort!

Jetzt sieht es auch das Volk, jetzt schreit es so laut.

Auf einer Totengondel kommt aus dem Felsentore der alte König gefahren. Stromauf, stromauf lenkt er, durch die Brücke hindurch, stromauf in den Fluß des Lebens.

Das grüne Wasser schaukelt den Kahn des Toten. Jetzt wendet die Gondel, jetzt schaut der König mit weiten, starren Augen sein Volk an.

Schaut es an wie das Gewissen, das aus dem Totenreich ins Leben tritt.

Alles Volk sinkt auf die Kniee. Es war ein großes, heiliges Schweigen, und nur die schweren Atemzüge gehen wie der bebende Wind im stillen Wald.

Ein weißes Strahlen geht aus von dem König, der unbeweglich in seiner Gondel sitzt und die großen Augen nach dem einen Wege gerichtet hält, als ob er warte.

Ein schriller Schrei ertönte draußen vor der Mauer und pflanzte sich fort durch die Reihen der Soldaten.

»Wehe, er flieht!«

Ein Roß kommt donnernd angestürmt. Hamrigula sitzt darauf. Sein Gesicht ist geisterbleich. Wut rinnt ihm über die Wange. Die goldene Krone glänzt auf seinem Haupt, aber der Reif ist ihm zu weit. Tiefeingesunken sitzt die Krone dicht über seinen lodernden Augen.

Die Brücke kommt. Das Roß bäumt auf. Ein Blick fliegt hinab auf den Strom. Der König und der Prinz starren sich eine furchtbare Sekunde lang in die Augen.

Ein wahnsinniges grauenhaftes Aufgurgeln! Der Prinz stürzt in weitem Bogen hinunter ins Wasser. Im Fallen fliegt ihm die Krone vom Kopfe. Sie fällt dem toten König in die Hände.

Der Körper des Prinzen ragt halb aus dem Wasser. Schreiend, lallend, mit ausgestreckten Armen, mit glühenden Augen blickt er auf den Strom des Lebens. Der nimmt mit starker Welle den Verzweifelnden und reißt ihn nach dem Felsentore – den Lebenden unter die Toten, den Schreienden unter die Stillen. Und der König, der wie das richtende Gewissen thront, sieht zu.


Droben kommt wieder ein Reiter gesprengt – Juvento. Seine blonden Haare flattern, Siegesseligkeit strahlt aus seinen Augen.

Aber auch sein Roß bäumt sich auf, auch sein Auge erstarrt, als er den König sieht.

Er springt vom Pferde und schaut zitternd hinunter auf den Fluß.

Da gleitet die Gondel an den Rand des Stromes – und der Blick des Königs richtet sich gebietend auf den Jüngling.

Juvento zieht seine Schuhe aus und geht barfüßig, mit gesenktem Haupte hinab an den Fluß.

Demütig kniet er am Ufer nieder. Und als er die Krone in des Königs Händen sieht, versteht er dessen Willen.

Scheu nimmt er die Krone, küßt sie und hält sie in den Händen ehrfürchtig an seiner Brust.

»Wenn es der Wille des Volkes ist, werde ich sie in Ehren tragen!« sagte er mit zitternder Stimme.

Da stößt die Gondel vom Ufer ab und fährt schnell nach dem dunkeln Tore zurück.


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