Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Der Letzte der Sieben

Tag und Nacht hatten wir gearbeitet, am 26. konnten in der Morgenfrühe die ersten Exemplare unserer »Zeitung« ausgegeben werden.

Mit Dr. Nein hatte ich mich verfeindet, weil ich auf die Angriffe der »Posaune« mit keinem Worte eingegangen war, während er mir doch binnen wenigen Stunden drei verschiedene gepfefferte »Gegenartikel« geschrieben hatte. Er war, um mich schließlich zu gewinnen, immer sanfter geworden, aber auch der dritte Artikel war noch ein Monstrum von Grobheit.

Es ging mir nach der Herausgabe der »Zeitung« so wie einem jungen Autor, der sein erstes Büchlein in die Welt geschickt hat. Lange, bange Tage, Tage quälender Unruhe und besorgter Liebe, wie einer Mutter Sorge ist's, deren erstes Kind in die Fremde zog, und die nun von Stunde zu Stunde auf gute Nachricht harrt.

Ach, das echte Glück, der echte Stern glänzte mir nicht. Wohl wurden lausende und Abertausende der »Zeitung« gekauft, aber nur, weil es etwas Neues war. Das Interesse der großen Masse hatte ich nicht erweckt. Das merkte ich bald. Das Interesse gehörte der »Posaune«.

wir hielten eine Redaktionssitzung. Es ging recht gedrückt zu. Schnaff behauptete zwar, es sei leicht, die »Posaune« in der zweiten Nummer zu überdröhnen, er wisse eine Menge der aufregendsten Abenteuer; er fand aber keine Gefolgschaft. Für platten Ungeschmack sei er nicht, sagte Dr. Nein, nur einen kräftigen Stil wolle er, einen sehr kräftigen, wirksamen Stil. Es sei nie leichter, geistreich zu sein und sich Gehör zu schaffen, als wenn man grob werde. Das empfehle er. Stimpekrex sagte, er würde unter die Linie des guten Geschmacks nicht hinabsteigen.

So stritten sich die drei, und ich schwieg.

Den Erbprinzen Juvento traf ich einmal. Er war heiter und freundlich wie immer und sagte mir viele liebe Dinge über meine »Zeitung«, namentlich über den Anfang meines Romans. Ich konnte meine Bitterkeit nicht ganz verbergen. Da sah er mich forschend an. Dann fragte er, ob ich wohl mit ihm zu Dr. Schnugu gehen wolle. Ich sagte, ich hätte nicht Zeit. Da nahm er mit kühler Höflichkeit Abschied.

Den ganzen Tag brachte ich die herrliche, sonnige Jünglingsgestalt nicht aus dem Gedächtnis. Ich gab mir alle Mühe, jeden Verdacht gegen ihn zu unterdrücken. Aber immer wieder fiel mir ein, daß ich ihn auf dem Felde gesehen, als die landesverwiesenen Krähen mit den Briefen ausflogen, das plumpe Lob fiel mir ein, das ihm in der »Posaune« gespendet war, die überaus hämischen Angriffe auf seinen Rivalen Hamrigula.

Warum fand er auch nicht ein paar bedauernde Worte für den rohen Ton des Blattes aus seinem Heimatlande?

Ich war ein Tor. Der Prinz Juvento war schön und heiter, deshalb liebte ich ihn, Prinz Hamrigula war häßlich und hatte ein unglückliches Wesen, deswegen war er mir unsympathisch.

Unzufrieden ging ich am nächsten Tage wieder die Straßen entlang. Da traf ich Schnaff. Er machte ein sehr vergnügtes Gesicht, legte es aber bald in ernste Falten.

»Eine feine lokale Notiz!« rief er mir entgegen, »Was ganz Rares für die zweite Nummer! Aber leider aus traurigem Anlaß.«

»Nun?«

»Das Zwerglein wird sterben, das Schneewittchen- Zwerglein. Jawohl, schauen Sie nur, Herr Professor, es stirbt bestimmt. Dr. Schnugu hat's gesagt. Es hilft nichts mehr, kein Gesundheitssee, kein Wundertrank, selbst der große Pokal nicht. Seine Zeit ist um. Er stirbt, und wir bringen's in der »Zeitung«. Er ist der älteste Mann im ganzen Lande, – jawohl! So einen Uralten haben Sie drüben nicht. Und daß er jetzt gerade stirbt, das, ja das ist ja eigentlich sehr traurig.«

Und er machte die scheinheilige Miene, die Reporter immer bei traurigen Anlässen zur Schau tragen, wenn sie im stillen ihr Honorar berechnen. Ich erkundigte mich nach der Wohnung des kranken Zwergleins und ging hin.


An die hohe Stadtmauer gelehnt, stand ein kleines Haus. Es blinkte wie Silber, aber es war aus Erz. Aus Erz waren die Mauern, aus Erz Stufen und Fliesen, aus gewalztem Zink das spitze Dach.

Mit scheuer Andacht trat ich in dieses Haus. Inwendig war ein einziger großer Raum. Sieben Bettlein standen die Wände entlang, ein Tisch war gedeckt mit sieben Tellerchen, sieben Messerchen, sieben Becherchen – in einem Bettlein lag das Zwerglein, das letzte der Sieben, das übriggeblieben war.

Der Greis lag mit geschlossenen Augen. Ich blieb an der Pforte stehen. Ein Fieberstrom rieselte mir durch Leib und Seele. Ich war auf heiligen Boden getreten. Eines der holdesten Wunder meiner Kindheit war vor mir lebendig geworden.

Ein Mann erhob sich aus der Ecke. Es war Dr. Schnugu. Er kam leise auf mich zu, faßte mich an der Hand und führte mich nach einem der sieben kleinen Stühlchen. Dann setzte er sich neben mich.

Schweigend saßen wir da. Wir waren die einzigen im Raum, außer dem Kranken. Sieben kleine Uhren hingen an der Wand. Sechs waren stehen geblieben, eine tickte mit müdem Schlag.

Da schlug der Kranke die Augen auf. Einen Augenblick blieben sie umflort, dann wurden sie hell, und er erkannte uns. Die welke Hand hob sich und winkte uns.

Tief über den Greis gebeugt standen wir. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, die selige Erinnerung, die sein ganzes Leben verklärt hatte, kam ihm auch im Sterben:

»In meinem Bettchen hat sie gelegen, – gerade in meinem Bettchen – das liebe Kind!«

Und nach einer Pause, während ihm die Lippen zitterten vor Erregung und Glück:

»In meinem kleinen Bettchen!«

Er schwieg und sah uns an, ob wir's auch gehört hätten, und ob wir denn nichts dazu sagten.

»In diesem Bettchen, in dem Sie jetzt liegen?« fragte ich, nur um etwas zu sagen.

Er wurde ganz aufgeregt.

»O nein – nein! – Aber o nein! Das Bettchen, in dem das Schneewittchen geschlafen hat, das ist ja ein heiliges Bettchen, – das steht dort!«

Und die Hand hob sich wieder und zeigte nach dem einen der Bettlein, das an der Wand stand. Mit unendlicher Liebe hingen die alten Augen an dem Heiligtum, bis sich der Blick verlor und das Haupt zurücksank.

Wir blieben am Bette stehen. Wie der Atem müder und leiser ward, so ward der Schlag der Uhr müder, die unter ihren ruhenden Schwestern allein noch ging.

Ein weher Zug ging um die Lippen des Greises, und er begann wieder zu sprechen:

»Sie ist nie mehr wiedergekommen!«

Und dann stille, wir sahen eine Blässe aufsteigen in dem Gesicht und wußten: von einem millionenjährigen Leben ist nur eine Stunde noch übrig. Oder weniger als eine Stunde!

Alles geht zu Ende.

Alle Freude am Bestehenden ist Irrtum.

Es ist Irrtum, daß etwas lange währt.

Und so ist all unsere Größe ein leerer Schein, der heute ist und morgen war.

Und so ist jeder, der den Kopf stolz trägt, ein armer Tor, der schlechter rechnen kann, als ein kleiner Knabe.

Eine Stunde noch von einer Jahrmillion! Diese Stunde allein ist lang. Die Jahrmillion ist kurz, – ein Blick fliegt drüber hin wie über eine lächerlich kurze Zeit, die die Erinnerung einer Sekunde beherrscht.

Horch ... leise, behutsame Schritte nahen! Sie kommen die ehernen Stufen herauf.

Jetzt öffnet sich die Tür.

Zwei Mädchen treten ein. Die Prinzessin und Angelika.

Das Königskind geht leise an den Wänden hin. Das Menschenkind bleibt stehen.

Bleibt erschrocken stehen, wie ich, vor diesem verkörperten Wunder. Vor diesem erfüllten Glauben!

Die schwarzen Haare umrahmen die weiße Stirn. Die Wangen glühen rot in der Erregung.

Mir fällt ein wonniger Kindersatz ein:

Weiß wie Schnee!
Rot wie Blut!
Schwarz wie Ebenholz!

»Schneewittchen!«

Ein markerschütternder, wilder Freudenschrei. Der Kranke hat sich aufgerafft im Bett, die Arme streckt er aus, die Augen sind weit geöffnet.

»Schneewittchen!«

Er sinkt zurück. Röchelnd, schweratmend! Die Augen rollen und irren umher. Er will sich erheben, aber der schreck hat seine Kraft gebrochen.

»Schnee – Schneewittchen!«

Der Doktor geht zu dem Mädchen. Er sagt ihr leise Worte ins Ohr. Ihr kluges Herz versteht schnell, versteht heiligen Dienst.

Ans Bett tritt sie langsam und lächelnd. »Ich komme zu dir, du Lieber, Lieber!«

Regungslos schaut er sie an und lächelt auch. Lächelt wie in Verklärung.

»Du bist gekommen!« sagte er selig.

Sie streichelt ihm die Hände und die Stirn.

Und dann wieder schauen sie sich nur an.

»Bist du wieder da?«

Er ergreift ihre Hand und drückt sie an seinen welken Mund.

»Komm ganz nahe – ganz nahe, liebes Schneewittchen!«

Sie beugt den schönen Kopf tief zu ihm hinunter. Einen Augenblick schlingt er die Arme um ihren Hals, dann fallen ihm die Augen zu.

Nur ganz leise atmet er noch. Wir alle stehen gebannt von heiliger Scheu.

Da kommt ihm die Kraft zurück. Er öffnet die Augen, und sein Antlitz wird besorgt.

»Du bist weit hergekommen, Schneewittchen! Du bist hungrig! – Hungrig wie damals, – du mußt essen. Von meinem Tellerchen! Und aus meinem Becherlein trinken! Aus meinem! Die andern sechs sind tot. Alle, alle gestorben!«

Sie nickt und geht. In einem kleinen Schränkchen findet sie Speise und Trank. Er sieht ihr mit seligen Augen zu, wie sie Wirtschaft treibt in seinem Heim, Er sagt ihr, wo sein Tellerlein steht, er sieht zu, wie sie Brot ißt und schweigend aus seinem Becherlein trinkt.

Und wie sie fertig ist, geht sie wieder zu ihm.

»Geh jetzt schlafen, Schneewittchen, sagte er leise »geh in mein Bettchen schlafen!«

Gehorsam zieht sie die Decke ab von dem kleinen schneeweißen Bett und legt sich hinein.

Er hat sich mühsam auf einen Arm gestützt und sieht sie liegen. Sieht ihren zarten, feinen Kopf, die dunkeln Locken auf dem weißen Bett, sieht das süße Bild wieder verkörpert, das sein Leben lang der Glanz seinerTräume, der Stern seiner Sehnsucht war.

Sieht! Sieht!

Und ein Jauchzen dringt aus seiner Brust.

Und er sinkt zurück und ist tot.


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