Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Das waren schlimme Tage.

Und mehr noch schlimme Nächte.

Des Tags wurde Ginstermann von einer unsinnigen Sehnsucht, Fräulein Schuhmacher zu treffen, in den Straßen herumgetrieben, des Nachts marterte er sein Gehirn mit Plänen, wie dies herbeizuführen sei.

Jeden Morgen harrte er voller Ungeduld auf den Schritt des Postboten auf der Treppe. Meistens ging er an seiner Türe vorbei, pochte er aber, so eilte er, schwindlig vor Erregung, um zu öffnen. Allein es war stets eine nichtssagende Mitteilung von seinem Verleger, seinem Agenten, eine Offerte, ein Mahnbrief, ein Zeitungsausschnitt.

Sobald es recht Tag war, verließ er das Haus, um auf die Suche zu gehen. Er spähte in alle frequentierten Geschäfte, er ließ keine Droschke vorbei, ohne sich die Insassen anzusehen. Er bestieg eine Straßenbahn und fuhr kreuz und quer in der Stadt herum, eifrig die Trottoire absuchend.

Manchmal, in der Meinung, sie entdeckt zu haben, verfolgte er eine Dame, die in Gestalt und Gang etwas Ähnliches mit ihr hatte. Nach kurzer Zeit bemerkte er jedoch immer, daß ihn irgend eine Nebensächlichkeit genarrt hatte. Bald war es die Fasson des Hutes, die Farbe des Gürtels, die Art den Schirm zu tragen, das Kleid aufzuraffen, bald war es die Form der Hand, des Ohres, des Kinnes. Dann stand er still, keuchend vom Lauf, zornig und betrübt darüber, daß er so gar kein Glück hatte, um bald darauf in die nächste Straße zu verschwinden, von einer Ahnung, sie hier zu treffen, angetrieben.

Stundenlang belagerte er in möglichst unauffälliger Weise die Villa in der Leopoldstraße. Er studierte die Plakatsäule, bis er alle Annoncen auswendig wußte, das eine Auge stets auf das dunkle Portal und auf das Eckzimmer im ersten Stock gerichtet. Darin hatte er es bis zu einer gewissen Genialität gebracht. Er kannte bereits den Bäcker, der das Brot brachte, den Fleischer, der das Fleisch brachte, das Dienstmädchen, die Köchin und einen alten Mann, der täglich Punkt 1 Uhr eintrat, um das Haus nach einer knappen halben Stunde wieder zu verlassen.

Er begriff nicht, was mit ihr sein könne. Daß sie vollständig genesen war, schloß er daraus, daß jeden Abend bis zwölf, ja bis ein Uhr Licht in ihrem Zimmer brannte.

Verreist konnte sie also auch nicht gut sein, oder kam ihr Geist jeden Abend und zündete sich die Lampe an, Romane zu lesen, wie?

Zudem sah er dann und wann auch ihren Schatten auftauchen und verschwinden. Einmal sah er sogar ihre Hand, das war ein Ereignis.

Wenn man gegenüber auf die Staffel trat und sich auf die Fußspitzen stellte, so konnte man den Lüster aus Orchideenblüten wahrnehmen, deren Kelche das Licht ausströmten. Und weit hinten etwas Blinkendes, wie der Arm einer Statuette.

Als Knabe hatte er sich einmal mit der Erfindung eines Spiegels beschäftigt, mit Hülfe dessen man um die Ecke sehen könnte. An diesen Spiegel mußte er immer denken. Er hätte ihn auch benützt, ein einziges Mal wenigstens. Auch mit dem Telemikrophon ohne Draht wäre etwas zu machen gewesen.

Seinen Ahnungen schenkte er schon lange keinen Glauben mehr. Nichtsdestoweniger war er doch enttäuscht, sie nicht auftauchen zu sehen, wenn ihm seine Gedanken eingeflüstert hatten, du wirst sie am Siegestor treffen. Oftmals dacht er: Zähle bis tausend, und sie tritt aus der Türe. Er zählte, bei neunhundert erfaßte es ihn wie ein Schwindel, bei tausend öffnete sich auch die Türe, aber es war nur eine Täuschung seiner erregten Sinne.

Spät in der Nacht kehrte er stets erst zurück, todmüde vom Wandern, Warten und Zermartern, mit einer Sehnsucht, die wie Wogen gegen die Wände seiner Brust schlug.

Er warf sich aufs Bett, aber der Schlaf schien ihn vergessen zu haben. Es war, als ob sein Gehirn all die nichtigen Eindrücke des Tages aufgespeichert habe. Wie in einem Kaleidoskop zuckten Bilder vor ihm auf, um wie auf ein unmerkliches Rütteln zu versinken und andere entstehen zu lassen. Leute grüßten, Posten präsentierten, Menschen liefen zusammen, ein Zug elektrischer Wagen staute sich. Hier entkam eine Frau mit knapper Not einer sausenden Kutsche, dort fuhren zwei junge Mädchen auf blitzenden Bicycles hintereinander, Gesichter gingen an ihm vorüber, bald unnatürlich groß und nah, als wollten sie durch ihn hindurchgehen, bald klein, scharf, wie durch ein Verkleinerungsglas gesehen. Der ganze wirre Lärm der Straße war in ihm, Pfeifen, Schreien, Worte, Gelächter kam zu seinen Ohren wieder heraus. Hier sagte jemand: Ei der Tausend – ah, recht sehr! Hier fiel ein Stock klappernd aufs Pflaster.

Nachdem diese infolge des plötzlichen Abgeschlossenseins von der Außenwelt hervorgerufene Reaktion seiner Sinne nachgelassen, trat sie in seine Gedanken. In Hunderten von Situationen. Sie ging an der Seite des schmalbrüstigen Herrn über die Straße, sie saß in einem Wagen und verneigte sich grüßend, sie stand am Fenster und warf Apfelsinenschalen in den Vorgarten, sie betrat die Loge im Theater, sie saß bei der Lampe über eine Mappe gebeugt.

Endlich war er soweit, seinen Gedanken eine bestimmte Richtung geben zu können. Er dachte an den kommenden Tag, er dachte an die kommenden Tage. Er entwarf tausend Bilder des plötzlichen Wiedersehens. Er schmiedete tausend Pläne.

Denn, so sagte er sich, wenn es nicht so gehe, so wolle er List anwenden.

Er hielt sich für einen geriebenen Burschen, der sich in den Himmel einschlich, wenn es ihm darum zu tun wäre. Es waren verwegene, verblüffende Pläne, wie sie im Gehirn eines Einbrechers und Intriganten entstehen. Oft brach er in lautes Lachen aus, so burlesk, so genial erschienen sie ihm.

Besonders gelungene arbeitete er bis ins kleinste Detail aus, und häufig brach er in der Mitte ab, um von vorn zu beginnen, da ihm seine Vorstellungen immer noch lückenhaft erschienen.

Seht ihr dieses alte Männchen die Ludwigsstraße hinabtrippeln? Jedermann wettet, es ist ein kleiner Rentner, ein pensionierter Galerieaufseher. Seht wie behutsam er die Straße überschreitet, wie er seine Kinnbacken bewegt, wie er mit dem Rohrstock nach Papierknäueln stochert. Seht seinen weißen Bart, sein kluges, pfiffiges Gesicht, ein Studienkopf, der einer jungen Malerin recht in die Augen stechen kann. Ha, Schauspieler Ling ist ein Meister in der Maske, alle Kritiker sagen das. Achtung! ein Tandem schnurrt hinter dir her ...

Was ist hier geschehen? Die Brücke ist vollgepfropft von Menschen und Wagen, daß sie sich biegt. Da drunten – seht, dort! Weshalb jammert dieses Weib so und liegt auf den Knien?

Platz da – Platz gemacht! Ein Körper durchschneidet die Luft, über ihm schlägt das Wasser zusammen. Es ist eine Turmlänge bis da hinunter. Dort, dort! Seht! – Hoch! Hoch! Das Wasser läuft nur so herunter an ihm, er hat den ganzen Fluß in den Kleidern. Ach, keinen Dank, Frau, machen Sie doch keine Geschichten. Der Schlag eines Wagens öffnet sich: Herr Ginstermann darf ich Ihnen den Wagen anbieten? ...

Man müßte den alten Herrn, ihren Vater, im Kaffeehaus zu treffen suchen, mit ihm über Politik und Münzensammlungen, über den unentdeckten Vulkan in Hinterindien, über sonst etwas sprechen. Irgendwo ist ein alter Herr stets zu packen ...

Vergessen wir unsern kleinen Rentner nicht. Nun klingelt er. Ein Dienstmädchen. »Das gnädige Fräulein besaßen die große Liebenswürdigkeit, mich zu bestellen.« Ein Kleid rauscht. Eine schlanke, blasse Dame. Das Männlein blinzelt, schüttelt den Kopf.

»Nein – nein – ich muß irr gegangen sein. Ich möchte eine Dame namens Won – Wonderneß sprechen.«

»Ich bedaure.«

»Leopoldstraße 12?«

»Allerdings.«

»Diese Dame ist Malerin, sie bestellte mich bis drei Uhr, Leopoldstraße 12.«

»Ich kenne niemanden dieses Namens. Aber fragen Sie mal nebenan nach, bei Major von Hörmann. Es ist da eine Dame zu Besuch –«

»Zu Besuch – richtig, zu Besuch! Ich danke vielmals, ich bitte um Entschuldigung. Ein alter Mann –.« Das Männlein macht einen Kratzfuß und steigt vorsichtig die Treppe hinunter.

»Bei Major von Hörmann, gleich nebenan.«

»O, ich danke, vielen Dank, Euer Gnaden« ...

Wo brennt es? Es brennt noch nicht, Herr Schutzmann, aus dem Keller schlägt Rauch. Wenn man schnell alarmiert. – Ja, wo denn? Leopoldstraße, diese moderne Villa ... Sein Gehirn arbeitete mit der Schnelligkeit eines Motors, über den der Maschinist die Herrschaft verloren. Er versuchte alles nur Denkbare, um einschlafen zu können. Während sein Körper wie tot lag, befand sich sein Gehirn in hellster Aufregung. Er zählte bis hundert und zurück, er lauschte auf das Ticktack seiner Taschenuhr, er dachte: Sommer, du liegst im Gras, Hitze schwingt, Bienen brummeln; alles war umsonst.

Bald kletterte er auf eine Pappel, um sie zu sehen, bald zechte er mit dem alten Mann, der täglich um ein Uhr die Villa betrat, um etwas aus ihm herauszulocken, bald schlug er eine tollwütende Dogge zu Boden, die sich auf den schlanken hübschen Herrn mit seinem Kindergesicht stürzen wollte.

Gegen Morgen erst versank er in einen schweren, traumlosen Schlaf, und er wußte sich nie zu besinnen, bei welcher Gelegenheit er eingeschlafen war.

Er erwachte meist mit dem jähen Schrecken, er höre ihre Stimme unten in Kapellis Ateliers.

So vergingen einige Wochen.


 << zurück weiter >>