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XI.

Ginstermann hatte es aufgegeben, gegen das Geschick zu kämpfen, das auf ihn einbrauste.

Noch war es nicht soweit gekommen, daß er sich ihm als Sklave ergeben mußte, noch konnte er sich verschenken.

Und so verschenkte er sich.

Er hatte sich gegen das Leben abgeschlossen, alle Fugen seiner Seele verstopft. Nun war es doch gekommen, heimtückisch in seiner Güte, furchtbar in seiner Liebe. Wie ein glühender Sturmwind fuhr es daher. Mit tausend Stimmen, mit Posaunen rief es ihn.

Die Posaunen des Lebens riefen ihn!

Nicht ohne Grauen folgte er dieser Stimme, aber er folgte mit der versteckten Sicherheit eines Menschen, der weiß, daß er sich zuletzt, ganz zuletzt, wenn es ihn an seiner Brust zerdrücken möchte, durch einen Sprung retten kann.

Und wenn nicht – nun dann sollte er untergehen.

Er hatte solange geherrscht über sich und andere, er hatte Sehnsucht, einmal zu dienen, er hatte immer geschenkt, verschwendet, er wollte nun nehmen, gierig nehmen.

Der Kampf gegen sein Schicksal war das Wahnsinnige, Erschöpfende gewesen, nun, da es sein Freund war, nahm er Geschenke und Hiebe ohne Trotz und Schmerz entgegen.

Blank und frisch, reingescheuert lag die Erde. Der Himmel lockte, die Sonne sang und sang, er blieb eigensinnig zwischen seinen vier Wänden.

Er wußte, wenn du nach Schleißheim gehst, zwischen acht und neun Uhr morgens, so kannst du sie sehen, wie sie mit der kleinen Scholl auf dem Rad vorbeiklirrt, aber er ging nicht. Er wollte sich keine Freude mehr stehlen. Selbst mußte sie zu ihm kommen, ganz von selbst.

Sie würde ihm ja schreiben. Ich schreibe Ihnen, wenn ich wieder kann, hatte sie ja gesagt.

Oder hatte sie es nicht gesagt? Sie hatte es gesagt, natürlich!

Und noch hatte er ja zu zehren von dem großen Glücke von neulich.

Es war entzückend, nichts, gar nichts zu tun, auf der Ottomane zu liegen und Zigaretten zu rauchen. Die Wirklichkeit versank und herrliche Träume wuchsen aus ihr empor wie mattleuchtende Tulpen, deren Kelche sich leise neigten.

Dazwischen dachte er daran, etwas zu schreiben. Er war voll von Liedern.

Doch ließ er sie singen, klingen in sich, wozu sollte alles Papier werden? Er wollte seiner Seele diese Lieder nicht rauben, sie sollten diese zarten langstieligen Blumenkelche umschweben.

Bekam er Langeweile, so sprach er bei den Bildhauersleuten vor.

Er fühlte eine seelische Zusammengehörigkeit mit ihnen und es fiel ihm nicht im Schlafe ein, sich daran zu erinnern, daß er sie früher verliebte Tierchen genannt, die in den Stall gehörten.

Er las in einem Buche, während Kapelli arbeitete, er spielte Karten mit ihnen, wenn es Feierstunde gab, er sah Frau Trud beim Nähen zu.

Sein Aussehen hatte sich geändert. Er sah frischer denn sonst aus, blühend gleichsam, nahezu wie ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren. In seinen Augen, die sonst düster brannten, sprühte das helle Feuer der Lebenslust.

Eines Morgens standen zwei Büsten auf dem Tische, als er bei Kapelli eintrat. Es war Biankas Porträt. Er erschrak vor Freude.

Diese beiden ganz gleichen Köpfe wirkten, länger betrachtet, verwirrend schmerzhaft auf ihn. Er sah im Geiste eine unendliche Reihe desselben Kopfes vor sich und wurde nervös bei dieser Vorstellung.

Kapelli lachte über dieses Gefühl. Seine Sinne waren abgestumpft, dadurch, daß er wochenlang dieses Gesicht studiert hatte. Für ihn war es ein Kopf, ein beliebiger Kopf, ein Geschöpf von ihm.

»Ich würde ihnen eine Büste schenken, Ginstermann,« sagte er. »Wenn Sie wollen.«

Ginstermann überflog, überglücklich durch dieses Geschenk, das zu erbitten ihm sein Zartgefühl verboten hätte, des Bildhauers Gesicht, ob er nicht einen schelmischen Zug darin entdecke. Aber Kapelli war vollständig von seiner Arbeit eingenommen und knetete mit nervösem Ernste an seiner Skizze herum, jene argwöhnisch-forschende Härte in den Augen, die das unausgesetzte gewissenhafte Vergleichen zwischen Modell und Arbeit erzeugt.

Also konnte er annehmen.

»Ich danke, Kapelli,« sagte er, »diese Büste gehört zum Besten, was Sie geschaffen haben – haha.«

Er legte das Taschentuch um sie und trug sie behutsam in sein Zimmer hinauf, sehr behutsam.

Nun stand sie auf seinem schmalbrüstigen, hohen Bücherregal.

Anfangs beunruhigte in dieser Gast. Er war nicht mehr allein. Gleichzeitig ein Gefühl der Scham, ohne ihr Wissen etwas von ihr zu besitzen. Aber sein Egoismus brachte gar bald sein Gewissen zur Ruhe, und schließlich wurde ihm die Büste eine wonnige Erlösung.

Er mochte sich noch so sehr in Träumereien verlieren, immer wieder gelangte er auf irgend einem Wege zu diesem Bildnis. Seine Gedanken, ja seine Bewegungen wurden dadurch beeinflußt. Etwas Weltfernes, etwas Reines, Heiliges erfüllte ihn, ohne daß er sich erst dazu hätte erziehen müssen.

Sein Zimmer wurde zu einem Tempel, dessen Gottheit Bianka war. Die Vorhänge waren stets zugezogen, so daß feierlich gedämpftes Licht herrschte. Schien die Sonne gegen die Scheiben, so erfüllte eine schwärmerisch-gelbe, verheißende Beleuchtung das Gemach, dunkelte es draußen, so versank der Raum in Schwermut und scheues Wünschen.

Oft stand er dicht vor der Büste und verharrte lange in der Betrachtung. Dann waren nur Bianka und er im Zimmer, sonst nichts, weder Stuhl noch Tisch.

Eigentlich konnte man nicht gut Büste sagen. Es war ein Mittelding zwischen Büste und Maske. Der Hinterkopf war weggeschnitten, wodurch das Edle, Durchgeistigte des Antlitzes noch hervorgehoben wurde.

Es war ein Antlitz, wie es Kranke haben, so zart, so durchscheinend, gleichsam überstrahlt von einem Lichte, das aus dem fernen Lande glänzte, wohin diese großen sehnsüchtigen Augen blickten. Die Nasenflügel schienen zu beben, der Mund zu zittern unter diesem Lächeln, diesem schmerzlich verlangenden, dürstenden Lächeln jener Menschen, die das Schicksal auf diese Welt verschlug.

Ich leide, sagte dieses Lächeln, aber ich möchte es euch verbergen, denn ihr würdet mein Leiden nur mißverstehen.

Die Spitzen der Finger schmiegten sich, als wollten sie das pochende Herz beruhigen, an die Brust, während die übrige Hand in den Block überging.

Er verbrachte die Tage hinter verschlossener Türe, mit dem Egoismus des Glücklichen, der Scheu des Verbrechers, der Scham des Liebenden.

Er nannte sie »Bianka«, wenn er zu ihr redete. Wenn seine Gedanken zu ihr redeten, von denen er nicht einmal wußte, was sie sprachen. Ach, alles war Keim in ihm, Knospe, er hätte keine Worte gefunden, als solche, die die Lippen vieler bereits profanierten. Er wünschte es auch nicht. Alles war Musik in ihm und schwebender Klang. Selbst Bianka sagte er nicht, nur seine Lippen bewegten sich, als liebkosten sie diesen Namen.

Feiertage waren das. Was er, der Gottlose, nie kannte, das lernte er jetzt kennen in seiner ganzen Süße: Andacht, himmlische, inbrünstige Andacht.

Oft war es ihm, als wäre er gar nicht, als ginge er als Traum eines höheren Wesens einher.

Aufs neue erschloß sich ihm Mensch und Menschentun, da er die Liebe kennen lernte, die ledig aller Leidenschaft war. O, wie glatt und kalt waren doch die Speere der Vernunft! Sie mordeten. Die Liebe, die so weich ist wie Mutterlippen, die heilte. Nun wurde ihm der große Prediger lebendig, der diese armen Menschen alle an seine Brust nahm und die Tränen seiner unendlichen Liebe in ihre bitteren Herzen träufelte.

Gelobet seist du!

Und die armen Menschen hatten dies Erbe verloren. Sie lebten auf dem Kerichthaufen des Tages und scharrten schwatzend und zeternd ekle Klumpen und bunte Fetzen. Sie waren Schlacke, die kein Hauch mehr erwärmte, kein Feuer mehr glühend machte. Der Mensch war ja tot! Seinen Gott hatte er verloren und nicht mehr soviel Seele in sich, in schüchterner Kinderinbrunst zum Menschen zu beten. –

Eines Abends verließ Ginstermann das Haus – die Beleuchtung in seinem Zimmer war so schal und müde – und kehrte mit einem Paketchen in Fließpapier zurück.

Er hatte Blüten eingekauft, mit denen er sein Heiligstes schmückte.

Es waren zartfarbene exotische Blüten von märchenhafter Gestalt, lange geschweifte Kelche, die einen süßen Duft ausatmeten. Er wußte nicht, wie man sie nannte. Verwunschene Prinzessinnen waren es, höchst einfach.

Er lag auf der Ottomane und betrachtete das Bildnis, während sich seine unklaren Gefühle zu einem Zuge stummjauchzender Verse ordneten, die in seiner Seele hin- und herzogen, eine feierliche Prozession in Weiß und Gold.

Alle Tage ersetzte er die Blüten durch neue.

Der Tag versank um ihn, er dachte häufig gar nicht mehr daran, daß jenes Weib, das er hier anbetete, wirklich existierte.

Ohne die geringste Ungeduld wartete er auf ihr versprochenes Billett.

Auf einem seiner Einkäufe begegnete ihm Fräulein Scholl. Die kleine reizende Scholl sagte: »Fräulein Schuhmacher reist demnächst ab.«

Er hörte es ohne Schmerz und dachte: »Sie wird dir schreiben, wenn sie wieder kommen kann.«

Es eilte ja gar nicht, es eilte ja gar nicht.

Einmal entstand das Verlangen in ihm, ihr ein Fest zu geben.

Er nahm seine ganze Barschaft und handelte weiße Rosen dafür ein. Sie waren klein wie ein Taubenei, und jede hatte hundert zarte Blätter. Es war eine ungeheure Menge und doch waren es noch lange nicht genug.

Er arbeitete fiebernd vor Festesfreude an der Ausschmückung. Er rannte fort und besorgte Draht, er rannte fort und besorgte Seidenpapier für die Lampe, er rannte fort und besorgte duftende Kräuter.

Die Büste stand nun in einer Laube weißer Rosen, bleicher, keuscher, sehnsüchtiger als diese. Rosen lagen auf der Schulter, vor ihr auf dem Teppiche, aus einer kleinen Schale stieg der Rauch duftender Kräuter empor, ein dünner Faden, der oben einen sich drehenden Kelch bildete. Die Lampe war in gelbes Seidenpapier gehüllt und sah aus wie ein Stern, der werden will.

Es war schön! Ach, ihr hättet es sehen müssen!

»Bianka!« jubelte Ginstermann. »Bianka!«

Allerdings hätte man es sich noch viel, viel herrlicher denken können. Eine Laube aus weißen Rosen mit goldenem Himmel zwischen den Ranken, wie auf den Gemälden der alten Meister. Und ganz aus der Ferne die Stimme einer Geige. Einer einzigen Geige, leise und süß, eine Melodie, die er in sich hatte, schüchtern anbetend, verschämt sehnsüchtig.

Und in den Pausen dieser ewigen Melodie hätten die Stimmen von Jungfrauen jauchzen müssen, so unendlich ferne und verweht vom Schwingen grüner Palmzweige.

Ergriffenheit bemächtigte sich seiner, er breitete die Hand über die Augen, als ob er weinen müsse.

Bianka blickte ihn an. Ihre Augen bekamen Farbe und Ausdruck, während das Gesicht bleich und still blieb. Sie zürnten ihm nicht wegen des Frevels, zu dem ihn seine Liebe verleitete. Sie blickten mild und gut.

Dieser Abend war eine einzige Köstlichkeit.

Seine Träume in dieser Nacht waren noch erfüllt davon. Bianka schwebte durch sie, bald mild lächelnd, bald stolz fliehend.

Er saß auf einem Sterne, weit ab von der Sonne, die Sonne erschien wie ein winziger Funke. Bläuliches Licht um ihn. Er hatte aus den anderen Sternen Biankas Namen gebildet, der sich flimmernd durch den Raum spannte, wie eine silberne Brücke. Er saß und schluchzte. Weshalb schluchzte er? Er wußte es nicht. Da strich etwas über seine Haare, ein Gewand flüsterte, das war Bianka. Er sah sie nicht, aber er wußte, daß sie es gewesen.

Und wieder, da eilte er durch einen Lilienwald. Das weiße Gewand Biankas schimmerte vor ihm. Aber so sehr er eilte, er erreichte es nie. Er rief, aber der Wald verschluckte seinen Ruf, ohne ihn weiterzugeben. Plötzlich wurden die Lilien so dicht, daß er nicht mehr durchzukommen vermochte. Und Biankas Augen blickten ihm entgegen. Sie lächelten grausam und höhnisch. Da begann der ganze Wald zu wandern und voller Schrecken erwachte er.

Wieder – wieder – da gingen sie durch eine Wiese von gläsern-durchsichtiger Farbe. Er und sie. Sie schritten Hand in Hand. Er war jung, schön war er. Sie war bald Kind, bald Jungfrau – Sie gingen im gleichen Schritt, sonderbar pathetisch, als trüge sie eine Melodie.

Da begann sie zu singen. Leise, flüsternd.

»Als Kinder spielten wir auf blumiger Wiese«, sang sie.

»In unseren Träumen spürten wir unsere Hände«, sang er.

Ihre Schritte zogen eine leuchtende Spur durch die Flur.

Sie blieben stehen, legten sich die Hände auf die Schultern und blickten einander an. Aus ihren Augen züngelte eine goldene Flamme.

»Wohin gehen wir?«

»Bis an die Pforte.«

»Bis an die Pforte?«

»Bis an die weiße Pforte.« – –

Die nächsten Tage verbrachte Ginstermann mit Arbeit. Es hieß, sich nun verzweifelt einzuschränken. Für die wenigen Gegenstände, die er verkaufen hatte können, war ihm lächerlich wenig geboten worden. Er war auf Viertelkost gesetzt. Aber das kümmerte ihn herzlich wenig. Die Not hatte für ihn nichts Furchterweckendes mehr; Gewohnheit und sein momentaner Gemütszustand ließen sie ihn als eine Freundin betrachten, eine alte Bekannte, mit der man Scherze treibt. Schmerzlich war nur der Umstand, daß er jetzt seine Blumenopfer unterlassen mußte, und wenn er nun arbeitete, geschah es weniger in der Absicht, Brot zu schaffen, als vielmehr Blüten erwerben zu können.

In der ersten Zeit ging es nur langsam vorwärts, sein Geist war der Disziplin entwöhnt; aber dann hatte er eine Menge glücklicher Einfälle, und es gelang ihm noch in derselben Woche, eine satirische Plauderei loszubringen. Für die Hälfte des Honorars kaufte er Blumen, die er mit glückseligem Jauchzen über sein Heiligstes streute.

Er war stets guten Mutes.

In den Pausen seiner Arbeit stand er in Betrachtung der Büste versunken. Dann verfiel er auf den Gedanken, Briefe an Bianka zu schreiben, die er natürlich nicht absandte.

Es waren Briefe, die nur er verstand, sonst niemand. Sie jauchzten und jubilierten, sie stammelten vor Glück. Hymnen nannte er sie, Hymnen an Bianka. Nie sollte ein Mensch sie zu lesen bekommen, er nahm sich vor, sie zu verbrennen – bei Gelegenheit.

Tage gingen. Regen kam.

Regen. Unaufhörlich klopfte er an die Scheiben.

Dieser kleine Umstand genügte, Ginstermanns Stimmung zu verändern.

Sein Zimmer erschien ihm eng, ein Käfig, ein Kerker. Es war ihm, als habe die Zeit ihn vergessen, als lebe er allein auf dem Planeten, während alles schon schlief.

Unruhe überfiel ihn und namenlose Sehnsucht.

Oft, während er schrieb, sprang er auf und sagte laut: »Weshalb schreibt sie nicht?« Er mußte seine Arbeit stundenlang unterbrechen, da ihm die Sehnsucht keine Ruhe ließ.

Er sah nach seinem Kalender. Heute war der siebzehnte Tag danach.

Er ging des Nachts wieder in der Leopoldstraße auf und ab. Er lauerte auf der Schleißheimer Chaussee. Allein die Straßen waren wenig verlockend zum Radfahren. Und dann regnete es auch. Bei Regenwetter fahren junge Damen nicht Rad. Er lachte; den Weg hätte er sich ersparen können.

Weshalb schrieb sie nicht?

Sollte er schreiben? Nein, das hieße wenig Vertrauen zeigen.

Also wartete er.

Seine Arbeit bestand nun darin, von der Morgen- zur Mittagspost, von der Mittags- zur Abendpost zu warten.

Eine Stunde hat sechzig Minuten und eine Minute sechzig Sekunden, meine Freunde!

Wenn er grübelnd über den Papieren saß, so hörte er häufig Pochen an der Türe. Öffnete er, so fand er jedoch niemanden vor. Oder er vernahm das Rauschen von Frauenkleidern, hörte sie sprechen im Hofe drunten.

Und dann diese Stille, diese Einsamkeit. Diese beängstigende Stille, die schwerer und schwerer wurde und ihn zu erdrücken drohte. Diese Einsamkeit, in die Rufe und Poltern der Straße wie Hohn drangen.

Sah er die Büste stehen, die er nur geschmückt gewohnt war, so verursachte ihm dies ungeheure Qual. Er trat davor und sagte, schmerzlich lächelnd:

»Das Schiff mit Gold muß jeden Tag eintreffen.«

Wie alle Einsamen, sprach er viel laut vor sich hin. In letzter Zeit jedoch geschah es häufiger denn gewöhnlich, und er gefiel sich in den absonderlichsten Bildern.

Eines Tages nun kam der Briefbote und brachte ihm einen Wertbrief mit fünfhundert Mark.

Er riß, schwindelig vor Glück, das Kuvert auf und schlug auf den Tisch, um sich zu überzeugen, daß es keine Sinnentäuschung war. Es lagen fünf Hundertmarkscheine darin. Ein Brief seines Verlegers, er solle ihm das Geld übermitteln.

Ginstermann warf die Scheine auf den Tisch und ging mit geballten Fäusten umher.

»Welcher Schuft will mir eine moralische Schuld mit Geld bezahlen!« rief er aus. Irgend so etwas stak dahinter. Er witterte es. Oder wer sonst sollte ihm das Geld zuschicken? Er kannte niemanden. Er dachte an Bianka, schämte sich aber augenblicklich, er dachte an Fräulein Scholl, lachte aber darüber. Diese Dame lebte in dem holden Wahne, ein Dichter schwimme in Gold. Faktisch!

Eine ungeheure Wut gegen den Unbekannten, der seinen Stolz bestechen wollte, packte ihn.

Dann hielt er den Schritt an, und er fühlte, wie sein Herz stille stand und jeder Tropfen Blutes aus seinem Gesichte wich.

»Nein, nein«, rief er, »das ist nicht denkbar!«

Nun war er da, der Gedanke, und er brachte ihn nicht mehr los.

Die Hand seiner Vergangenheit hatte nach ihm gegriffen.

»Lieber Freund«, sagte er zu sich, auf der Ottomane kauernd, »du bringst deine Vergangenheit nicht mehr los, und wenn du dir das Gehirn aus dem Kopfe schlägst. Eine Schlinge liegt um deinen Fuß und zieht sich zu, wenn du ausschreiten willst. Du kannst nicht mehr gehen, wohin du willst.«

In seinem Gehirn wirbelten die Gedanken wie die Flügel einer Turbine, seinen ganzen Körper durchzitternd.

Nach einer Weile fand er seine Fassung zurück.

»Was ist dabei«, sagte er sich und legte das Kuvert in ein Schubfach. »Ich werde es herausbringen. Im übrigen geht man nicht rückwärts in die Zukunft hinein, mein Freund.«

Er nahm den Hut, um spazieren zu gehen. Es darf nicht so fortgehen, dachte er. Er kramte in seinen Papieren, zog ein dünnes Manuskript hervor und steckte es in die Tasche, um es auf die Redaktion zu tragen.

Es waren Gedichte, Gedichte an Bianka. Das kam ihn hart an, aber es mußte sein. Das Leben erlaubte keine Zimperlichkeit. Er wollte sie unter fremdem Namen veröffentlichen, damit Bianka nicht etwa den Verrat entdecken konnte.

»Du verzeihst«, sagte er, die Büste anblickend, und ging.

Nun war er traurig, sehr traurig. Es half nichts, daß er sich zurief: Mut, Mut!

Im Hausflur traf er Fräulein von Sacken, die glücklich lächelnd Ritts Atelier verließ.

»Guten Tag«, sagte sie und bot ihm lächelnd die Hand.

»Guten Tag«, erwiderte er und ging an ihr vorbei.

Ritt sah zur Türe heraus und grinste.

»Kommen Sie, Ginstermann!« rief er ihm zu.

Ginstermann hatte keine Lust.

»Nur eine Sekunde!«

So trat er also ein. Ritt führte ihn zu einem Bilde, das auf der Staffelei stand. Es war ein Stillleben, Karpfen waren es.

»Wie finden Sie es? Ich habe dem armen Weib ein bißchen geholfen.«

Es war prächtig gemalt, aber Ginstermann sagte nichts.

Für ihn gab es keine Farben mehr, kein Leben und Lachen. Eine dunkle Traurigkeit hüllte ihn ein.

»Die Sacken ist doch eigentlich noch ein hübsches Weib, nicht?« lächelte Ritt.

Ginstermann erwiderte mechanisch: »O, gewiß«, und ging.

Es war ihm alles einerlei.

Ob das Bild gut oder schlecht war, ob Fräulein Sacken hübsch oder nicht mehr hübsch war, das konnte ihm doch ganz gleichgiltig sein. – – –


Ginstermann schloß seine Türe auf, streckte den Kopf ins Zimmer und lachte.

Er trug ein kleines Paketchen in Fließpapier, das er sorgfältig enthüllte.

Dumpfe Luft und schwermütiges Licht erfüllten sein Zimmer. Er zog die Vorhänge auseinander und öffnete die Fenster. Die Sonne wirbelte ins Zimmer und überschüttete die Büste mit goldenen Küssen.

»Im Tempel des Lebens ist die Sonne der Strahl der Kerzen und frische Luft Weihrauch!« jauchzte er pathetisch.

Der Duft von Veilchen, die er mitgebracht, erfüllte das Gemach. Das ganze Haus stand gleichsam in einem blühenden Garten. Ein bescheidener Schmuck lagen sie auf der schneeweißen Schulter, ihr wunderholdes Blütenantlitz an Hals und Brust Biankas schmiegend.

Weshalb hatte sie ihm nicht geschrieben?

Nun wußte er es, und er wußte es doch nicht.

Sie hatte gesagt: »Oft dachte ich daran, Sie zu einem kurzen Spaziergang aufzufordern, aber ich unterließ es stets. Ich weiß nicht, weshalb.«

Sie wußte nicht, weshalb.

Er war durch die Straßen gegangen, als er plötzlich seinen Namen hörte. Er sah sich um, er sah hinüber: Fräulein Schuhmacher stand drüben, und Fräulein Scholl und Fräulein Bijou waren auch dabei.

Eine ganze Stunde hatten sie zusammen gebummelt. Sie hatten Einkäufe gemacht für die Reise. Die Mädchen waren in die Magazine getreten, und er hatte sich die Auslagen betrachtet und sie stets, wenn sie zurückkamen, gefragt, was sie Schönes gekauft hätten. Einmal war er sogar mit in das Geschäft eingetreten. Es sollte eine Aschenschale für den Bruder, den Offizier in Berlin, gekauft werden. Obgleich er Bianka ein feines Verständnis zutraute, hatten ihn doch ihre Sicherheit und ihr reifer Geschmack verblüfft. Sie prüfte Stück um Stück, und er sah stets an ihrem Blicke, was ihr an der Arbeit mißfiel. Endlich entschied sie sich für die einfachste Schale, die zu finden war. Keine Figur, keine augenfällige Originalität, eine vornehme Form, ein paar sprechende Linien. Er sah erst jetzt, wie schön die Schale tatsächlich war.

Die kleine Scholl meinte allerdings, die Schale sei langweilig und geschmacklos.

Bianka würde in vierzehn Tagen abreisen. Wenn es der Zustand der Mama erlaubte, vorausgesetzt. Einige Zeit würden sie in Montreux zubringen, dann für immer nach Nizza übersiedeln. Ihr Vater wollte in Nizza eine Villa kaufen.

Es gab auf der Welt Leute, die eine Villa in Nizza kaufen konnten, es gab wiederum solche, die nicht ein Billett nach Nizza zu erschwingen vermochten. Es gab Leute, deren Seele in Sorglosigkeit erblühte, es gab solche, deren Seele von banalen Widerwertigkeiten zerfressen wurde, wie ein Stück Zucker von Ameisen.

Aber sie würde doch wieder nach München kommen?

Nein, voraussichtlich nicht.

Nicht, nicht. Jawohl nicht.

Nun gut, es waren ja noch vierzehn Tage, vier–zehn Tage.

Und morgen würde er sie wieder im Englischen Garten treffen.

Kann man mehr verlangen.

Morgen, morgen, morgen – –!

Er nahm einen Briefbogen und schrieb. Den 21. Tag danach. Bianka, du sollst mich nicht töten. Herrliche, weißt du, nie liebte mich jemand, nun sterbe ich daran. Deine Güte, deine endlose Güte! Die Güte in deinen Augen, die Güte in deinem Lächeln, diese Güte in deinem Händedruck. Töte mich nicht, du Erlöserin zur neuen Qual ....


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