Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Die Fahrt ins Märchenland.

O, Ihr alle seid schon einmal ins Land der Märchen gefahren. Mutterwort, Grotzmutterraunen hat Eure junge Seele hinübergetragen, sowie der Frühlingswind ein rotes Wölkchen in den leuchtenden Himmel trägt; – oder Euer Seelchen ist auf dem weißen Papierschifflein gefahren, das den blumigen Bach hinabglitt, hinuntergefahren zum heimlichen Schilfteich im Walde, wo die Nixen schwimmen; – oder Ihr seid mit zögerndem Kinderfuß die knarrende Holzstiege hinaufgegangen auf den Boden des Hauses, wo in der staubigen Rumpelkammer die Geister tanzen, wenn der Mond durch die Dachluke scheint; – oder die Furcht hat Euch mitgenommen zu Riesen und bösen Waldweibern, wenn der Wintersturm an das kleine Fenster stieß, hinter dem Ihr schlafen solltet. – Seid Ihr nicht alle einmal gekleidet gewesen, wie die Prinzen; waret Ihr nicht alle einmal stark und mutig wie die Drachentöter; habt Ihr nicht alle einmal eine junge Königstochter oder einen stolzen Königssohn geheiratet! Und wenn Ihr einmal den Weg nicht recht wußtet, dann lag im Winkel ein buntes, zerrissenes Märchenbuch, in dem brauchtet Ihr nur zu blättern, und der Weg war Euch klar wie einem erfahrenen Reisenden, der Fahrplan und Reisebuch studiert hat.

So seid Ihr ins Land der Märchen gefahren. Mich altes, sehr altes Kind trägt kein Großmutterwort und kein Papierschifflein mehr, ich mußte mich in einen – Extrazug setzen, um ins Land der Wunder zurückzugelangen.

Eine Beobachtung erschreckte mich. Als ich um mich schaute, sah ich, daß mein Gepäck da war! – Ich hatte nichts mitgenommen, rein gar nichts, als ich mich zu der großen Reise aus dem Fenster schwang. Aber jetzt war es da, war mir durch einen Zauber nachgekommen. Ein grauer, lederner Koffer, eine schwarze Schachtel, ein kleines, rotes Paketchen.

O, ich brauchte keines der drei Stücke zu öffnen; ich wußte genau, was darin war: in dem Koffer meine Erkenntnisse, in der schwarzen Schachtel meine Leiden, in dem roten, kleinen Paketchen mein Glück von droben.

Die fuhren mit mir im Extrazug.


Während der ganzen Fahrt hatte Herr von Stimpekrex nicht erlaubt, daß ich aus dem Fenster schaue. Es sei lächerlich, meinte er, während der Nacht zum Fenster hinauszusehen. So lag ich lang auf ein bequemes Polster ausgestreckt und dachte darüber nach, wie komisch das doch in Herididasufoturanien sei, nicht ins helle Land hinaussehen zu dürfen, nur weil sich ein anderer einbildete, es sei Nacht. Aber ich dachte auch daran, daß mir droben im Menschenlande so manch einer vorgeredet hatte, weiß sei schwarz. Ich war oft gesund, wenn mir die anderen einredeten, ich sei krank; ich habe manch eine Sache gescheit angefangen, bis mir ein anderer sagte, ich sei auf dem falschen Wege, und ich habe oft zu lachen aufgehört, nur weil ein anderer behauptete, es sei eine schwere Zeit.

Auf den zwei großen Saiten, die übers weite Land gespannt sind, spielt der Eisenbahnzug sein einförmiges Schlummerlied; es ist ein hartes, eiliges Lied und läßt zu keinem ruhigen Traume kommen. Kein Traumlied, selten auch nur einen Wandergesang spielt der Zug auf seinen zwei Saiten; eine traurige Melodie spielt er den Flüchtigen, ein wildes, erregendes Lied singt er dem rastlosen Jäger nach dem Glück.

Kein Traumlied – aber ich war müde, schlief ein und schlief lange. Als mich mein Begleiter weckte, sagte er, der Tag sei nun angebrochen, und wir seien nahe am Ziel. Er habe inzwischen unsere Ankunft in der Hauptstadt des Landes angemeldet.

Ein blutrotes Licht füllte unseren Wagen.

»Was ist das für ein Licht?« fragte ich bestürzt.

Mein Begleiter wies lächelnd nach dem Fenster, Ich schaute hinaus, schloß aber heftig erschrocken die Augen und preßte beide Hände vors Gesicht.

Erst allmählich fand ich den Mut, das Wunder anzuschauen.

Auf einem blauen Felsenberge lag die goldene Stadt. Purpurglanz war über sie ausgegossen. Aus einem Vulkan jenseits des Berges loderten rote Feuergarben, der Himmel brannte, leuchtete in flüssigem Feuergold und ließ tausend glitzernde Funken in die Luft niederfallen, die leise erlöschten, wie fallende Sterne und wirbelnde, rote Blüten.

Ich sah die silbernen Mauern und goldenen Tore der Stadt, jener Stadt, von der die Dichter in ihren reinsten, keuschesten Stunden ihre Lieder singen, ich sah die Kristallkuppeln über den Tempeln und Palästen, nach denen die Sehnsucht der besten Menschen seit Jahrtausenden wandert. Die Gärten blühten, und über ihren Kronen und dunklen Rosen zogen einsame große Vögel ihre stillen Kreise in der leuchtenden Luft. O, du Herrlichkeit der diamantenblinkenden Fenster, du süße Heimlichkeit der kleinen Türme und seltsamen Erker! Sieh, wie die schweren Wunderblumen sich von den Galerien ranken, und hör' das Lied, ... jenes Lied! Süße Märchenstimmen singen und silberne Trompeten schallen darein.

Ich sah das, ich hörte das, und ich fiel auf die Knie und streckte die Hände aus:

»Du goldene Stadt, du Kinderheimat, du heiliges, ewiges Jerusalem meines Märchenglaubens sei mir gegrüßt!«

Tränen traten mir in die Augen, der rote Himmel schien darin, und durch diese verklärten Tränen schaute ich in mein gelobtes Land.

Das bange, selige Herz hörte auf die Musik, die vom Berge tönte, und ich wußte auf einmal, es war ein Heimatlied, ein lange vergessenes, ein Lied, das ich hörte, noch ehe ich reden konnte, das Lied, das das Lächeln auf mein Gesicht zauberte, über das die Mutter an meiner Wiege staunte, das Lied, von dem ich mit meinen feinsten Sinnen einen einzelnen, weltfernen Ton, einen seltsamen Akkord aus großer, großer Weite manchmal vernahm, wenn ich als einsamer Mann auf der Welt dort oben träumte.

Oh, – ich war schon einmal hier, durch diese goldenen Tore bin ich schon einmal gegangen, in jenen Palästen habe ich schon einmal gewohnt.

Ich weiß nicht mehr, wann das war, ich weiß nur, daß ich bitterlich weinen mußte, weinen, daß ich so lange fortsein, mich so weit verirren konnte, weinen mußte, weil mir das Herz sonst gestorben wäre vor Glück.

Ich wandte mich nach meinem Begleiter um und hob die Hände zu ihm auf:

»Ich flehe Euch alle an, die Ihr hier in dieser goldenen Stadt wohnt, laßt mich keine Zeitung schreiben, laßt mich als der letzte, ärmste Eurer Kinder mit bunten Kieseln spielen auf Euren Straßen.«

Er sah mich traurig an und schüttelte den Kopf. Dann wies er auf mein Gepäck und sagte: »Du bist zu alt!«

Da sank ich mit dem Gesicht auf meinen grauen, ledernen Koffer und rührte mich nicht mehr.


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