Paul Keller
Das letzte Märchen
Paul Keller

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Im Erdlicht.

Erdlicht! Ihr Menschen würdet nichts sehen als Dunkelheit, eine schwarze, schwüle Nacht, durch die ferne, unheimliche Feuer aufbrennen, durch die graugelbe Dampfschwaden ziehen und bläuliche Strahlungen phosphoreszieren.

Wichtelchenaugen sind glücklicher.

Ich sah, daß es Tag war, nicht ganz so heller Tag wie auf der Erde; etwa wie das Licht eines bewölkten Sommermittags so war's.

Ich war nicht in einer Höhle, ich war in einem weiten, unübersehbaren Lande. Dort, wo sich der Blick verlor, baute sich ein blaues Gebirge auf, davor lag ein schimmernder See, aus dem strahlten tausend farbige Springbrunnen zur Höhe. Und um den See waren blaue, weiße, gelbe, rote Hügel, darüber rannen bunte Bäche. Durch langgestreckte Landzungen und kleine Inseln war der See in viele Becken geteilt.

»Der See der Gesundheit,« sagte mein Begleiter. Ich fragte ihn nicht nach seiner Bedeutung, ich sah zuviel Neues.

Da war ein Gebirge, das leuchtete wie die Schneefirnen, wenn sie im Abendglühen liegen, da war ein anderes, das schimmerte wie grünes Glas. Ein breiter Strom ging durchs Land, daran lagen viel tausend Zelte und Häuser, und über alles spannte sich eine riesige braune Himmelskugel.

Ich starrte hinauf und wußte nicht, was das sei.

»Ist denn das Erde?« fragte ich Herrn von Stimpekrex und wies hinauf.

»Gewiß,« sagte er stolz, »wir haben einen massiven Himmel.«

»Und Sonne, Mond und Sterne?«

»Haben wir nicht! Brauchen wir auch nicht! Wir haben ein Landesgesetz, das bestimmt ganz genau, welche Zeit als Tag und welche als Nacht anzusehen ist.«

»Aber es ist immer gleich hell?«

»Immer! Ist aber egal, Nacht und Tag müssen wir doch haben.«

»Wo kommt aber das Licht her?«

»Das sollten Sie sich eigentlich denken können! Den ganzen Tag trinkt die Erde Himmelslicht, sie trinkt es mit Millionen Poren, sie trinkt es durch jeden hohlen Blumenhalm, sie saugt es auf mit ihren blauen Augen, mit Meer und See; selbst in der Nacht, wenn Mond und Sterne scheinen, trinkt sie Licht, wie ein gesundes, vielhungriges Kindlein trinkt im Traum. Wo kommt all das Licht hin, das die Erde trinkt? Es ist hier unten bei uns.«

»O, das ist gut,« sagte ich; »das ist gut!«

»Ja,« fuhr mein Begleiter fort, »und was nun die Jahreszeiten anbelangt, so sind wir eigentlich in Verlegenheit. Es ist bei uns nämlich immer gleich warm. Da haben wir denn auch wieder ein Landesgesetz, das bestimmt, wenn Sommer und wenn Winter ist. Im allgemeinen richten wir uns nach dem benachbarten und befreundeten Deutschland. Jetzt haben wir auch Winter, das heißt also gesetzlichen Winter. Die Eisenbahnverwaltung läßt jetzt die Waggons heizen, und wenn jetzt jemand barfuß ginge oder Vanille-Eis äße, dann würde er sich strafbar machen. Sie werden das alles sehr praktisch und verständig finden.«

»Nein,« sagte ich, »ich kann nicht begreifen, wozu alle diese Maßnahmen sind, wenn es doch immer gleich warm ist.«

Der kleine Herr sah mich ärgerlich an.

»Was wollen Sie? Wir müssen doch Abwechselung haben; wir sind weder Wüsten- noch Nordpolbewohner; wir müssen absolut Abwechselung haben, schon der Geschäfte wegen, die eine Sommer- und Wintersaison brauchen. Ich rate Ihnen, Herr Doktor Barragu, stellen Sie sich nicht auf die Seite der Opposition. Das würde Ihnen furchtbar schaden!«

»Was heißt das?« fragte ich bestürzt.

»Verstehen Sie etwas von Politik?« fragte er zurück.

»Nein,« antwortete ich, »Dichter verstehen nie etwas von Politik.«

Der Gesandte atmete tief auf.

»Eigentlich müßten Sie ja als Chefredakteur der Zeitung wohl was von Politik verstehen; aber es ist immer noch besser, Sie machen die Zeitung ohne Verständnis als mit falschem Verständnis.«


»Wir woll'n unsern Lohn!«

»Wir haben gearbeit'!«

»Wir woll'n nu mal heim!«

»Mögen sie doch and're warten lassen!«

Das waren die Krähen, die immer noch bei uns waren. Herr van Stimpekrex hatte einen herididasufoturanischen Fluch auf den Lippen, unterdrückte ihn aber in Rücksicht auf die Damen und sagte nur:

»Bitte, kommen Sie mit nach dem Stationsgebäude, damit wir das scheußliche Pack los werden.«

In dem Stationsgebäude fiel mir nichts Besonderes auf; es war ganz nach preußischem Muster eingerichtet: einfach, praktisch und ungemütlich. Die Lampen brannten, und die Kellnerin schlief. Das war, weil gesetzliche Nacht war.

Herr von Stimpekrex bestellte bei dem schlaftrunkenen Mädchen vier Tassen Kaffee und verlangte außerdem Schreibzeug, sowie, daß der Stationsvorsteher erscheine. Hierauf schrieb er den Krähen vier Anweisungen über je 200 Gramm Regenwurmfleisch. Das war die Taxe. Eine Extragratifikation bekamen die Krähen nicht, und das wird in unserem Falle wohl auch der trinkgelderfreudigste Mensch begreiflich finden.

Die freche Gesellschaft erhob nach Empfang der Anweisungen einen furchtbaren Lärm vor dem Stationsgebäude, und besonders das schwarze Tier, auf dem ich geritten war, machte riesigen Skandal über unsere angebliche »schmähliche Knickrigkeit« und meinte, das weitere wird sich finden.

Wenn jemand wütend ist und gern drohen will, aber absolut nicht weiß, womit er drohen soll, dann sagt er immer: »Das weitere wird sich finden!« Es »findet sich« gewöhnlich dann rein gar nichts. Also nahm ich auch diese Krähendrohung sehr leicht, diesmal aber sehr zu meinem Schaden, wie sich im Verlauf dieser ernsthaften Geschichte zeigen wird.

Inzwischen erschien der Stationschef. Er kam mir sehr sonderbar vor, schwankte immer hin und her und hatte die Kokarde seiner roten Mütze nach hinten gerichtet. Auch redete er soviel vergnüglichen Unsinn, daß ich mich eines ganz bestimmten Verdachts nicht erwehren konnte.

Herr von Stimpekrex schrie das vergnügte Männlein gewaltig an, stellte sich als Gesandten des Königs vor, und bestellte einen Extrazug.

»Jhähä, – jawohl ja, – Extrazug, – Extragesandter – wupp – wupp – Wuppgesandter!«

Stimpekrex erbleichte, und vor meinen Augen tanzte in der Luft eine lustige Nummer l7.

»Mann,« zischelte der Leutnant den Beamten an, »was soll ich mir von Ihnen denken? was soll dieser Herr denken?« Hier flog die Tür auf und die Frau des Stationschefs trat hastig ein. Sie war sehr erregt und fing gleich an zu bitten und zu jammern, Exzellenz solle nur das sonderbare Benehmen ihres Mannes entschuldigen und beileibe keine Meldung machen; der gute Mann habe furchtbar die Influenza und phantasiere schon seit Mitternacht.

»Dann soll er zu Bett gehen, und der Assistent soll kommen,« sagte Stimpekrex barsch.

Die Frau fing an zu zittern.

»Exzellenz, – der – – der Assistent – hat – hat auch die Influenza.«

Ich machte auf dem Absatz rechtsum kehrt, und Exzellenz sank auf einen Stuhl.

»Hat auch die Influenza!« wiederholte er tonlos.

»Ja, – jawoll ja, – hat auch – hat auch die Influenza,« sagte der Stationschef gemütlich.

Die Frau fing an zu weinen, Herr von Stimpekrex erhob sich.

»Das ist stark, – das ist infam, – sowas in unserem Lande, – das muß ich selbstverständlich – – was sagen Sie zu der Sache, Herr Doktor?«

Ich brachte meine Gesichtsmuskeln in Ordnung, drehte mich um, zuckte die Achseln und sagte:

»Ich finde es gar nicht so sonderbar, daß beide Beamte erkrankt sind. Es ist eben gesetzlicher Winter!«

Herr von Stimpekrex sah mich mißtrauisch an.

»Frau,« sagte er, »besorgen sie einen Zug, wir wollen machen, daß wir hier fortkommen.«

In verhältnismäßig ganz kurzer Zeit fuhr ein sehr komfortabler Extrazug vor. Die Damen bestiegen den ersten, wir den zweiten Wagen, die Frau Vorsteher flötete »Abfahren«, und der Zug setzte sich in Bewegung, während oben im ersten Stock des Gebäudes der erkrankte Stationschef die Hand schelmisch salutierend an die Nachtmütze legte und mit begeisterter Stimme schrie:

»Extrazug! Extragesandter! Extrasilvester!«


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