Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Im Eichhörnchennest.

Nein, der Wirt schlief nicht. Der würdige Herr saß einige Schritt von der Tür seines Hauses entfernt, dicht in seinen hellen Winterpelz gehüllt. Meinen Begleiter empfing er mit großem Respekt, indem er sich in einer Riesenverneigung von dem obersten Ast der Eiche auf den untersten stürzte. Als er nach Beendigung dieses Kompliments wieder oben angelangt war, sagte er sehr devot:

»Ich heiße Euer Gnaden nebst Hochdero Begleiter untertänigst willkommen, muß aber gehorsamst bemerken, daß leider – oder glücklicherweise – ich weiß wirklich nicht, was ich in diesem Falle zu sagen die Ehre habe –«

»Also was?« unterbrach ihn der Leutnant. »Daß schon Besuch drin ist im Neste, wollen Sie wohl sagen?«

Herr Eichhorn wiederholte seine Verneigung, wobei er sich jedoch diesmal nur bis in die mittlere Etage hinabstürzte, und sagte dann:

»Jawohl, Exzellenz, es sind zwei Damen bei mir abgestiegen: eine Fremde und das gnädige Fräulein Elkaguntascha.«

Bei dem letzten Namen bemächtigte sich des kleinen Leutnants eine fabelhafe« Erregung. Ich sah, daß er zitterte und doch im Gesicht ganz rot war. Ich ahnte etwas.

»Fräulein Elkaguntascha hier – dort drin? – Hier? O, das ist ja – das ist ja wirklich – nämlich eine entfernte Bekannte, Verehrtester, – schon von den Eltern her – jawohl! – Haben Sie nicht zufällig einen Spiegel zur Hand, Herr Wirt?«

Er war ganz außer Rand und Band. Herr Eichhorn stürzte sich etwa fünfzig Meter in die Tiefe hinab und erschien bald mit einem Stückchen blanken Eises, in dem sich Herr von Stimpekrex eifrigst bespiegelte.

»Melden Sie uns den Damen, Herr Wirt! Fragen Sie, ob sie mir und diesem Kavalier die große Gunst erweisen würden, ein Viertelstündchen mit ihnen plaudern zu dürfen.«

Herr Eichhorn verschwand, und ich stieg indessen von der Krähe. Wartend standen wir auf dem Eichenaste. Das Nest lag wie eine ehrwürdige, poetische Hütte vor uns, von Schnee bedeckt, vom Mondlicht versilbert, liebreich umfaßt von den starken Armen des Eichbaumes.

Da erschien in der Tür ein weißes Figürchen.

»Aber mein bester, verehrtester Herr Ftimpekrepf! Wie hier? Daw ift ja grofartig!«

Eine allerliebste Dame! Nur daß sie das »S« nicht sprechen konnte. Herr von Stimpekrex seiltänzerte über den Eichenast, kniete vor der Dame nieder und küßte ihr mit Inbrunst die Hand. Ich folgte seinem Beispiel, hatte aber bei der ganzen Geschichte eine greuliche Angst, die Balance zu verlieren.

»Der Chefredakteur unserer neuen Zeitung, Professor Doktor Barragu,« stellte mich Herr von Stimpekrex vor.

Ich erlaubte mir die bescheidene Einwendung, daß ich nicht Barragu heiße und auch weder Doktor noch Professor sei; Herr von Stimpekrex aber belehrte mich, daß erstens Barragu die wörtliche Übersetzung meines Namens ins Herididasufoturanische sei, und daß ich zweitens auch der beiden Titel nicht entbehren könne, da in Herididasufoturanien keiner als kluger Mann angesehen werde, der nicht mindestens Doktor sei.

»Ich freue mich wehr, Herr Profeffor, wie kennen fu lernen,« sagte das freundliche Fräulein. »Ich war nämlich ebenfalw aufwärtw und habe eine Dame engagiert, die unferen Prinfeffinnen daw Klavierfpielen und Engliwfprechen lernen woll.«

»Und jetzt sind Sie auf dem Heimwege?« fragte der Leutnant freudestrahlend.

»Jetft reifen wir nach Haufe!« nickte sie und lud uns endlich ein, in die Stube zu kommen.

Das Gemach war nicht sehr groß, aber behaglich warm. In dem Halbdunkel erkannte ich anfangs nicht viel, allmählich aber gewöhnten sich meine Augen an die Dämmerung, und ich sah eine Dame, die auf einem lang daliegenden Tannenzapfen saß. Das war sicher die Engländerin. Ich hatte mich lange mit der englischen Sprache nicht beschäftigt, nahm aber alle meine Kraft zusammen und sagte:

»Good evening, Lady, I am very pleased to see you. I am a human being, as well as you and, like you, engaged to Herididasufoturanien.«

»Wie spricht auch deutf!« rief Fräulein Elkaguntascha mir zu.

Die Fremde reichte mir die Hand.

»Ja, mein Herr, ich bin eine Deutsche. Sie können sich denken, daß ich mich ebenfalls aufrichtig freue, Sie kennen zu lernen.«

»It is better to speak English!« sagte ich mit einem Seitenblick auf die beiden anderen und setzte mich zu der Fremden, nachdem sie mich freundlich dazu eingeladen hatte. Es waren nur zwei Sitzgelegenheiten da: zwei Tannenzapfen, die hier die Stelle von Bänken vertraten; auf dem einen saßen bereits Herr von Stimpekrex und Fräulein Elkaguntafcha, die herididasufoturanisch sprachen.

Es war merkwürdig, wie ich mich vom ersten Augenblick an zu der Fremden hingezogen fühlte. Das war wohl, weil wir beide Menschenkinder waren, die einer merkwürdigen Zukunft entgegengingen.

Wir saßen nahe der Tür. Das Mondlicht drang herein und ließ mich die Züge meiner Nachbarin deutlich erkennen. Sie war sehr schön, und ihre Kleinheit fiel mir gar nicht auf, da ich alles mit Wichtelchenaugen sah. Der Nachtwind spielte leise mit ihren schwarzen Haaren und rötete das Gesichtchen, aus dem ein paar bange, dunkle Augen schauten.

Ich erzählte ihr, was ich an diesem Abend Wundersames erlebt hatte, und sie berichtete, daß ihr ganz Ähnliches passiert sei. Ein Klavierlicht neben ihr hätte sich plötzlich in die kleine Dame (Elkaguntascha) verwandelt, die ihr ein Engagement an den Hof von Herididasufoturanien als Sprach- und Klavierlehrerin angeboten hätte.

»Und denken Sie,« setzte sie verschämt hinzu, »zwei Millionen Mark soll ich für das eine Jahr Honorar erhalten.«

Ich schwieg. Zwei Millionen – ein Lumpengeldl Ja, es ist auffallend, wie schlecht die Klavierlehrerinnen gegenüber den Chefredakteuren besoldet werden.

»Ich nahm es an,« fuhr die Fremde fort, »nur um des Geldes willen. Wir sind arm, obwohl wir vom Adel sind. Papa ist tot, Mama ist oft kränklich, und dann habe ich noch zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder, der Student ist und viel Geld kostet, obwohl er ganz fleißig und sparsam ist.«

Gerührt betrachtete ich das gute Kind.

»So opfern Sie sich für die Ihrigen,« sagte ich teilnehmend. »Denn es wird Ihnen wohl schwer geworden sein, die Heimat zu verlassen.«

Sie schlug das Gesichtchen nieder.

»Schwer! Ohne Abschied fortgegangen von der Mutter. Sie hätte mich sonst nimmermehr in eine so ungewisse, gefahrvolle Zukunft gehen lassen. Ich tat es, um ihnen allen später ein sonnigeres Leben bereiten zu können. Sie brauchen es doch alle so nötig.«

»Ich bewundere Sie, liebes Fräulein, ich bewundere Sie!«

»Sie müssen das nicht sagen, mein Herr; ich tue doch bloß meine Pflicht, und Sie haben ja ganz dasselbe gewagt.«

»Ja,« lachte ich, »aber aus ganz anderen Beweggründen. Weil ich ein leichtsinniger Mensch war, weil ich mir vor lauter Schulden keinen Rat wußte, weil ich ein Abenteuer erleben und Geld verdienen wollte für ein späteres genußreiches, ach, höchst selbstsüchtiges Leben.«

Sie sah mich freundlich an.

»Nur gute Menschen klagen sich selbst an,« sagte sie mild. »Und wenn Sie nicht, wie ich, Sehnsucht gehabt hätten dahinunter, tiefe, heiße Sehnsucht, würden Sie trotz allem nicht hingehen.«

Ich reichte ihr die Hand und war bewegt.

»Wir wollen Freunde sein, wenn es Ihnen recht ist, wir wollen als Fremdlinge dort unten in der geheimnisvollen Welt menschenbrüderlich zusammenhalten.«

Sie gab mir freudig ihre Rechte und nahm sie nicht bald wieder fort. Heimlich zog der Nachtwind um unser kleines, warmes Haus, der mächtige Eichbaum regte im Schlafen müde die gewaltigen Glieder, und draußen schien der Mond, und draußen ging die Zeit, nach der die Menschen rechnen.

Übers weiße Feld kam von fernher ein dumpfes Singen. Dort drüben in der blaudunstigen Ferne lag wohl ein schlafendes Menschendorf, ein schlafendes Menschenkirchlein, und auf dem Turm stand eine alte Frau, das vergangene, müde Jahr, die schlug mit zitternden Händen ihre letzte Stunde.

Zwölf Uhr. Neujahr!

»Auf eine glückliche Zukunft!«

«Ein glückliches, gesegnetes, neues Jahrl« sagte sie herzlich.

Meine Gedanken wanderten durch die Nacht zu den Freunden. Im »Adler« saßen sie jetzt, und einer hielt eine Rede aufs neue Jahr. Ich wußte, sie würden von mir sprechen, von meiner unerwarteten, geheimnisvollen Abreise, und die Augen aller würden auf einige Momente ernst werden und durch Lampendunst und Tabaksqualm mir mit ein paar träumenden Blicken nachirren, und alle würden mir Glück wünschen, wo immer ich auch sei.

Meine Nachbarin begann wieder zu sprechen.

«Jetzt werden meine Geschwister schlafen; aber die Mutter wird immer noch am Tische sitzen, und vor ihr wird mein Brief liegen.«

Ich tröstete sie.

»Ein Jahr vergeht rasch, wenn die Uhr dort drüben wieder Neujahr schlägt, sind wir frei und reich, und all die Ihrigen sind glücklich.«


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