Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Unsere goldene Jungfrau.

Das prunkende, geschmacklose Hotel, das in der Nähe des ehrwürdigen Grabes errichtet worden war und das der Baedeker mit dem Heiligtum in einem Atem nannte, auch in ganz demselben Stile verzeichnete, vermied ich und machte mich wieder auf die Wanderschaft.

Aber ich war schon tagelang gewandert, der Besuch der erhabenen Stätte hatte mich heftig erschüttert, also war ich bald sehr müde und schlief unter einem Baume ein.

Als ich erwachte, sah ich ein Füchslein seines Weges traben. Es trug eine tote Henne in seiner Schnauze, eine richtige, große Henne, also eine von oben. Einmal legte der Rotrock die Henne auf den weg, beroch sie von allen Seiten, wobei ihm die Zunge blutrot aus dem Maule hing, aber dann gab er sich einen energischen Ruck, erfaßte die Henne wieder und trug sie weiter.

Als der Fuchs zu mir kam, ließ ich mich in ein Gespräch mit ihm ein. Daß die Tiere eine Sprache haben, wußte ich schon immer, verstand auch schon seit meiner Kindheit Tagen ein paar Brocken davon; aber es waren eben nur Brocken geblieben. Jetzt, seit ich gewürdigt worden war, ein Herididasufoturanier zu sein, verstand lch die Tiersprache ganz.

Es ist wie im Englischen: Syntax und Grammatik sind sehr einfach; aber die richtige Aussprache macht Schwierigkeiten.

»Guten Tag, Meister Fuchs! Wohin gehst du?« '

Er sah mich verwundert an, vielleicht, weil ihm der fremde Akzent aufgefallen war, ließ die Henne fallen und sagte: »Ach, ich muß zu Dr. Schnugu. Der ist Waldarzt und wohnt bei der Hauptstadt. Ich hatte mir neulich ein bißchen meinen Schwanz abgequetscht, und weil er ihn wieder angeleimt hat, will ich ihm eine Henne hintragen. Es ist eine sehr schöne Henne, denn sie ist jung und fett. O, es ist eine herrliche Henne!«

Seine Augen hingen gierig an dem toten Vogel, und ein leises Lechzen kam ihm aus dem Maule.

»Meister Fuchs,« sagte ich, »da hast du einen weiten Weg.«

Er nickte.

»Ich hab' schon siebenmal eine Henne hintragen wollen; aber weil es sehr weit ist, so – so ist mir immer die Henne unterwegs abhanden gekommen.«

Ich mußte lachen; aber er merkte das nicht, denn seine Nase bohrte sich schon wieder in die Federn und sog gierig den Duft des jungen Fleisches ein.

»Herr Fuchs,« sagte ich, »ich möchte dir einen guten Rat geben. Iß die Henne selber!«

Er blickte schnell auf und machte ein sehr entrüstetes Gesicht.

»Du wirst mir nicht zutrauen, fremder Herr, daß ich eine Henne selber esse, die ich dem Dr. Schnugu schenken will.« '

»Iß sie selber, lieber Meister! Denn ich vermute, daß es den Dr. Schnugu sehr betrüben wird, daß die Henne gestorben ist. Ja, ich fürchte, er könnte dir in der Aufregung über den Tod der Henne deinen Schwanz wieder ableimem Er hat ein sehr weiches Herz, und du mußt ihn vor solcher Betrübnis bewahren.«

»Meinst du? Du scheinst ein sehr weiser und nachdenksamer Mann zu sein. Und wenn du sagst, daß es den Doktor betrüben wird, daß ich die Henne – daß die Henne gestorben ist, so kann alles nichts helfen: ich muß sie selber essen, obschon es mir schwer fällt, daß er sie nicht bekommt.« ^

Und er seufzte und biß darauf der Henne den Kopf ab.

»Ich muß mich sehr überwinden,« sagte er, während er fraß, »aber es wäre häßlich, wenn ich undankbar wäre.«

Der Rotrock war erkenntlich für meinen guten Rat, und nachdem er von der Henne nichts übrig gelassen hatte als die Federn, lud er mich ein, auf seinem Rücken Platz zu nehmen; er habe jetzt einen freien Tag, und wir könnten ein Stückchen mitsammen reisen.

Unterwegs erzählte er mir viel von seinen Abenteuern über und unter der Erde; aber da ich glaube, daß das meiste Schwindel war, so will ich es nicht wiedererzählen.

Es kommt nie vor, daß ein Dichter mit einem Fremden länger als eine halbe Stunde zusammen ist, ohne daß er in geschickter Weise die Rede darauf bringt, daß er ein Dichter sei. Ich machte es natürlich auch so. Der Fuchs warf mir den halb neugierigen, halb mißtrauischen Blick zu, der in solchen Fällen üblich ist, und sagte dann:

»Der beste von allen Dichtern heißt Goethe.«

Ich war natürlich sehr erstaunt über dieses Urteil, da sagte der Fuchs:

»Er hat ein Buch über uns Füchse gemacht; dadurch sind wir sehr berühmt und beliebt geworden. Wir haben einen Klub, in dem hält ein Professor sehr schöne, populäre Vorträge, der hat es uns gesagt. Und wir haben beschlossen, dem Dichter Goethe keine einzige Gans oder Henne fortzuholen. Selbst eine Taube ist verboten. Und es ist auch ganz gut gegangen, denn er ist schon tot, und er hat überhaupt kein Geflügel gehabt.«

Ich war sehr gerührt, denn ich erkannte wieder einmal, daß kein Dichter unbelohnt bleibt, wenn er Segen stiftet – für Füchse.

Gegen Abend begegnete mir noch etwas Wunderliches. Ein Luftballon sank langsam vom »Himmel« herab. Aus der Gondel stiegen mehrere Herren, die allerhand merkwürdige Geräte trugen. Ich wandte mich in aller Bescheidenheit an einen der Herren und bat ihn um Auskunft über den Zweck der Ballonfahrt und der Instrumente. Da er ein Beamter war, gab er mir nur eine kurze Auskunft.

»Die Vermessungskommission ist oben gewesen. Grenzstreitigkeiten über den Wurzelgrund zwischen einer alten Linde und einem wilden Apfelbaum. Verfluchte Schererei! Der Linde, der geizigen, alten Schraube, wollen wir's mal anstreichen!«

Er hatte mehr für sich selbst gesprochen und ging mit seinen Kollegen verdrossen einem Hause zu, auf dessen Türschild das Wort »Katasteramt« zu lesen war.

Nachdenklich ritt ich weiter. In meiner Heimat standen eine alte Linde und ein wilder Apfelbaum dicht beisammen. Wenn der Sturm ging, schlugen sie aufeinander los, und wenn es sehr arg wurde, fuhren sie sich in die Haare. Als Kind sah ich das oft.

Grenzstreitigkeiten über den Wurzelgrund! Und hier war das Katasteramt! Am Ende kommt man den tiefsten Dingen auf den Grund.

Der Fuchs fing wieder ungeheuerlich zu schwindeln an. Es ist schade, daß alle Förster und Sonntagsjäger die Füchse über den Haufen knallen, wenn sie ihnen begegnen und sich nicht lieber in eine Unterhaltung mit ihnen einlassen. Von denen könnten sie noch etwas lernen. Auch den Zeitungskorrespondenten würden solche Bekanntschaften sehr von Nutzen sein. Denn richtig schwindeln kann nur ein begabter Mensch. Einer, der Phantasie hat! Und es gehört Schule dazu! Sonst bleibt einer ein Stümper und kann keine Freude an seinem Beruf haben und die Zuhörer oder Leser auch nicht.

Ich zog meine Uhr. Die Herididasufoturanier rechnen die Stunden von eins bis vierundzwanzig, so etwa wie bei uns Europäern die Italiener. Jetzt war es vierzehn Uhr. Da begann die gesetzliche Nacht. Herr von Stimpekrex hatte mir einmal die Zeiteinteilung erklärt. Auf den Tag entfallen vierzehn, auf die Nacht zehn Stunden. Zehn Stunden für die Nacht sind notwendig; denn sieben Stunden muß nach allen Gesundheitsbüchern ein erwachsener Herididasufoturanier schlafen, und drei Stunden sind auf dem Lande für die »Lichtenabende« und in den Städten für das »Nachtleben« auch bei bescheiden Ansprüchen erforderlich.

Es ist hübsch, wenn alles recht geregelt ist. Man braucht sich dann bloß danach zu richten und wird laut Garantie der Gesundheitsbücher ein alter Mann.

«Meister Fuchs, es ist bereits vierzehn Uhr! Ich muß daran denken, mir ein Nachtquartier zu suchen!«

Der Fuchs sagte, er könne noch nicht ans Schlafen denken, er müsse noch in Geschäften auf die Erde hinauf, und verabschiedete sich von mir.

In einem einfachen Gasthause am Wege übernachtete ich. Es war verhältnismäßig billig. Das Nachtquartier kostete nur achtzig Gulden, und der Hausknecht, der mir die Stiefel geputzt hatte, war mit einem Trinkgeld von etwa hundert Mark nach unserm Gelde zufrieden. Die »Rübezahls-Ruh« hatte so hohe Preise, weil das Haus in der Nähe einer Sehenswürdigkeit lag, und weil – wie ich erfuhr – der Wirt den Hotelbetrieb in der Schweiz studiert hatte.

Einsam wanderte ich an den nächsten zwei Tagen weiter. Der alte Herzenskummer fiel mich wieder an. Das lustige Geplauder des Fuchses fehlte mir sehr. Nun schlich ich meine Straße entlang, und wenn ich daran dachte, daß ich aus diesem wundersamen Lande eine herbe Herzenserfahrung mit hinaufnehmen sollte, tat mir die Seele weh.

Am dritten Tage kam ich auf Frau Holles grüne Wiese. Auch Frau Holle ist tot. Seit langer Zeit! Aber der Platz, wo sie gewohnt hat, wird in Ehren gehalten.

Ich habe ja für Frau Holle nie ein sehr hohes Gefühl gehabt – schon als Kind nicht. Trotz ihres »Gesottenen und Gebratenen« und trotz der glänzenden Bezahlung ist sie mir immer als ein rechter Hausdrache erschienen. Häßlich und philiströs, ein »schwerer Ort« für Dienstboten. Früher ist sie ja ein schönes Weib gewesen, eine lichte Frühlingsfee. Aber mit den Jahren wurden ihre Zähne lang und gelb, und sie bekam den »Reinemacheteufel«. Ach, diesen traurigen Weg gehen so viele holde Feen!

Immerhin ging ich an der historischen Stätte natürlich nicht vorüber. Ich fand den schmalen Wiesenpfad, den das schöne, fleißige Kind ging, das in der Angst seines Herzens in den Brunnen gesprungen war, und kam an den Apfelbaum. Er war umzäunt, so daß niemand nahe an ihn herankommen konnte, außerdem stolzierte ein Wächter auf und ab, der auf seiner grünen Uniform ein Blechschild mit der Nummer »5« hatte.

Er erzählte mir, seit die Hausfrauen der nahen Stadt mit großen Körben gekommen seien, um sich hier billiges Winterobst einzusammeln, hätten die Apfel aufgehört zu reden, und es sei der Stachelzaun gemacht und eine stete Bewachung eingerichtet worden.

Betrübt ging ich weiter und kam an den Backofen. Auch da stand ein Wächter. Wieder ließ ich mir Auskunft geben. Die »Armen« der nächsten Ortschaften hatten das Privileg erhalten, hier ihr Brot zu holen. Sie hatten es aber nicht gegessen, sondern sich an die Landstraße gesetzt und mit »echtem Frauschwunghaften Handel betrieben. Die Touristen zahlten für einen Bissen hohe Summen, schließlich hatten einige pfiffige Bäcker der Umgegend auch imitiertes Hollebrot auf den Markt gebracht. Seit der Zeit wurde an Private nichts mehr abgegeben. Das Brot kam in plombierten Körben nach der Hauptstadt. Einen Teil nahm der königliche Hof, alles andere wurde in den Gesundheitssee für die Fische gestreut.

Und wieder ging ich weiter und kam an Frau Holles Haus. Da erst bekam ich einen rechten Schreck.

Vor der Tür saß ein Mann »an der Kasse« und forderte mir ein hohes »Eintrittsgeld« ab. Auch bot er mir einen »illustrierten Katalog« an.

Das Haus der Frau Holle war in ein Museum umgewandelt worden.

Mechanisch bezahlte ich die mir abgeforderte Summe, nahm den Katalog in die Hand und trat ein.

Im Hausflur mußte ich Hut, Mantel und Stock abgeben, dann wurde mir bedeutet, ich müsse die Schuhe ausziehen. Die gute Frau Holle habe der Reinlichkeit wegen nie gestattet, ihre Stuben anders als in Strümpfen zu betreten. Aus Pietät habe man daran nichts geändert. Nachdem dann mehrere dienstbare Geister mit Reisbesen und Bürsten noch eine qualvolle Viertelstunde an mir herumhantiert hatten, wurde mir der Eintritt gestattet.

In sehr gedrückter Stimmung schlich ich nach »Saal Nr. 1, Frau Holles Wohnstube«.

Ein großes, unbehagliches Gemach. Tot und starr alles. Überall atembeklemmende »Ordnung«. Die Möbel standen feierlich und steif in genauer Abzirkelung des Standortes an den Wänden entlang. Alle Polster waren mit grauen Schutzhüllen bekleidet. Über dem mathematischen Mittelpunkt des Zimmers stand ein Tisch und auf diesem Tisch ein Glaskasten. Genau auf der Mitte des linken Fensterbrettes stand eine Aloepflanze mit fetten, stachligen Blättern, auf der Mitte des rechten Fensterbrettes ein kümmerliches Myrtenbäumchen.

Schrecklich war mir ein Bild der Frau Holle. Es hing natürlich über dem Sofa. Die peinliche, strenge Toilette wagte ich gar nicht genau zu mustern. Mich hypnotisierten die kalten, schwarzen Augen.

Wie ein schüchterner Schüler stand ich in meinen Strümpfen da. Was nur diese Frau so unheimlich nach meinen Strümpfen zu schauen hatte! Verwirrt guckte ich nach unten. O ihr lieben Götter der Unter- und Oberwelt! Bei der linken großen Zehe waren zwei oder drei Maschen aufgegangen. Mir wurde heiß zumute. Gewiß saß auch meine Halsbinde nicht genau; vielleicht hatte ich gar auf der Stirn einen schwarzen Fleck. Alle Ordnungssünden meines Lebens fielen mir ein. Wenn diese Frau einmal oben auf der Welt mein Junggesellenheim revidiert und nur einen einzigen Blick auf meinen Schreibtisch oder in mein Wäschespind geworfen hätte, dann hätten alle Pechsessel der Welt nicht ausgelangt, mich zu bestrafen.

Mit einem gewaltsamen Ruck wandte ich mich von dem Bilde ab und dem Glaskasten zu. Den hatte erst die »Museumsverwaltung« aufstellen lassen. Er enthielt allerlei »Denkwürdigkeiten aus großer Zeit«.

Das Originalkochrezept der Frau Holle für Schweinebraten; sechs Töpfe, in denen sie ihr Eingemachtes gehabt hatte; ein Häuflein der bekannten Federn, die auffliegen mußten, wenn die Betten geschüttelt wurden; ein winziges Berglein Staub, den das faule Mädchen am neunten Tage ihres Dienstes beim Auskehren »liegen gelassen hatte«, der Henkel »einer guten Tasse«, den sie am fünfzehnten Diensttage abgeschlagen hatte, zu guter Letzt ein echter Zahn der Frau Holle.

Da wurde mir übel, ich ergriff die Flucht und lief nach dem Hausflur zurück.

»Geben Sie mir meine Schuhe,« keuchte ich.

»Hat denn der Herr schon sämtliche Räume gesehen?«

»Nein, nein, aber mich friert – ich muß fort. Ich habe genug gesehen!«

Rasch kleidete ich mich an.

»Wollen der Herr der Frau Gemahlin oder der Frau Mutter das Haushaltungsbuch der Frau Holle mitnehmen? Billige Volksausgabe. Nur 200 Gulden.«

Ich war schon draußen. Mit Gier sog ich die freie Luft ein, ergriff eine Prise Staub und machte mir damit einen Fleck auf den linken Ärmel. Ich mußte etwas haben, das gegen die atembeklemmende Ordnung protestierte.

Nicht eine Minute länger wollte ich auch nur in der Nähe dieser Ordnungshölle verweilen.

Ein Bächlein rieselte die Wiese entlang, krummlinig, bald von hohem, bald von niederem Ufer, und die Weiden am Rand hatte der Herrgott ohne alle Symmetrie bald hoch, bald klein, bald dick, bald dünn, bald grad, bald schief, bald nahe, bald weit voneinander hingepflanzt.

In dieser unaufgeräumten Natur ließ sich leben.

Ich ging ein Stückchen weiter und sah immer mit Wohlgefallen nach dem krummlinigen Bächlein und den schiefen Weiden.

Da plötzlich – stand Angelika vor mir.

Sie stand an eine Weide gelehnt und schaute mich regungslos an. Ihr Gesicht war blaß.

Wie angewurzelt blieb ich anfangs stehen, dann ging ich langsam näher.

Ich stammelte einen Gruß und drückte meine große Überraschung aus, sie hier zu finden. Ihr Gesicht blieb unverändert, und ihre Stimme klang kalt und fremd, als sie sagte:

»Ich bin mit der Prinzessin hier. Wir sind auf Reisen gegangen, wenn Sie die Prinzessin sprechen wollen, sie ist da drin in dem Hause.«

Und sie wies nach Frau Holles Haus.

»Sehen Sie sich denn nicht auch das Haus an?« fragte ich.

»Nein! Ich bin im ersten Zimmer umgekehrt. Die stockige Luft fiel mich an. Ich hasse solche Häuser!«

Ein Jubelgefühl quoll mir durch die Seele, und ich konnte es nicht hindern, daß meine Augen glänzten.

»Es ist merkwürdig, Fräulein Angelika; ich bin auch im ersten Zimmer umgekehrt.«

Sie antwortete nicht und wandte das Gesicht von mir ab dem Bache zu. Ich betrachtete ihr reines, süßes Profil, und die Liebe lohte wieder in mir auf mit tiefer, schmerzlicher Innigkeit. Ich vergaß meinen Groll und wäre nicht imstande gewesen, mich von diesem süßen Bilde loszureißen.

»Wollen Sie mir gestatten, Fräulein Angelika, hier mit Ihnen auf die Prinzessin zu warten?«

Sie wandte sich rasch nach mir um.

»Nein, sondern ich bitte Sie, daß Sie mich verlassen.« Ich trat einen Schritt zurück.

»Warum sagen Sie mir das?«

Sie wurde noch bleicher, und ihre Augen blitzten zornig.

»Weil ich alles weiß! Sie haben zugehört, als mich die Prinzessin bei dem Waldarzt verklagte, und Sie haben es geglaubt.«

Ich senkte den Kopf.

»Ja,« sagte ich leise. »Ich glaubte nicht, daß Sie die Prinzessin verleumden könnte.«

»O, sie hat mich nicht verleumdet! Der Brief war echt. Nur hätten Sie – Sie wissen müssen, daß ein Weib in meiner Lage wehrlos ist gegen die Liebesbeteuerungen eines vornehmen Herrn, daß sie nicht klagen gehen kann beim ersten Briefe, weil sie weiß, daß sie dadurch namenloses Leid anstiftet. Sie hielten es nicht für richtig, einem solchen Weibe, einer, die ganz verlassen ist im fremden Lande, Ihre Hilfe zu gewähren, sondern erachteten es als gerecht, sie mit Verachtung zu verlassen, ohne sie nur zu hören.«

Ein Schrei des Glücks über ihre Unschuld drängte sich mir auf die Lippen, aber er erstarb vor der Größe der Schuld, deren ich mir jäh bewußt ward.

»Sie haben recht. Alles das habe ich getan. Und ich sehe ein, daß ich jetzt gehen muß. Nur eines will ich noch sagen. Ich habe Sie nicht verdächtigt. Das Wort an sich ist unrein. Ich habe nur geglaubt, daß Sie den Erbprinzen lieben. Ich fand das so natürlich, denn ich liebte ihn auch, wie ihn alle lieben. Gegen diese Liebe, meinte ich, könne ich nichts tun. Nun weiß ich, daß ich mich getäuscht habe, weiß auch, daß Sie mir nie verzeihen werden, wenn Sie auch der Prinzessin verziehen haben, da sie trotz allem noch bei ihr sind.«

»Die Prinzessin ist jung. Sie liebt den Erbprinzen so heiß, daß Sie in ihrer Qual nicht wußte, was sie mir tat.«

Ich sah sie traurig an.

»Fräulein Angelika, ich war auch jung, sehr jung! Meine Qual und Verwirrung waren auch groß, denn ich liebte auch, ich liebte Sie!«

Sie sah mich starr an und schwieg. Da wandte ich mich um und ging.

Da – ein schmerzliches, lautes Aufweinen!

Ich eilte zurück und fand sie auf die Knie gesunken an der Weide.

Sie ergriff meine Hände, drückte die Augen darauf und weinte lange.

Wir sprachen beide kein Wort.

Das Bächlein summte neben uns ein freundliches Lied. Irgendwo sang ein Vogel. Ein starker Wiesenduft schwamm in der Luft.

Es war wie daheim in einem Tal, wo Menschen wohnen.

Und alles Glück und alle Qual, die ein Menschenherz erschüttern können, waren in mir.

Sie stand auf und ließ meine Hände los. Sie schaute mich an mit dem großen Blick, der alle Worte überwindet, mit dem Blick, der die Reue kennt und die Liebe, der zugleich antwortet und fragt, zugleich nimmt und gibt, und aus dessen Nacht und Leid die Erlösung aufleuchtet.

»Weil du mich liebtest?«

»Weil ich dich liebte! Weil ich dich jetzt noch liebe mit ganzem Herzen!« ,

Ein süßer, weicher Mädchenmund preßte sich auf meine Lippen, zwei Arme schlangen sich um meinen Hals.

Das war mein glücklichster Augenblick im Märchenlande.

»Meine goldene Jungfrau!« jubelte ich. »Meine goldene Jungfrau ist wieder hier!«


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