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XVIII.

Drei Uhr.

Jetzt kommt sie quer durch die Wiese, weiß in weiß gekleidet wie immer, und steigt den Hügel zum Monopteros hinauf. Sie atmet auf, blickt die Wege entlang, geht zwei-, dreimal im Kreise umher, schreibt mit dem Sonnenschirm auf die Fliesen, sieht auf die Uhr und geht wieder hinab. Ganz langsam. An der Wegkreuzung wartet sie noch ein Weilchen, dann geht sie wieder quer durch die Wiese, weiß in weiß, den Körper leicht vornüber gebeugt.

Ginstermann ist nicht hingegangen.

Noch in letzter Minute besann er sich eines anderen.

Er hatte dieses Wiedersehen, an das nicht mehr zu denken gewesen war, während der Nacht in der Vorstellung vorausgelebt, mit allen Worten und Mienen, dem Parke in der Sonne, den schießenden Schwalben im Äther. Er hatte verzückten Auges in ihr strahlendes Antlitz geblickt, er hatte ihre geschmeidige Hand in der seinigen gehalten, ihr Guten Tag und Adieu gesagt – er hatte in die dunkle Nacht einen Teppich von Sonne und Wonne gewoben: und er war nicht hingegangen.

Das war nicht leicht, es war durchaus nicht leicht.

Er wollte sie nicht wiedersehen, das war es.

Nun saß er in seinem Sessel und lauschte auf das Schlagen der Uhren und sprach: Jetzt kommt sie quer durch die Wiese, weiß in weiß gekleidet wie immer, und steigt den Hügel zum Monopteros hinauf –

Adieu Bianka!

Das war nicht leicht, das war durchaus nicht leicht. Er hatte sie ja doch immerhin ein bißchen lieb, wie?

Sein Entschluß lastete auf ihm wie ein Ungeheuer. Alles wirbelte in ihm herum, seine Gedanken verwirrten sich, eisige Angst kroch an sein Herz.

Noch war es möglich, ihr zu begegnen ...

Aber nein, er wollte nicht. Diesem letzten tapferen Gedanken wollte er Treue bewahren.

In großen, aufgeregten Schritten ging er in seinem Zimmer hin und her, während die zwei Gegner in seinem Kopfe sich stritten. Heute wollte er sich den Beweis liefern, daß er noch einen freien Willen besaß.

Um seine Gedanken abzulenken, ging er bedächtig wie ein Galeriebesucher an den Wänden entlang, seine Blicke auf die vergilbten Blätter bohrend. Da war Knopfh, ein Frauenbildnis. Aufs Papier gehaucht, ein Schleier, der jeden Augenblick zerfließen konnte. Von solchen Frauen wissen die Dichter. Bist du eine Schwester von ihr? Ein Frans Hals: Die Hille Bobbe. Eine ehrwürdige Matrone, haha. Böcklin. Böcklin! Balestrieri: Beethoven. Beethoven. Wer schluchzt hier? Weshalb sind wir von Erde, o, weshalb? – Und hier stand ein Satz. Kurios. Ein Satz mit Blaustift an die Wand geschrieben. Wer ist »sie«? Kennt ihr »sie«? Und dort dieser Tintenfleck. Wer hatte das Tintenfaß geschleudert? Und weshalb? Einer, den die Launen eines Weibes zum Jähzorn reizten, einer, den seine Ohnmacht zur Raserei brachte, der seine Steine suchte und sie in Staub zerfallen fand? Hier hatte jemand an die Wand gekritzelt: 22. März, und einen Lorbeerkranz herum.

Wie viele hatten hier gelebt, gelitten, gelacht? Könnte man nicht ein dickes Buch schreiben: Historie eines chambre garnie?

Und zuletzt einer, dessen Gehirn in Flammen gestanden, einer der irre Worte flüsterte und endlich sagte: Adieu. Einer namens Ginstermann.

Da war ein Mädchen, das kannte einen jungen Mann, der Komponist war. Und man prophezeite ihm eine große Zukunft.

Und dieses Mädchen ...

Perlen steigen. Elfenbeinperlen, glitzernde Perlen. Eine Fontäne. Sie neigt sich, beugt sich, wie der tanzende Leib eines schlanken Weibes, das mit beiden Händen funkelnde Perlen auf den Rasen streut. Sie beugt sich und küßt den Boden. Sie sinkt zusammen, murmelt, sie wächst, rauscht, jubelt. Singende Vögel mit silbernen Flügeln steigen aus ihr und verschwinden im Äther. Zarte, schmale Hände mit Ringen an den Fingern gleiten über die Tasten des Flügels, Kinderhände. Und das Klavier wogt, die Decke wogt, der Boden wogt.

Und der dunkle Lockenkopf des Spielenden schwebt regungslos über den elfenbeinernen Tasten.

Hinter ihm sitzt ein Weib. Ein schlankes, junges Weib. Das schmale Haupt geneigt; regungslos. Als sei es tot. Und die funkelnden Perlen regnen über sie. Wie glühende Tropfen fallen sie ihm ins Herz, wie Lippen, kühle Lippen berühren sie seinen Körper. Und der glitzernde Leib der Fontäne schlingt seine Arme um das Weib und preßt es an sich und küßt es. Küßt es. Auf den Mund. Und umhüllt es. Ein Name klingt, ein Name klingt. Und es spricht und singt. Das sind die silbernen Vögel. Sie fliegen ihm ins Herz.

Die zarten, schmalen Hände mit Ringen an den Fingern ruhen auf den Elfenbeintasten.

Und das dunkle Lockenhaupt des Spielenden schüttelt sich. Wendet sich.

Der Spielende steht auf und lächelt.

Das junge Weib aber hat Tränen in den Augen.

Wissen Sie, wie das hieß?

Weshalb fragen Sie mich das?

Und das dunkle Lockenhaupt beugt sich herab. Beugt sich herab. Und zwei Lippen berühren eine Stirne. Zwei Lippen berühren einen Mund. Sie sind heiß.

Das junge Weib regt sich nicht.

Das junge Weib regt sich nicht.

Es liebt ihn.

Ah, wir dürfen keine Kinder sein, sagt der Mann und lächelt. Er lacht. Seine Augen sind schwarz und blitzen.

Es war ja nur eine Improvisation.

Und wieder gleiten die schmalen zarten Hände mit Ringen an den Fingern über die Elfenbeintasten.

Und wieder lauscht das junge Weib.

Die silbernen Vögel singen seinen Namen.

Und wieder ....

Und wieder ....

Die schwarzen blitzenden Augen werden matt und trüb, die schmalen zarten Hände zittern.

Und er geht zugrunde .... er geht zugrunde.

Und das Mädchen sieht einen Mann, der dem Komponisten ähnlich sieht. Besonders wenn er den Kopf neigt. Und das Mädchen tastet mit seinen Blicken über sein Gesicht und sucht. Und wenn er den Kopf neigt .... Werter Freund ....

Aber drinnen in dem Herzen des jungen Mädchens, da singen die silbernen Vögel so süße Lieder. Immerzu. Sie sterben nimmer .... Martyrium! Martyrium!

Aber dieser andere, der dem Komponisten ähnlich sieht, dieser andere ....

Nun wollte er Bianka schreiben.

»Verehrte Freundin!« begann er.

Er lächelte und wiederholte: Verehrte Freundin.

Er entschuldigte sich wegen seines Ausbleibens. Er sei ihr diese Handlungsweise schuldig, glaube er. Sie müsse wissen, wer er sei, dann könne sie ja entscheiden, ob sie ihn wiedersehen wolle oder nicht.

Das sah aus wie eine Beichte, ohne eine solche zu sein. Er schrieb so sachlich als möglich. Schrieb und schrieb, enthüllte ihr seine Vergangenheit, ohne ihr etwas zu verbergen, ohne etwas dazuzutun, ohne zu beschönigen, ohne zu verschlimmern.

Als sei er ein gewissenhafter Biograph, der die Liebes- und Leidensgeschichte eines Landfremden darzustellen habe.

Er bereute nichts, was war, das war. Ach, es war das Schicksal eines jungen Mannes von heute, von ehedem und morgen, was war es sonst. Freilich wäre es für ihn, der sich Aristokrat fühlte, nicht nötig gewesen, den Entwickelungsgang des Pöbels zu absolvieren.

O, er hätte ihr gerne gebeichtet. Ungefähr seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und ihr erzählt, wie das kam und jenes kam, was er erduldete an Leib und Seele, wie er sich freute, sie kennen zu lernen, wie er sie liebte. All das. Aber das ging ja nicht.

Er wollte ihr Urteil durch nichts beeinflussen. Aus diesen dürren Tatsachen heraus sollte sie abwägen, ob er ihr Freund sein könne oder nicht.

Was sollte ihm eine geschenkte Freundschaft, eine erschlichene Freundschaft?

Wahrheit sei unser erstes Gebot, Wahrheit unser zweites und drittes, unser letztes Gebot.

Zum Schlusse dankte er ihr nochmals, in feierlichen, ernsten Worten.

Dabei ereignete es sich, daß er bewegter wurde, als er war. Die Versuchung flüsterte ihm zu, irgend ein Wort, ein kleines, kleines Wort einzustreuen, das ihr ein Schlüssel zu seinem Empfinden hätte sein können, ein Verräterchen, wie unbemerkt der Feder entschlüpft.

Er lächelte der Versuchung. –

Es war spät, als er den Brief zum Kasten trug.

Schwüle Abenddämmerung brütete über den Häusern, über welchen der tiefblaue Himmel zurückwich. Die Luft war schal, verbraucht von den Lungen der Stadt, erfüllt von Staub, der sich langsam senkte. In der Ferne brodelte der Kessel des Verkehrs, die Melancholie der sinkenden Nacht mit wirrem Murmeln und Stöhnen begleitend. Die Laternen blitzten. Sie erschienen wie die stechenden, frechen Augen von Dirnen, die an den Straßenecken warteten. Irgendwo heulte ein Hund.

Ginstermann ging mit den raschen, elastischen Schritten eines, der sich selbst bezwang.

Er schob den Brief in den Kasten. Ohne Laut fiel er auf.

Nun ruhten seine lohenden Wünsche, seine irren Träume, seine fiebernde Sehnsucht hinter diesen metallnen Zähnen. –

In dieser Nacht schloß er kein Auge.

Die Sterne gingen über den hellen Himmel, schlüpften hinter den dunklen Kamin, kamen wieder hervor und glitten vorbei. Neue kamen. Endlich flimmerten sie schemenhaft hinter grauen Schleiern. Himmel und Erde schliefen. Dann hauchte ein süßlich-grauer pastellner Ton über die Dächer, Scheiben blinkten, ein müdes, verschlafenes Gesicht tauchte an den Fenstern auf: der Tag.

Es schlug sechs, sieben, acht.

»Nun ist er dort,« sagt er, und die Augen fielen ihm zu.


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