Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Der Regent.

Zwei Tage nach dem Begräbnis des Königs ließ mich Prinz Hamrigula nach seinem Hause rufen. Er kam mir freundlich, aber viel gemessener entgegen als sonst.

»Ich habe Ihnen einen Auftrag zu geben, Herr Redakteur, einen ernsten, schwerwiegenden Auftrag. Ich hoffe, daß Sie ihn zu meiner Zufriedenheit erfüllen werden.«

»Königliche Hoheit, ich werde mich bemühen, meine Pflicht zu tun.«

Er nickte.

»Ich darf annehmen, daß Sie seit dem Tode meines seligen Oheims alles aufgeboten haben, um sich, soweit das möglich ist, Klarheit zu verschaffen über das scheußliche Verbrechen, dessen Augenzeuge Sie waren.«

»Gewiß, Königliche Hoheit, aber ich muß sagen, daß ich noch jetzt vor einem völligen Rätsel stehe.«

»Sie haben auch keinen Verdacht?«

»Keinen!«

Er lächelte. »Harmlose Seele! Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf! Sie sind weder Jurist noch Staatsmann. Es ist schließlich nicht Ihre Aufgabe, solchen Dingen nachzuforschen, was Sie zu tun haben ist augenblicklich einen Artikel zu schreiben und als Extrablatt der ›Zeitung‹ erscheinen zu lassen, in dem Sie dem Volke das mitteilen, was ich Ihnen jetzt auseinandersetzen werde.«

Er schritt ein paarmal das Zimmer auf und ab. Sein Gesicht war bleich. Schließlich blieb er vor mir stehen.

»Der König ist vergiftet worden, mit einem teuflischen, augenblicklich wirkenden Gifte. Nun sind zwei Möglichkeiten gegeben: entweder war der heilige Pokal vergiftet oder das Wasser, das der Könige trank. Ich habe Dr. Schnugu rufen lassen. Sie kennen ihn. Er ist ein ebenso kluger als zuverlässiger Mann, der Beste seines Berufes! Dr. Schnugu hat in dem Laboratorium, das im königlichen Schlosse ist, die Scherben des heiligen Pokals und darauf den Rest des Wassers, der noch in der goldenen Kanne war, untersucht. Vergiftet war – das Wasser.«

Er schwieg und fixierte mich scharf. Ich brachte kein Wort heraus. Da fuhr er in festem Tone fort:

»Die Greueltat erfordert Rache! Wäre der Pokal an sich vergiftet gewesen, dann hätte ich heute die sieben Priester, die ihn holten, aufhängen lassen, dazu alle Hüter des heiligen Berges. Da das Wasser der Kanne vergiftet war, so werden wir den Mörder in der Schlacht zu treffen wissen.«

»Sie meinen den Prinzen Juvento?« schrie ich auf.

»Ich meine nicht, mein Lieber, ich weiß es!«

»Das kann nicht sein, – das ist nicht wahr, o verzeihen Sie mir, Königliche Hoheit, aber das ist ganz gewiß ein Irrtum!«

Ich zitterte heftig und rang die Hände ineinander. Er lachte kurz und spöttisch.

»So halten Sie Dr. Schnugu für einen Dummkopf, der nicht eine einfache Analyse versteht?«

»Aber o nein – nein!«

»Oder halten Sie ihn für einen Schuft, der in einer so furchtbar ernsten Sache ein falsches Urteil abgibt?«

»Aber gewiß nicht, gewiß nicht!«

»Lieber Freund, ich halte Ihnen ja als Fremdling und als Dichter manches zugute, aber jetzt muß ich Sie doch sehr ernsthaft bitten, alle sentimentalen Regungen beiseite zu lassen und sich streng an die Tatsachen zu halten. Tatsache ist, daß das Wasser vergiftet war, und Tatsache ist, daß einzig und allein der Erbprinz Juvento mit diesem Wasser zu tun gehabt hat. Es ist ferner erwiesen, daß der König kurz zuvor Wasser aus derselben Kanne getrunken hat. Goldina selbst hat ihm den Trunk gereicht. Und da war das Wasser noch rein!«

»Aber Goldina hat den Erbprinzen selbst geschützt, hat seine Unschuld beteuert.«

»Seien Sie nicht töricht! Ich weiß, daß die Menschen wenig von seelischem Zauber verstehen, daß sie ein bißchen über Hypnose und Suggestion herumreden, aber im Grunde genommen von den großen, geheimen Kräften nichts wissen. Wir sind darin weiter, mein Lieber! Goldina, die sich in einen Schuft verliebt hat, ist einem solchen Zauber erlegen.«

»Es ist nicht möglich, nicht möglich!«

Da stampfte Hamrigula mit dem Fuß die Erde.

»Herr Doktor, ich erinnere Sie energisch an die Pflicht, die Sie dem Lande und Volke gegenüber haben, in dessen Sold Sie stehen! Wollen Sie zu einem Manne halten, der durch Monate unser Volk beschimpft, verhöhnt, entehrt hat, der seine Hand erhob gegen das geheiligte Leben unseres geliebten Königs?«

Ich stöhnte tief und schwer auf und wußte kein Wort zu sagen.

»Oder haben Sie einen Beweis für die Unschuld Juventos?«

»Ich habe keinen als das Zeugnis meines eigenen Herzens, das diesen Mann freispricht,« sagte ich leise.

Hamrigula wandte mir den Rücken.

»Königliche Hoheit, ich bitte Sie untertänigst, doch erwägen zu wollen, ob nicht eine andere Lösung möglich ist, zu erwägen, welch furchtbares Unheil aus der Äußerung eines solchen Verdachts erwachsen muß. Ich flehe Sie an, zu warten, – drei Tage, – zwei Tage, – einen Tag!«

Er wandte sich wieder nach mir um.

»Machen wir Schluß! Was Sie selbst für möglich oder unmöglich halten, ist ja im Grunde genommen gleichgültig. Sie sind nicht berufen, die Politik unseres Volkes zu bestimmen. Diese Aussprache hat mich überzeugt, daß Sie in solchen Dingen weder Initiative noch Direktive haben, daß Sie sich von Gefühlen und Sympathien leiten lassen, wo allein der scharfe Verstand, die Rücksicht auf die Ehre und das Wohl des Landes den Ausschlag geben dürfen. Ich wiederhole Ihnen nun meinen Auftrag: binnen drei Stunden erwarte ich, daß Sie mir einen Artikel vorlegen, der die Darstellung des Königsmordes genau so enthält, wie ich Sie Ihnen jetzt gegeben habe. Dieser Artikel wird, wenn ich ihn genehmigt habe, noch heute als Extrablatt der >Zeitung< ausgegeben werden.«

Da richtete ich mich vor dem Prinzen auf.

»Königliche Hoheit, ich weigere mich, diesen Artikel zu schreiben.«

Er wurde blaß; aber dann lächelte er kalt und spöttisch.

»Sie werden es sich überlegen! Die Aufrechterhaltung einer solchen Weigerung, die ich jetzt Ihrer Aufregung zugute halte, würde nicht nur Ihre Absetzung zur Folge haben, sondern Sie auch in den häßlichen Verdacht bringen, daß Sie vom Erbprinzen bestochen seien und demgemäß als Feind unseres Landes zu behandeln wären. In drei Stunden, Herr Redakteur!«

Und er verließ das Zimmer.


Wie ein Träumender irrte ich durch die Straßen von Marilkaporta. Ich glaube, daß ich heftiges Fieber hatte. Die Augen brannten mir, und wenn ich die aufgeregten Leute auf- und abwallen sah, diese Leute, die den schrecklichen Zündstoff im Herzen trugen, in den noch heute eine Brandfackel geworfen werden sollte, überrieselte mich ein eisiger Schauer, und ich sah alles wie durch einen Nebel.

Nie zuvor im Leben war ich so ratlos. Daß ich den Artikel nicht schreiben würde, wußte ich; aber was ich eigentlich tun solle, wußte ich nicht.

Da fiel mir Goldina ein. Einem seelischen Zauber sollte sie erlegen sein? Ich hielt das für Lüge! Was sie getan, wie sie den Prinzen gerettet hatte, das geschah unter keiner Beeinflussung, das war die freie Tat einer herrlichen Seele. Auch jetzt war sie es allein, die das Volk beruhigen, den Prinzen Hamrigula beschwichtigen konnte. Ich mußte mit ihr reden.

Eilig ging ich nach dem Königsschloß. Sonst stand ein alter Türsteher an der großen Pforte; heute waren zwei Soldaten dort aufgepflanzt.

»Ohne einen Erlaubnisschein des Regenten darf niemand das Schloß betreten.«

Ich prallte zurück, als ich diese Worte vernahm, ich war so töricht, mit den Soldaten verhandeln zu wollen. Aber es wurde mir grausam klar, daß das Schloß abgesperrt war, daß Goldina und Angelika Gefangene waren.

Mit müden Schritten ging ich zurück nach dem Marktplatz, nachdem ich ein paarmal zweck- und ziellos um das Schloß herumgeirrt war und in ohnmächtiger Sehnsucht nach den großen, leeren Fenstern hinaufgestarrt hatte.

Zurück zum Markt! Die Leute drängten und stießen sich. Manchmal erkannten mich einige und grüßten mich. Ich lehnte mich in eine hohe Haustür und überlegte, ob ich zum Volke reden, die Kraft der Rede probieren solle wie einst. Aber da erst wurde mir meine ganze Ohnmacht klar. Ich konnte nicht reden, nicht in diesem Zustand! Was hatte ich für Argumente einem so fieberhaft erregten Volke gegenüber, das ebenso überzeugt von der Schuld Juventos war, wie Hamrigula selbst, das diesem Hamrigula zugejauchzt hatte, als er das Schwert gegen den Erbprinzen zückte, das, vom Vulkanfeuer umloht, vom eigenen Verderben bedräut, nichts gewünscht hatte als den Tod dieses Einen? Ein Hohngelächter würde mir antworten. An die kalte Mauerwand lehnte ich die heiße Stirn, und ein Gefühl gräßlicher Vereinsamung überkam mich. Dr. Schnugu selbst, der alte, ehrliche Dr. Schnugu, stand auf der Gegenseite.

So wollte ich wenigstens ihn aufsuchen und mit ihm reden. Ich trat durch das Tor hinaus in den Märchenwald.

Noch immer beugten sich die Bäume im Todestrauerreigen, noch immer summten die Quellen ihre düsteren Psalmen. Die Elfenkinder nur hatten schon wieder zu tanzen begonnen.

Es war so weit, so weit! Wie ich auch eilte, wie ich die Schritte zählte, der Weg dehnte sich, und als ich nachrechnete, wie wenig Zeit mir blieb, ein maßloses Unglück zu verhüten, versagten die Glieder. Ich sank nieder am Rand des Weges, ich konnte nicht weiter.

Ein altes Weiblein kam des Weges dahergehumpelt.

»Lieber Herr,« sagte sie weinerlich, »wissen Sie nicht, wo der Dr. Schnugu bleibt?«

»Wo soll er bleiben? Ist er nicht zu Haus?«

»O nein! Ich warte schon zwei Tage auf ihn, aber er kommt nicht heim.«

Da bekam ich wieder Kräfte und eilte nach Dr. Schnugus Hause.

Es war leer. Der Ofen kalt. Die Fenster geschlossen. Die Luft schlecht. Ein paar lamentierende, kranke Leute hockten vor dem Hause.

Der Doktor war fort. Seit zwei Tagen.

Auch dieser letzten Hoffnung beraubt, ging ich langsam einen Waldweg entlang und kam nach längerer Wanderung aufs freie Feld. Mittag kam und ging vorbei. Nun waren die drei Stunden um. Mein Schicksal war besiegelt.

Aber ich dachte kaum an das, was mir drohte. Eine schwere Verachtung meiner selbst quälte mich. Da saß ich ratlos und tatenlos auf einem Feldrain, während drinnen in der Stadt der Krieg losbrach, saß müßig da, gefangen von einer trägen Traurigkeit, die wie ein böser Albzauber die Glieder lähmte, die Augen trübte, die Gedanken verwirrte und nur eines ungeschwächt wach erhielt: die schreckliche Furcht um Angelika, um Goldina, um das ganze Volk.

Solche Zustände bleiben so lange erträglich, als man seiner eigenen Sache sicher ist. Wehe aber, wenn der Zweifel kommt, wenn auch die innere Sicherheit ins Wanken gerät!

Nicht lange, da erfaßte mich der Zweifel. Zum ganzen Volk stand ich im Widerspruch in dieser fürchtelichen Sache, war blind und taub gegen alle Schuldbeweise, bildete mir ein, mich auf mein Gefühl verlassen zu können, ich, der landfremde Mann.

War es nicht wirklich ein seelischer Zauber, unter dem auch ich stand?

Konnte Hamrigula nicht recht haben, dieser zielbewußte, energische Hamrigula? Er hatte nur einen Leitstern, das Wohl des Landes, und ging ihm nach, unbekümmert, ob er auf dem Wege eine grüne Saat zerstampfte. Wie weit war er mir überlegen an festem Willen! Was war er für ein kühner, kluger Mann!

So quälte mich der Zweifel. Aber ich raffte mich auf, ich fand mich selbst wieder, ich schüttelte den Zweifel ab wie eine lästige Zwangsjacke, ich bekannte mich in trotziger Mühe zu meinem festen Glauben, ich wollte ihn bewahren und mit ihm siegen oder fallen.

Nicht nur um Juventos willen! Um des toten Königs willen, der seine Hand gehalten hatte über diesen Mann, um Goldinas willen, deren Glaube nicht wankte im Angesicht von Tod und Verderben.

Ich stand auf und beschloß, nach der Stadt zurückzugehen, vor allen Dingen mich mit Stimpekrex und Dr. Nein zu beraten.

Da machte ich eine Beobachtung, die mich erregte.

Eine große schwarze Krähe flog der Stadt zu. Sie hatte einen Brief am Halse hängen, der von ihrem schwarzen Gefieder deutlich abstach.

Der Gedanke durchzuckte mich, es sei eine von unseren Krähen, eine der geheimnisvollen Briefträgerinnen, die mir schon einmal hier auf dem Felde begegnet waren.

Gewiß, ich erkannte sie, und eine jähe Ahnung zuckte in mir auf.

Es war mir, als ob ein greller Blitz ein dunkles, düsteres Land vor mir auf eine Minute grell erleuchtet und mir drohende schwarze Gespenster gezeigt habe.

Wie erstarrt von dem Gedanken, der mich überkommen hatte, stand ich da und schaute der Krähe nach, die über der Stadt verschwand.

Ein schrecklicher Verdacht, ein scheußlicher Verdacht! Und doch so lebhaft, so packend, so zwingend, daß er mich ganz erfaßte!

Ich lief ein paarmal den Feldweg hinauf und hinab, sank aber bald wieder auf den Rain und begrub den Kopf in die Hände.

Klarheit! Klarheit! Ein bißchen Licht!

»Guten Abend, lieber Herr. Da bin ich wieder!«

Ich schaute auf, stutzte und fing dann laut an zu lachen. Fing an zu lachen in all meiner schweren Bedrängnis! O, es gibt Ventile des Herzens! Ich habe einmal in todesgefährlicher Seenot, als unser Schiff nahe am Untergehen war, laut lachen müssen, weil sich ein Mann neben mir in seiner Verwirrung die Gummischuhe anzog; und ich mußte auch jetzt laut und herzlich lachen, denn vor mir stand – mein wohlbekanntes Füchslein, das trug irgendein übelzugerichtetes Geflügel in der Schnauze.

»O, Meister Fuchs, – Ihr seid es? Wollt Ihr denn wieder zu Dr. Schnugu? Wollt Ihr ihm denn wieder eine Henne hintragen?«

»Nein, eine Pute! Glaubt mir, lieber Herr, ich bin ein geschlagener Mann! Ich hab' immerfort Gewissensbisse, daß ich mich noch nicht für das Schwanzanleimen erkenntlich gezeigt habe, und nun wollte ich die Pute hintragen und seht Ihr, jetzt fehlt doch wieder der Kopf und ein Flügel.«

Armer Kerl, bei dem die Dankbarkeit und die Freßlust in so grimmem Streite lagen! Als ich ihn so mit gesenktem Kopfe vor seinem Putentorso stehen sah, mußte ich lachen, daß mir die Augen feucht wurden. Er sah mich bekümmert an.

»Lieber Herr, lacht nicht! Ich weiß, daß Ihr ein kluger Mann seid! Sagt mir, ob es anständig ist, einem Doktor eine Pute zu schenken, an der der Kopf fehlt und ein Flügel.«

»Nein, mein Freund, und ich kann Euch auch sagen, daß Ihr den Doktor Schnugu gar nicht antrefft. Er ist fort; es weiß schon seit zwei Tagen niemand, wohin er ist.«

»Oh, was sagt Ihr? Er ist fort? Ja, was mach ich dann mit meiner Pute?«

»Eßt sie selber, lieber Meister! Laßt sie euch gut schmecken! Aber nein, – nein, – halt, – wartet! Wartet einen Augenblick, – mir ist etwas eingefallen, – oh, das wäre gut, – wahrhaftig, das ginge vielleicht – – Wollt Ihr mir einen Gefallen tun, lieber Freund?«

Er hatte schon den zweiten Flügel aus der Pute herausgerissen. Kauend sagte er:

»Ich werde alles tun, was Ihr wollt, weiser Herr!«


Kurze Zeit später geschah folgendes:

Auf dem Feldwege lag ein großer, rotleuchtender Fleischbrocken. Drei Schritte davon weg, unter einem Strauch verborgen, lag der Fuchs. Ich selbst stand eine Strecke abseits.

Die schwarze Krähe kam aus der Stadt zurück und segelte langsam durch die Luft. Sie trug abermals einen Brief am Halse. Ich warf mich auf die Erde, der Schweiß tropfte mir von der Stirn, die Hände zitterten mir leise, und ich starrte unausgesetzt nach der Krähe.

Die Krähe stierte nach unten, verlangsamte den Flug, zog einen Kreis und schoß dann pfeilschnell herab nach dem rotleuchtenden Fleischbrocken.

Ein fürchterliches Todeskrächzen erfolgte, dann rief mein roter Genosse übers Feld:

»Kommt her, lieber Herr, sie ist tot!«

Ich eilte hin, und der Fuchs präsentierte mir einen Brief.

»Da habt Ihr den Brief, lieber Herr, den Ihr wolltet!«

»An die Posaune!« stand darauf.

Ohne eine Spur vor Gewissensbissen riß ich den Umschlag auf.

Ich las – las!

Und dann stürzte ich mit einem gellenden Lachen der Stadt zu.


Ich eilte nach meiner Wohnung. Dort fand ich Dr. Nein, Stimpekrex und Schnaff.

»Endlich! Endlich!« riefen sie mir zu. »Wir warten hier auf Sie. Es sind die wichtigsten Dinge passiert, Hamrigula läßt Sie suchen; er braucht Sie!«

Ich sank auf einen Stuhl.

»Meine Freunde, ich muß Euch eine schreckliche Mitteilung machen, – Hamrigula ist ein elender Schuft!«

»Herr!« schrie Stimpekrex auf und hob die geballte Faust gegen mich. Dr. Nein fiel ihm in den Arm. Aber auch er fragte gereizt:

»Wie beweisen Sie diese Anklage gegen unseren Regenten?«

»Ich habe den Beweis in der Hand, daß alle die Schandartikel der »Posaune«, auch alle die Angriffe auf Hamrigula – dieser Hamrigula selbst geschrieben hat.«

»Das ist Wahnsinn!«

»Das ist ganz undenkbar!«

Sie schrien alle durcheinander.

»Meine Freunde, hört mich! Die Zeit ist kostbar. Hört mich an! Die Prinzessin ist im Schlosse abgesperrt.«

»Ja, weil sie unter einem verderblichen Einfluß des Erbprinzen steht und sehr krank ist!« rief Stimpekrex.

»Dr. Schnugu ist seit zwei Tagen verschwunden.«

»Der Regent hat bereits eine hohe Belohnung ausgesetzt für den, der eine Mitteilung über den Verbleib des Doktors macht. Es wird vermutet, er sei von Helfershelfern des Erbprinzen um die Ecke gebracht worden.«

»Das ist nicht wahr! Das verhält sich alles ganz anders! Seht diese zwei Schriftstücke! Kennt Ihr die Schrift?«

»Es ist Hamrigulas Schrift!«

»Ich habe die beiden Schriftstücke einer Krähe abgenommen, die Hamrigula als Boten an die »Posaune« geschickt hat. Das eine ist ein neuer Schmähartikel, der sich gegen unser Land und gegen Hamrigula richtet und unmittelbar zum Kriege mit uns auffordert, das andere ist eine hohe Geldanweisung für den Redakteur der »Posaune«, der damit seinen Schurkenlohn erhält. Beide Schriftstücke sind von Hamrigula geschrieben.«

»Das ist unmöglich! Das ist Irrtum, Fälschung, Wahnsinn! Das kann nicht sein!«

»So leset, leset es selbst!«

Sie stürzten sich auf die Dokumente, während ich mir zitternd ein Glas Wasser eingoß.

Eine schwere Pause, nur unterbrochen durch kurze Ausrufe der Lesenden. Dann wandte sich Stimpekrex an mich – totenbleich. Er schluckte ein paarmal; dann würgte er heraus:

»Herr, der Schuft – sind Sie! Sie haben die Schriftstücke gefälscht! Sie sind eine Kreatur des Erbprinzen!«

Das Wasserglas fiel mir aus der Hand. Einen Augenblick stand ich ihm in Todfeindschaft gegenüber; da stürzten die beiden anderen zwischen uns.

»Laßt ihn erst reden, haltet Frieden!« rief Dr. Nein. »Wie sollen wir das verstehen? Wie soll so etwas möglich sein? Reden Sie, Herr!«

Doch ich war sprachlos. Ich hörte nur, daß ein wüster Lärm um mich war, aber ich hatte kein Gefühl. Das Blut war mir erstarrt über der erfahrenen Beleidigung.

»Sie müssen einsehen, daß wir fassungslos sind, Sie müssen Herrn von Stimpekrex seinen Patriotismus zugute halten! Wie kann sich der Prinz selbst so ehrlos beschimpfen? Wie kann er noch Geld dafür zahlen?«

Da fand ich mich wieder.

»Ich wünsche, daß Sie sich niedersetzen, Herr Dr. Nein, und Sie, Herr Schnaff, und daß mich keiner unterbricht,« sagte ich in befehlendem Ton. »Ich bin Ihr Vorgesetzter, und außerdem sind wir in meiner Wohnung, in der ich der Herr bin. Ihnen, Herr von Stimpekrex, weise ich die Tür! Ihnen werde ich keinen Aufschluß geben.«

»Wie Sie wollen,« sagte er zitternd. »Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß ich es für meine Pflicht halte, den Regenten meines Vaterlandes von Ihren Machenschaften zu unterrichten.«

»Tun Sie das! Die Reue wird Ihre Strafe sein, wenn sie einsehen werden, daß Sie sich zum Genossen eines Verbrechers gemacht haben, daß Sie das Vaterland, das Sie so lieben, haben ins Verderben führen helfen. Nun gehen Sie!«

Er ging nicht. Ein heftiges Zittern befiel seinen Körper, Totenblässe bedeckte seine Wangen, und plötzlich fing er laut an zu schluchzen.

Das schlug mir ins Herz wie eine Flamme. Er war doch ein edler Mann! Sein Vaterland, sein Herrscherhaus liebte er in so glühender Leidenschaft, daß er gegen jeden die Hand erhob, der ein Wort dagegen sprach – auch gegen den Freund.

Ich ging zu ihm.

»Wollen Sie gar kein Vertrauen zu mir haben?«

Er schluchzte heftiger und war gänzlich fassungslos.

Da faßte ich ihn um die Schultern und drückte ihn auf einen Stuhl.

Dann schritt ich zweimal durchs Zimmer und fing endlich an zu reden.

»Ich bin ja selbst wie in einem Labyrinth, ich muß mir ja selber alles erst zu erklären suchen; ich habe ja selbst laut und gellend aufgelacht, als ich die Krähe gefangen und den Brief gelesen hatte. Vielleicht ist es so, wie ich jetzt sage; vielleicht ist es auch anders. Wer soll in so schwerer Erregung ganz klar sehen?

Hamrigula strebte nach der Krone und nach der Hand Goldinas. Das hat er mir selbst gesagt, und ich hielt sein Streben für berechtigt. Aber nun sah sich der Prinz durch das Erscheinen Juventos am Hofe in allen seinen Aussichten bedroht. Es ist klar, daß anfangs der Hof und das ganze Volk die Vereinigung Juventos mit Goldina und damit wieder die Vereinigung der beiden getrennten Bruderländer wünschten. Das suchte der maßlos ehrgeizige Hamrigula um jeden Preis zu verhindern. Ja, um jeden Preis! Die »Zeitung»wurde bei uns gegründet. Das brachte ihn auf einen ihm günstigen Gedanken. Er gründete mit seinem Gelde im Nachbarlande ein Gegenorgan, die »Posaune«. Anfangs mußte sich das Blatt in unserem Lande beliebt und interessant machen. Dann begann Hamrigulas Werk. Ein Artikel nach dem anderen erschien, in dem unser Land, unser Hof, unser Volk in der gehässigsten Weise angegriffen wurden. Die Folgen, die daraus entstehen mußten, hatte Hamrigula klug berechnet. Es mußte eine Spannung entstehen zwischen unserem Lande und dem Nachbarlande, unser Volk mußte erbittert werden gegen die Hakulatotuländer, und die Stellung des Erbprinzen bei uns wurde dadurch erschüttert. Ja, die Erbitterung wuchs, als neben den Angriffen auf alles Herididasusoturanische dem Erbprinzen in dem Organ seines Landes eine widerwärtige Schmeichelei nach der anderen gespendet und seine Thronkandidatur in der aufdringlichsten Weise betrieben wurde; zuletzt mußte es so erscheinen, als ob der Erbprinz Juvento diese Artikel selbst beeinflusse. Und da hatte er in unserem Lande verspielt!«

»Das ist möglich! Wahrhaftig, das ist möglich!« rief Dr. Nein.

Stimpekrex starrte mich mit großen Augen an.

Ich fuhr fort: »Daß Hamrigula sich in der »Posaune« absichtlich beschimpfen, verhöhnen, entehren ließ, war ebenso klug von ihm berechnet. Denn durch diese Beschimpfungen ist er bei uns zulande populär geworden. Das Volk nahm Partei für den so maßlos und heftig, so ersichtlich ungerecht angegriffenen Prinzen seines Herrscherhauses; das Volk, das immer zu gleicher Zeit selbst beschimpft wurde, identifizierte sich mit dem Prinzen, und wenn es nun zum Kriege kommt, dann wird das Schlachtgeschrei der Unseren sein: »Hamrigula und die Rache!« Der mächtige Nebenbuhler ist unmöglich geworden im Lande, die Krone ist Hamrigula gewiß; seine klugen Berechnungen haben das richtige Resultat ergeben.«

»Es ist so, Chef, es ist so!« rief Dr. Nein. »Ich hab' die Wandlung in meiner Gesinnung für den Prinzen selbst erfahren. Ich habe ihn gehaßt, immer gehaßt, aber dann, als ihn dieses fremde Schandblatt so ungerecht schmähte, da fing ich an, ihm gut zu werden, Partei für ihn zu nehmen, und so hat es das ganze Land getan. Es ist die gräßlichste Sache, die mir passiert ist.«

Herr von Stimpekrex kam auf mich zu. Mit heiserer Stimme sagte er:

»Ich bitte Sie um Verzeihung! Ich war so aufgeregt, daß ich nicht wußte, was ich tat. Ich glaube auch jetzt noch, daß Sie sich täuschen, aber ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind. Ich bitte sie herzlichst um Verzeihung!«

Ich reichte ihm die Hand.

»Mein Freund, Ihre große Vaterlandsliebe und Königstreue machen alles gut. Aber gerade in dieser schweren Zeit müssen die wahren Patrioten zusammenhalten. Ich selbst zweifle an der schweren Schuld des Prinzen nicht. Ich halte die Beweisstücke für unwiderleglich.«

Und ich erzählte in aller Eile das Abenteuer mit dem Fuchse und der Krähe etwas genauer.

»Es dringt eine Menge Soldaten ins Haus!« rief Schnaff, der am Fenster stand, »Was soll das heißen? Vielleicht sollen wir verhaftet werden. Da muß ich fort. Leben Sie wohl, meine Freunde! Ich krieche am Blitzableiter hinab. Einer muß frei bleiben. Ich bringe alles ans licht. Sorgen Sie sich nicht, daß ich den Hals breche, ich war nicht umsonst Schieferdecker und Kunstreiter. Ich bringe alles ans licht! Leben Sie wohl!«

Er verschwand eilig nach einem Hinterzimmer. Im nächsten Augenblicke trat – Prinz Hamrigula zu uns ins Zimmer. Draußen auf dem Flur standen Soldaten.

Der Prinz maß mich mit einem hochmütigen, eisigen Blicke.

»Warum haben Sie meinem Befehle nicht gehorcht? Warum haben Sie so gewissenlos Ihre Pflicht versäumt?«

Ich blickte ihn mit offener Verachtung an. Ohne meine Anrede zu gebrauchen, erwiderte ich:

»Ich habe meine Pflicht dadurch getan, daß ich Ihnen nicht gehorchte!«

»Mann!«

Aber er mäßigte sich und lächelte höhnisch.

»Das muß ich zugeben: wenn Sie auch sonst nichts leisten, in der Frechheit leisten Sie viel! Dafür werden Sie nun auch Ihren ganz besonderen Lohn erhalten. Was das Extrablatt der »Zeitung« anbelangt, so habe ich den Text selbst geschrieben und in Ihrer Abwesenheit den Artikel mit den Namen der vier Redakteure unterzeichnet!«

»Das ist eine Fälschung!« schrie ich.

»Das ist eine bodenlose Gemeinheit!« rief Dr. Nein, außer sich vor Wut.

Der Prinz lächelte kalt.

»Ich habe eine Abschrift des Artikels, der übrigens schon gedruckt ist, hier. Es kommt darauf an, ob Sie ihn nachträglich unterzeichnen wollen. Danach wird sich nämlich Ihr Schicksal richten. Erscheinen wird der Artikel mit Ihren Unterschriften auf jeden Fall.«

Da verlor ich die Fassung.

»Ich sage Ihnen, dah Sie ein Lump sind!«

Der Prinz riß seinen Degen heraus.

»Halt! Mit welchem Recht greifen Sie mich an, Sie, der Sie das Vaterland verraten haben? Sie sind entlarvt; ich habe die Briefe abgefangen, die Sie mit der Krähe an die »Posaune« schicken!«

Ein jäher, kurzer Schrei, sein Gesicht verzerrte sich, der Degen fiel aus seiner Hand, geisterbleich stand er da. Ein entsetztes, unverständliches Lallen kam ihm vom Munde.

Da tönte ein weher, schriller Schrei durch das Zimmer. Stimpekrex stürzte wie ein Wahnsinniger auf den Prinzen und umklammerte seinen Hals.

»Es ist also wahr – wahr – o, du elender, elender, elender Schurke – und ich hab' geglaubt, geliebt, vertraut –«

Ein schwacher Hilfeschrei des Prinzen, die Tür sprang auf, Soldaten stürzten herein.

»Nehmt den Rebellen!«

Stimpekrex wurde ergriffen. Ich sprang ans Fenster und riß es auf.

Auf die Gasse wollte ich die Wahrheit hinausschreien.

Da traf mich ein schwerer Schlag gegen den Kopf.

Und ich wußte von da an nichts mehr.


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