Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Marilkaporta

Ich habe vergessen, wie wir angekommen sind, auch, wie es war, als wir ausstiegen, und was ich etwa mit den beiden Frauen gesprochen habe. Es war über mich gekommen wie ein Rausch von schwerem Wein, der das Herz überfüllt, und bei aller Seligkeit den Tod nahe sein läßt.

Aber ich weiß, wie wir auf dem steilen Bergweg nach der goldenen Stadt hinaufgekommen sind. Als ich die goldene Stadt zuerst sah, sah ich sie durch Tränen. Tränen machen die Augen jung; so sah ich die Stadt zuerst wie ein Kind. Aber dann sah mir die Kinderseele wieder aus meinen alten Augen. – –

Die Frauen saßen auf reichverzierten Tragstühlen, die von je vier Männern getragen wurden. Mein Begleiter und ich ritten auf weißen Füchsen. Diener gingen neben den Tieren her und führten sie am Zaume. Viel Leute kamen den Berg herab; sie waren alle in Festtagskleidern. Die Frauen trugen weiße Kleider und rote Schleier mit Silbersteinen. Die Männer hatten lange Seidenröcke an und trugen Zwergmützen von braunem Sammet, daran waren goldene Münzen. Ein Festzug kam mit flatternden Fahnen, und vorweg ging ein Schalmeienchor. Schöne Mädchen hielten uns blühende Girlanden über den Weg. Am Eingang des Waldes stand ein Greis, der ging mit uns und gab uns tausend Schritte weit das Ehrengeleit. Dann kam ein starker Mann, der ging abermals tausend Schritte weit mit uns, bis er von einem schönen Jüngling abgewechselt wurde, der uns auch tausend Schritte weit begleitete. Zum guten Ende kam ein Kind, das führte uns ans goldene Tor der Stadt.

Ich verstand das wohl: Immer jünger mußt du werden, wenn du nach der heiligen Stadt kommen willst.

Das Tor war geschlossen, und das Kind, das sich an seinen goldenen Pfosten gelehnt hatte, schaute uns an mit seinen großen, träumenden Augen. Da erschrak ich tief im Herzen und meinte, das müsse wohl meine kleine, weiße, rosengekränzte Kinderseele sein, die mich ans goldne Tor der Märchenstadt geführt hatte. Ich eilte hin und hob das Kind an meine Brust und küßte es in heißer, heiliger Liebe.

Da sprang das Tor auf. Ein alter Mann, der einen Talar trug, kam unter dem Torbogen auf mich zu und sah mir aufmerksam und forschend in die Augen. Dann wurde sein Gesicht freundlich, er erhob die rechte Hand und sagte: »Sei gegrüßt und tritt ein!«

Ich senkte die Augen und trat ein. Die Straßen, durch die wir zogen, waren schmal, krumm und winklig. Die ganze Stadt war voll geheimnisvoller Ecken und verschwiegener Gäßchen. Manchmal trat ein alter Mann gespenstisch aus einem Winkel, manchmal saß ein schönes Mädchen träumend an einem Brunnenrand.

An der Straße lagen viel vornehme, schweigende Paläste und dazwischen kleinere Häuser, die nicht vornehm waren, die desto lauter, lustiger, beweglicher schienen, je kleiner sie waren. Es gab viel hohe, bunte Giebel, viel Söller und kleine Treppchen, viel wunderliches Holzgeschnitz und seltsame Zierat, viel Dachluken und bunte Simse, auch viel altes, graues Mauerwerk mit grünem Efeu. Ich liebe das alles.

Auf dem Marktplatz war eine große Menge Volkes versammelt.

Als wir ankamen, bildete sich eine Gasse, und es entstand eine tiefe Stille. Ich fühlte, wie sich die Augen aller auf uns richteten.

Über die breite Treppe eines prächtigen Hauses kam in feierlichem Zuge der Rat der Stadt.

Ein herrlich liebes Kind mit einem Rosenkranz im Haar trat auf uns zu. Ich stieg ab und trat neben Angelika. Das Kind trug einen blauen Kelch in der Hand und sprach zu uns:

»Über unseren Häuptern habt Ihr gewohnt,
Über unserem Himmel liegt Eure Heimat.
Das Licht der Sonne lag auf Euren Haaren,
Und Eure Augen schauten in die Sterne.

Groß wie die Bäume unserer Wälder waret Ihr,
Und Eure Häuser sind wie unsre Berge.
Sturm und Stille wohnt in Euren Seelen,
Und in Euren Herzen tragt ihr Eis und Feuer.

All unsre Märchen künden Eure Größe,
All unsre Sagen schildern Eure Güter.
Und unsre Lieder singen Eure Schönheit,
Und unsere Sehnsucht strebt nach Eurem Lichte.

Da Ihr nun niederstiegt in unsre Lande,
Seid uns gegrüßt, seid uns gegrüßt in Freuden!
Seid in Frieden gegrüßt, und gebt uns Frieden!
Seid uns in Treue willkommen, und bleibt uns treu!

Heilig ist dieser Kelch, sein Trank ist heilig.
Heilig auch der, der dieses Kelches genaß.
Nimmer wird ihm bei uns ein Leid widerfahren.
Nehmt unsren heiligen Kelch und trinket daraus!«

Das Kind reichte uns den Kelch, und wir tranken daraus. Da scholl aus tausend Kehlen ein fröhlicher Heilruf. Ich wandte mich um und rief über den Platz hin:

»Bürger von Marilkaporta! Mir fehlen in diesem feierlichen Augenblick die Worte, um Euch gebührend zu danken. Das eine sage ich: wir zwei sind glückselig, daß wir bei Euch sein dürfen und das andere: wir zwei werden Euch treu sein bis zur letzten Stunde!«

Und abermals erscholl tausendstimmiger Heilruf. Darauf trat der Oberste aus dem Rat der Stadt auf uns zu. Er trug ein prächtiges Buch in der Hand und forderte uns freundlich auf, unsere Namen dahineinzuschreiben. Als er die Blätter wandte, sah ich viel bekannte Namen in diesem goldenen Buch von Marilkaporta.

Dichter und Künstler, die junge Seelen hatten, waren in dem Buch verewigt, Handwerker mit grober Schrift, Kindernamen mit steifen Buchstaben und vielen Fehlern; aber auch ernste Gelehrte und kluge Staatsmänner standen darin. Zur guten Vakanzzeit einer Träumerstunde waren auch sie einmal nach Marilkaporta gewandert.

Ich staunte über die vielen Namen, da lächelte das Oberhaupt der Stadt und sprach:

»Das ist nur ein ganz kleiner Teil von unserem goldenen Buch! wenn Sie das Ganze sähen, würden Sie meinen, es sei ein Adreßbuch der Welt. Nur die Geizigen, die keine Zeit haben, sind nicht darin, die Nüchternen, die den weg nicht wissen, und die Lieblosen, die unser Priester am Tore zurückweist.«

Mir war beklommen zu Mut, und ich fragte mit leiser Stimme:

»Verzeiht eine Frage, Magnifizenz, war auch ich schon einmal hier?«

Er sah mich freundlich an und nickte mit dem Kopfe. Dann blätterte er in dem Buche viele Seiten zurück.

Da sah ich meinen Namen, von Kinderhand geschrieben, groß, breit und ungeschickt hingemalt, so wie ich ihn an Großvaters Scheunentor geübt hatte. Ich konnte damals den U-Bogen nicht schreiben, und auch hier stand der U-Bogen verkehrt.

Und gleich neben meinem Namen stand das kleine Mariechen eingeschrieben, Müllers kleines, süßes Mariechen, das von den Schilfnixen in den Fluß gezogen wurde, als wir am Ufer spielten und ach, nicht wiederkam.

Es wurde Tag in meiner Seele, und eine lange Vergessenheit wich. Mit Müllers Mariechen war ich zuerst im Märchenlande gewesen!

Die Augen wurden mir heiß im Andenken an meinen kleinen, blonden Schatz; ich legte die Hand auf das Buch und strich leise über meinen und ihren Kindernamen. Wie eine Liebkosung war das oder auch, wie man einen heiligen, geweihten Gegenstand berührt, um sich einen Segen zu holen.

Als wir weiterzogen, war ich wie von einem Traum befangen und blickte kaum um mich. Aber dann sah ich ein seltsames Licht, das mich aufschauen ließ.

Eine Brücke spannte sich über einen breiten Strom. Eine goldene Mauer faßte sie auf der rechten Seite ein, eine graue Steinmauer auf der linken. Rechts hielt ein lachender Engel mit ausgebreiteten Armen die Brückenwacht, links stand eine schwarze Frauengestalt mit verschleiertem Kopf. Das Wasser, das in leuchtenden Wogen und sprudelnden Katarakten gegen die goldene Mauer geflossen kam, war lichtgrün und silberglänzend; die Flut, die unter der grauen Mauer herausströmte, war trüb und träge, von blumigen Höhen kam der Strom herab, zwischen kahlen, starren Ufern floß er jenseits der Brücke weiter und mündete nach wenigen Schritten in ein dunkles, düsteres Felsentor.

Ich erschrak, als ich diese Brücke sah, denn ich wußte, es war die Brücke des Lebens und des Todes.

Gerade an der Brücke kam uns ein Menschenzug entgegen. Ein strahlender Jüngling mit einem Federhut auf dem Kopf und einer goldenen Kette um den Hals ritt auf einem schönen weißen Tier Lächelnd erwiderte er unseren Gruß, lachend wandte er sein Gesicht nach dem lichtgrünen Wasser.

Ich sah dem Jüngling, der stark schien wie ein Held und fröhlich war wie ein Kind, ein paar Augenblicke nach.

»Es ist der Prinz Juvento,« sagte ein Mann, der neben mir stand, »der Erbprinz aus unserem Nachbarlande.«


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