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X.

Samstag.

Ginstermann sprang aus dem Bette, mit beiden Füßen zu gleicher Zeit, und sagte: »Samstag.«

Er hatte lange und tief geschlafen und fühlte sich in erwartungsvoll heiterer Stimmung angesichts dieses Tages, aus dessen Dämmerung das große Glück wetterleuchtete.

Es war noch sehr zeitig. Die Kamine, die auf den Dachfirsten ritten, warfen noch nicht den mindesten Schatten. Der Tag kam mit sanftem Blau am Himmel herauf. Die Dämmerung vor sich hertreibend, in deren niedersinkenden Schleiern die Sonne in Tausenden von unsichtbaren Funken sprühte.

Durch die geöffneten Fenster strömte frische, würzige Luft, gesättigt mit dem Geruche der Wälder und dem kühlen Atem der Quellen, noch nicht verdorben vom Staub der Teppiche und den Küchendünsten. Der Hof lag noch ruhig. Es war ein richtiger Feiertagmorgen.

Sein Zimmer war hell und freundlich, wie zum Empfang eines Gastes hergerichtet, aus Möbeln und Wänden schien die Sonne der letzten Wochen zu strahlen. Er gewann es lieb, wie einen treuen Freund, den man einige Zeit hindurch vernachlässigt hat. Tisch und Stühle, Bücher und Skizzen an den Wänden waren ihm alte Bekannte, die treu bei ihm aushielten ohne Dank zu heischen.

Er erinnerte sich an jene Morgen, da er erwachte, verpackt in einen Block von Kälte und Finsternis, in wüster Betäubung von der Arbeit der Nacht und lächelte. Das war nun vorbei. Ein Traum hatte ihn auf einen anderen Planeten getragen. Hier gab es nur Sonne und Gesang. Das gütige große Leben winkte ihm wiederum und lud ihn ein, im Reigen mitzutanzen.

Ginstermann schritt nackt in seinem Zimmer auf und ab. Es gehörte dies zu seinen Liebhabereien.

Das Gefühl von Kraft und Gesundheit erfüllte ihn in einem Maße, wie er es nie zuvor empfunden. Es schien ihm, als ob er gewachsen wäre. Seine Brust war gleichsam breiter geworden, den Lungen mehr Raum zum Atem erlaubend, seine Sehnen straffer. Die Müdigkeit war weg, der gebeugte Rücken, die bleischweren Füße. Als hätte er einen wüsten Rausch ausgeschlafen.

Er wettete, mit der Faust Löcher in die Wand schlagen zu können, die Decke zu sprengen, wenn er sich streckte.

Köstlicher aber als all das, war die Stille, der Friede seiner Seele, die einer Wiedergeburt entgegensah.

Eine übermütige Melodie summend, die ihm der junge Tag als Morgengeschenk gegeben, trat er vor den Spiegel, ließ die Muskeln seiner Arme spielen, reckte die Brust, beugte den Kopf zurück, sich erfreuend an dem Schnellen der Sehnen, der Überschneidung der Schulter, der energischen Linie seines Armes, als studiere er einen fremden Körper.

Man sollte nicht versäumen, dachte er, jede freie Stunde nackt zu gehen. Was für Bewegungen würde man bekommen, welche Elastizität, welche Genüsse von Schönheit könnte man sich verschaffen, abgesehen von der Bereicherung seiner anatomischen Kenntnisse. Nackt müßten die Menschen in Gärten wandeln, voll Ehrfurcht vor der Schönheit ihrer Schwestern und Brüder, und die Welt nähme von neuem ihren Anfang, Schönheit und Erkenntnis ihr zweifaltiger Gott.

Endlich ging er an die Toilette. Er überschwemmte seinen Körper mit Wasser und lief fröstelnd und pustend im Zimmer umher, eine solche Menge Fußspuren hinterlassend, als habe ein Rudel Wilder hier getanzt. Er hatte sich einen netten Anzug angeschafft, denn es erschien ihm unmöglich, in seinem geschossenen blaugrauen Sommeranzug mit einer vornehmen Dame im Englischen Garten zu promenieren. Allerdings hatte er nahezu seine ganzen Ersparnisse hinlegen müssen, aber das war ja vorläufig einerlei. Fix und fertig trat er vor den Spiegel. Der Anzug saß außerordentlich gut, als sei er für seine Figur geschnitten. Er machte in seiner dunkelgrauen Farbe einen ruhig-vornehmen Eindruck.

Zur Vervollständigung setzte er auch seinen netten Strohhut auf, dessen verräterischen Glanz er mittels Wasser abgeschwächt hatte, und erblickte nun im Spiegel einen elegant, nahezu geckenhaft gekleideten jungen Mann, der sonderbarerweise sein Gesicht hatte.

Er lüftete grüßend den Hut und sagte: »Guten Tag, wie geht es Ihnen?« dabei lächelnd mit freudigen Augen. Seine Wangen überzog ein Hauch von Röte, und diese Erscheinung machte ihn verblüfft wie ein Wunder. Gemächlich nahm er seinen Tee, rauchte er seine Zigarette. Er hatte Zeit. Unendlich viel Zeit, die mit den raffiniertesten Kunstkniffen vertrieben sein wollte.

»Gehen die Lahmen zu Tanze, Antonio?« sagte er zu sich. Er lachte und erwiderte sich selbst: »Wenn die Toten neugierig werden, Pietro, weshalb sollen die Lahmen nicht tanzen?«

»Ein Toter wird wieder lebendig, mein Sohn, wenn er sieht, wie sein Waffenbruder die Flucht ergreift.«

»Man merkt, daß du schon lange gelegen bist, tapfrer Held, selbst dein Witz ist nicht mehr frisch.«

»So frisch noch, um das Faule deiner Ausflüchte zu spüren, Antonio. Ein Antonio, der beim Junggesellenmahl des Colonna den Degen in den Tisch stieß und rief –«

»Man merkt, daß du selbst wenig Gedanken besitzt, da du Raum im Kopfe hast, die Gedanken anderer Leute aufzubewahren.«

»Donna Claudia –«

»Nun muß deine Zunge ein Loch haben, da sie einen Weibernamen aussprach.«

»Die Schnelligkeit deiner Einwürfe beweist mir, was mir gar nicht mehr bewiesen zu werden brauchte. Donna Claudia läd zum Tanze, und das ganze männliche Venedig schläft nicht mehr vor Aufregung, wie eine Jungfrau vor der Hochzeit. Wenn man euch hört, so glaubt man, ihr speistet sechs Teufel an einer Gabel, aber das Lächeln einer Frau macht euch zu tänzelnden Pudeln. Don Luigi, dessen Zunge scharf war wie ein Rasiermesser, um dessen Degen die Leute einen Halbkreis beschrieben, ertrank in den Wangengrübchen eines rosigen Mädchens, Freund Fabio, der noch mit halbem Schädel kämpfte und mit dem Satan in persönlicher Korrespondenz stand, gab seine Narben für den Kuß eines zierlichen Frauenknöchels. Und Antonio –«

»Antonio ist nach Palermo abgereist.«

»Antonio, der beim Festmahl des Colonna sagte: Wenn mein Herz Langeweile hat, so frage ich es: Hast du Langeweile, mio bambino? Sollst eine Puppe haben, eine feine Puppe, die Mama und Papa sagt, wenn man sie auf den Bauch drückt – dieser nämliche Antonio, ihr Herren, so hört doch! schlüpft in den Balg eines Papageis, wenn Donna Claudia zum Tanze läd.«

»Ein Fisch könnte sich ertränken.«

»Ein Weib könnte die Wahrheit sagen.«

»Ich wünschte nur, Pietro, die Marchesa Colombi könnte Zeugin deiner mannhaften Entrüstung sein.«

»Die Marchesa Colombi? Der Mond falle dir auf den Bauch, Freundchen!« –

Er erfand einen Dialog, in dem sich zwei blasierte Schlingel gegenseitig den Rest ihrer Gefühle zum Vorwurf machten. Daran reihte sich eine Szene bei Donna Claudia, Antonio–Claudia, und ein Zwiegespräch der Marchesa Colombi mit einer Maske in einer Fensternische, die mit einer klatschenden Ohrfeige endigte. Pietro, dieser freche Patron, mußte unbedingt seinen Lohn haben.

Da begann Kapelli in seinem Atelier einen Heidenspektakel zu vollführen, er trieb Nägel in ein Brett, und die Gäste der Donna Claudia gingen nach Hause.

Von der Straße her drang das Lärmen des erwachten Verkehrs. Die Gemüseweiber riefen mit singender Stimme ihre Waren aus, die Glocke des Kehrichtwagens zeterte.

Ginstermann ging auf und ab, dann trat er ans Fenster und blickte hinaus, um sich die Zeit zu vertreiben.

Aus dem Fenster gegenüber lehnte sich eine Magd, die plumpen Brüste breitgedrückt auf dem Gesims, und warf mit schwingender Bewegung des fleischigen Armes Kartoffelschalen in den Hof. Darauf zog sie sich schleunigst zurück, den Mund aufsperrend, um das Lachen zu verhalten. Sie sah aus wie eine Schießscheibe. Im Hofe wurde eine gutmütig-kreischende Weiberstimme laut, die augenblicklich eine Menge Gesichter an die Küchenfenster lockte.

Eine Zeitlang beobachtete er das Treiben des Hofes, das an die Daseinsäußerungen von harmlosen Tieren erinnerte, dann erwachte wiederum die Melodie von vorhin in ihm, in bestimmterem Rhythmus, mit halbgehörtem Texte, und plötzlich, ohne sich eigentlich über diesen Vorgang klar zu werden, trällerte er vor sich hin:

Juhei, juhei, der Tag ist da,
er tanzt als wie ein Narr herum,
mit heija–halleluija
tanzt er die alten Häuser –
    ja alten Häuser um. Juhei!

Juhei, juhei, der Tag ist da,
ein wilder, kecker Bengel,
mit heija–juhaheirassa
hält er mich untern Pumpen –
    ja untern Pumpenschwengel. Juhei!

Juhei, juhei, der Tag ist da,
mit einem Strauß von Düften,
dann hängt er mich mit juhaha
an einen hohen Kirchenturm –
    ja Kirchenturm zum Lüften. Juhei, Juheirassassassa!

Er wiederholte den Singsang, veränderte die Melodie, dichtete ein paar Strophen dazu, bis er endlich des Spaßes überdrüssig wurde.

Er sah auf die Uhr.

Es war sieben, noch nicht sieben.


Der Wind trug das Singen des Glockenspiels von St. Anna herüber in den Park. Ginstermann stand und lauschte. Bei den einundzwanzig Wunden des Cäsar! es war schon wieder eine Stunde um.

Heute schlief Phöbus auf seinem Kutschenbock, wie seinerzeit am Tage von Gilgal. Jede Minute ging so gemütlich als möglich und trank eine Tasse Schokolade, bevor sie die Parole an die folgende abgab.

Ginstermann promenierte seit Mittag im Englischen Garten, um nicht zu spät zu kommen, wie er sagte. Er hatte hastig und ohne jeglichen Appetit, als habe er das Reisefieber, sein Mittagsbrot eingenommen und war, ohne recht zu wissen wie, in den Park gekommen. Den Vormittag über hatte er sich in den Straßen, auf dem Bahnhofe herumgetrieben, eine solche Menge beobachtend, erlebend, erfindend, daß es geschrieben einen Folianten gäbe, ohne aber seine Ungeduld, seine Langweile nur eine kleine Weile bannen zu können. Eine Zeitlang hatte er bei dem Auslagefenster eines Reisebureaus gestanden, wo die kleinen Zinnschiffe auf gemalten Ozeanen wimmeln, und einen kurzen Ausflug nach Südamerika, Australien und Japan unternommen, mit einigen Zusammenstößen, Seeräuberüberfällen und einer kleiner Robinsonade auf einer niedlichen Koralleninsel in der Südsee.

Es war angenehm, hier zu gehen, auf den gepflegten, reingekehrten Wegen. Durch die halbhohen Wiesen hindurch, deren Gräser und Blumen der Wind leise wiegte, oder unter den hohen Bäumen mit den in der Sonne flitternden Blättern.

Das war ein Tag, von einem Gotte, der ein Dichter und ein Maler war, geschaffen. Duftende Blüten, bunte verliebte Falter, ein blauer Himmel, der der Sonne das Feuer in einem einzigen Kusse zurückgab, ein Tag, der einen Engel auf die Erdenkinder hätte neidisch machen können.

Zur Mittagszeit gab es nur wenig Leute. Ab und zu eine Bonne mit Kindern, ein Reiter, der auf den Sandsteigen vorbeistampfte, ein Wagen, ein Mann, der vor sich hinsann. Hinter den Bäumen blinkten die Villen wie eine Reihe weißer, lächelnder Zähne. Die Stadt surrte in der Ferne, eine atemlose, keine Sekunde stillestehende Maschine.

Mit jeder Viertelstunde wuchs in Ginstermann eine sonderbare Angst, die ihn wie ein Schwindel im Kreise drehte. Als ob man zu einem sagte: Noch eine kleine Weile, und die Türe springt auf, und du stehst vor dem Schicksal, das dir deinen Platz im Leben anweisen wird. Es war das nämliche Gefühl, das er empfand, als bei der Premiere seines ersten Dramas der Vorhang in die Höhe stieg, und er das gefüllte Haus in der Dämmerung liegen sah, das gekommen war, ihn zu richten. Und doch war es nichts als ein harmloses Rendezvous mit einer jungen Dame.

Als es zwei Uhr schlug, stieg er zum dutzendsten Male den Hügel hinauf, auf dem der Monopteros, ein schlanker Rundtempel aus weißem Marmor, errichtet war.

Hier würde er sie treffen. In einer Stunde würde sie hier oben stehen ...

Er blickte über die Wiesen, die Baumwipfel, die Stadt.

All das war ihm wohlbekannt. Jeder Weg, jeder Baum, jeder Turm. Er hatte vorigen Sommer hier oben zu Mittag gegessen, als es ihm nicht sonderlich gut ging, zwei Monate lang.

Er ging unter den Säulen umher und las Namen und Monogramme, die von einem Herzen eingeschlossen waren. Erinnerungen an verliebte Leute. Er bemerkte ein häßliches Wort und rieb es mit einem Steinchen weg, damit nicht ihre Augen zufällig darauf fallen konnten.

Dann stieg er wieder herab und ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder, die ihm erlaubte, den Tempel im Auge zu behalten, ohne daß er den Ausgang sah. Er wollte sie nicht kommen sehen, sondern plötzlich sollte ihre Gestalt ihm aus den schlanken, weißen Säulen heraustreten.

Hier war es sehr still, und er träumte, wie sie aussehen würde, was sie spräche. Vor ihm standen die hohen, ernsten Bäume mit schweren, schattensatten Wipfeln, Büsche zwischen ihren Stämmen, Blumen und allerlei Kraut unter diesen Büschen. Drei Wälder, verschieden an Größe und um so üppiger und farbenprächtiger, je mehr sie sich dem Erdboden näherten. Es hämmerte, es klopfte, knackte da und dort, Fliegen mit schillernden Flügeln summten über den Weg, Vögel schwankten von Ast zu Ast. Das war so eigentümlich, so märchenhaft, daß man wähnte, jede Minute müsse sich das Gebüsch teilen und etwas Sonderbares hervorkommen.

Ginstermann spann sich in diese Märchenstimmung hinein, bis ihn das glucksende Lallen eines kleinen, wie eine Puppe herausgeputzten Mädchens weckte. Das Kind blieb vor ihm stehen, mühsam das Gleichgewicht haltend, und lief plötzlich auf ihn zu und fiel ihm mit jauchzendem Lachen nahezu in den Schoß. Es legte die Fäustchen auf seine Knie und blickte ihn zutraulich mit großen, wasserblauen Augen an, aus denen das wunderliche Traumland seiner Seele schimmerte.

Die Mutter, eine schmale, kleine Frau in Trauerkleidern, eilte mit mädchenhaft flüchtigen Schritten herbei und versuchte die Kleine wegzuziehen.

»Aber bitte, lassen Sie die Kleine doch,« sagte Ginstermann, »ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß sie Zutrauen zu mir hat.«

»Sie belästigt Sie. Herzchen, Du belästigst den Herrn!«

»Nein, nein, aber keineswegs. So hübsche Kinder belästigen mich nie.«

Die junge Mutter nahm neben ihm Platz, sich nochmals entschuldigend. Ihr Wesen hatte etwas Gedrücktes, Hoffnungsloses an sich, als sei sie mühsam der Verzweiflung entronnen. Ihr schwarzes Kleid war abgetragen und spielte an den Armen und der Brust ins Grünliche. Mit krankhafter Schamhaftigkeit versuchte sie die Schuhe unter dem Rocksaum zu verbergen, da sie rissig waren.

Ginstermann nahm das Kind auf die Knie und schaukelte es, dabei trällernd:

Die Schweden sind kommen – habn’s Pulver mitg’nommen ...

Die Kleine lachte und klatschte vor Vergnügen mit den Patschhändchen.

»Sie wird ihnen lästig fallen,« hub die Mutter wieder an, ihm mit einem Blicke ihrer traurigen, verschleierten Augen dankend.

»Sie sehen ja, daß das Vergnügen ganz auf meiner Seite ist. Was verlangen Sie für das Kind? Ich kaufe es Ihnen ab. Drei, fünf Millionen?«

Aber das Weib lächelte nicht. Sie blickte den Weg hinunter zu einem kleinen Manne in komisch kurzem Gehrocke, der heftig hustete.

»Es läuft auf jeden Herrn zu, denn es hat keinen Vater.«

Sie sagte das mit einer Stimme, die ihren ganzen Schmerz ausdrückte.

Denn es hat keinen Vater, wiederholte Ginstermann innerlich.

Er fuhr fort, das Kind zu schaukeln, dann sagte er:

»Wer ein solches Kind hat, darf eigentlich nicht traurig sein.«

Sie blickte immer noch zu dem hustenden Männlein hinunter.

»Ach,« sagte sie, »er hätte mich ja sicher geheiratet. Er ist gestorben. Er war drei Tage krank, dann ist er gestorben. Nun ist er tot.«

Das Mädchen jauchzte und fuhr mit gespreizten Fingerchen nach Ginstermanns Gesicht.

»Fällt es Ihnen noch nicht lästig?«

»Ach nein. Hören Sie doch diese Stimme! Wie eine Glocke. Und dieses Haar, das sie hat, feiner wie Seide.«

»Darf ich Sie etwas fragen, ja? Und Sie werden mir Ihrer Überzeugung gemäß antworten?«

»Bitte, bitte.«

Ob er an ein Wiedersehen im Himmel glaube!

Dabei sah sie ihm direkt in die Augen.

»Nun auf jeden Fall doch! Da gibt es doch einfach keinen Zweifel.«

Auf ihrem Gange wohne einer, ein Doktor, ein Schriftsteller, der sage, nur die Dummen glaubten es noch. Seine Hausfrau habe es ihr erzählt.

»Ja, ein Schriftsteller,« entgegnete Ginstermann, »die glauben alle nichts. Ich kann Ihnen aber etwas sagen, Sie brauchen gar nicht so lange zu warten.«

Das verstünde sie nicht.

Sehr einfach. In ein paar Jahren hätte sich ihr Kind entwickelt, und aus dem Kinde würde alsdann der Vater heraustreten. Zum Beispiel an der Bildung der Stirne, an einer Bewegung, in der Stimme würde sie ihn erkennen. Und somit in ihrem Kinde auch dessen Vater erblicken.

Sie sann vor sich hin, beglückt von dieser Eröffnung und sah im Geiste das Kind heranwachsen und seinem Vater gleichen.

Dann erzählte sie Ginstermann leise, in unvollständigen Sätzen, die Geschichte ihrer Liebe, um sich das Herz dadurch zu erleichtern. Sie war Telephonistin und ihr Bräutigam Zeichner in einer Möbelfabrik. Er war sehr geschickt. Sie hatten sich durchs Telephon kennen gelernt. Schon als sie das erste Mal seine Stimme gehört, habe sie ihn lieb gewonnen. Und eines Abends war er hinter ihr hergekommen und hatte gerufen: 23–75. Das war die Nummer seines Geschäfts. Sie sei auf den Tod erschrocken. Und dann hätten sie einander geliebt. Aber dann sei er krank geworden, nur drei Tage krank gelegen und gestorben. Und sie habe ihre Stellung verloren, als das Kind kam und sei nun Kontoristin. Gegenwärtig habe sie Urlaub, drei Tage.

Ginstermann hörte ihr von Mitleid ergriffen zu. Er schmiedete Pläne, auf welche Weise man das arme Weib erfreuen könne. Hätte er Geld gehabt, so würde er ihr soviel als möglich zugestellt haben: Ein Freund ihres Bräutigams, der Möbelzeichner K. habe diese Schuld abzuzahlen. Er bitte wegen der Verzögerung um Entschuldigung. Auch beschäftigte ihn der Gedanke, auf die Direktion zu gehen und dem Beamten die Nichtswürdigkeit seiner Handlungsweise vorzuhalten, ein junges Mädchen deshalb zu entlassen, weil es der Stimme seiner Natur gefolgt war.

»Wenn Ihnen die Kleine aber lästig wird –? – – Es regnete ein wenig und ich hatte den Schirm aufgespannt, an jenem Abend. Da kam er hinter mir her und sagte: 23–75. Ach, ich bin auf den Tod erschrocken –«

In diesem Momente schlugen die Uhren drei.

Ginstermann erschrack, die Töne durchliefen seinen ganzen Körper.

Er stand hastig auf und sagte, bebend vor Erregung:

»Entschuldigung, ich muß gehen. Es ist drei Uhr. Um drei Uhr muß ich gehen. Auf Wiedersehen.«

Zwischen den Säulen auf dem Hügel war noch nichts zu sehen. Kein Schatten, nicht der Verdacht eines Schattens.

Drei Uhr und nichts zu sehen. Ginstermann wurde von einer lähmenden Angst befallen und hielt den Schritt an.

Wie ein Blitz fuhren ihm hundert Möglichkeiten durch den Kopf, die sie abgehalten haben mochten, und die eine verblieb hartnäckig als die wahrscheinlichste: Sie wollte nicht, sie hatte es sich anders überlegt. Was sollte sie mit ihm?

Nun hatte er drei Tage gefiebert, und seine Sehnsucht hatte sich die Flügel lahm geflogen nach diesem Moment – und sie kam nicht.

Er stand und blickte mit bitterem Lächeln zu Boden.

»Gut! Es war vorbei. Das Leben hatte ihn genarrt!«

Aber plötzlich schrak er zusammen. In dem Bilde, das unbewußt seine Netzhaut spiegelte, hatte sich etwas geändert.

Sie stand oben.

Sie stand wirklich und wahrhaftig oben.

Schlank und weiß stand sie zwischen den schlanken, weißen Säulen und blickte über die Wiese.

Es fiel Ginstermann nicht ein, hinauf zu eilen. Er blieb ruhig hinter seinem Busche stehen und beobachtete sie.

Sie ging langsam im Kreise umher, dann blieb sie stehen und schrieb mit dem Sonnenschirm auf den Boden. Sie wartete.

Ist es nicht köstlich, dachte Ginstermann, sie wartet! So steht jemand, der wartet! Oder schreibt man sonst mit dem Schirm auf den Boden? Oder steht man sonst in solch nachdenklicher, nachlässiger Haltung?

Er götzte sich eine Weile an diesem Gedanken, dann eilte er, was er konnte und langte ganz außer Atem oben an.

»Da sind Sie ja!« sagte sie und lächelte.

Ihre Stimme klang klarer und voller als neulich, da sie krank gewesen. Mit einem kurzen verstohlenen Blick überflog sie sein verändertes Äußere.

Er schämte sich nun, es kam ihm vor, als beleidige er sie durch diese spießbürgerliche Rücksichtnahme, und er verwünschte Anzug und Hut.

»Ja, da bin ich«, sagte er, indem er ihr die Hand gab. Es fiel ihm sonst nichts ein, all die hundert Anreden, die er sich zurecht gelegt hatte, waren in seinem Kopfe verschwunden wie durch ein Loch.

Sie habe schon gedacht, er sei irgendwie verhindert.

Dies sagte sie leichthin, in verletzend gleichgültigem Tone, der Ginstermann augenblicklich die Fassung zurückgab.

»Ich würde nicht verfehlt haben, Sie das wissen zu lassen,« entgegnete er.

Sie gingen den Hügel hinab und blieben an der Wegkreuzung stehen, unwillkürlich.

»O, das ist ja gleich«, sagte Fräulein Schuhmacher und schlug den Fahrweg ein.

Sie begannen zu plaudern. Anfangs tasteten sie unsicher nach einem Gesprächsthema, das Interesse für jeden besaß und jedem gestattete, etwas dazu zu geben, und huschten sie über die Oberfläche einer Menge von Fragen hinweg, bis sie schließlich in glattes Geleise kamen.

Ginstermann war nicht vollständig bei der Sache. Ein Chaos von Gefühlen wirbelte in ihm. Ist es nicht herrlich, neben ihr zu gehen, dachte er.

Ein Mann macht eine Reise um die Erde und spricht nach seiner Rückkehr zum erstenmal wieder mit seiner Geliebten. So kam es ihm vor.

Nachlässig schlenderte er neben ihr her, den Hut in den Nacken gerückt, die Hände in den Hosentaschen, wie er es bei guter Laune zu tun pflegte. Er war nicht bedrückt durch ihre Nähe, wie früher, er fühlte sich befreit, ohne die peinigende Unruhe, unter der er zu leiden hatte, wenn er fern von ihr war. Er schlürfte sein Glück mit dem lachenden Leichtsinn eines, der nicht daran denkt, daß der Becher einen Boden hat.

Es war ihm auch gar nicht darum zu tun, die Seele dieses Mädchens auszuhorchen. Wozu sollte sein Verstand das ergründen, was sein Herz längst wußte. Er war ihr Freund, mochte sie seine Gefühle erwidern oder nicht, und er war selig in dem Gedanken, einen Menschen zu wissen, dem er sich ohne die Scham des Schenkenden geben konnte, wie er war.

Sein Inneres glich jenem Fleckchen Land, durch das sie schritten, erschauernd unter der gütigen Sonne, Leben und Blüten quellend.

Kommst du nach Hause, Wanderer, so sage, du habest einen gesehen, den das Leben mitten auf den Mund küßte, dachte er, als jemand an ihnen vorüberging.

Emanzipation? Welches seine Meinung über die Emanzipation des Weibes sei?

Er nahm dieser Frage gegenüber seine feste Stellung ein. Diese Stellung suchte er ihr zu charakterisieren. Er vertrat die Frauenbewegung in ihrer radikalsten Form, wenngleich er da und dort seine Bedenken hegte. Die soziale Stellung des Weibes hielt er für einen Punkt sekundärer Bedeutung, mehr war es ihm um die Erweiterung des Erkenntnisvermögens der Frau zu tun. Die Frau müsse es vor allem lernen, ihre Kinder zu erziehen. Sie müsse begreifen lernen, daß das seelische Wohl des Kindes vor sein leibliches Wohl gehe.

»Die Tatsache ist betrübend«, sagte er, »daß der seelische Zusammenhang des erwachsenen Kindes und seiner Mutter ein lediglich auf natürlichen Gesetzen basierter ist; ein gezwungener also, kein aus einem freien Bedürfnis heraus entstandener.«

Dann sprach er von dem Verhältnis des Weibes zum Manne, das kein von der Natur vorgeschriebenes, in seelischem Sinne natürlich, sondern von der Kultur erwünschtes sei.

Das waren für ihn alte Dinge, über die er Bücher geschrieben hatte, und er dachte vieles andere, während er sprach.

Wie schön die Nachdenklichkeit sie macht, dachte er. Es ist nicht Schönheit im Sinne der Welt, es ist eine neue Art von Schönheit, für die man besonders entwickelte Augen haben muß. Und man weiß nicht, liegt sie in der Linie ihres Profils, liegt sie in der durchsichtigen Tiefe ihrer Augen, darüber die Wimpern sprühen. Man braucht es auch nicht zu wissen. Wie ist es, dachte er, findet ein Mann in einem Weibe, dessen Seele er liebt, seine Schönheit heraus, er, sonst kein anderer, oder liebt ein Mann nur das Weib, das seinen unbewußtesten Schönheitsgesetzen nach schön ist?

Ist es nicht unglaublich, dachte er, wie gut Breite und Höhe und die Farbe des Hutes mit der Form ihres Kopfes, dem Teint ihres Antlitzes harmonieren?

»Allgemein gesprochen«, schloß er seine Ausführungen, »freut es mich, daß das Weib strebt, weil ich hoffe, daß der Mann dann um so mehr streben wird.«

»Wie oft gab es das«, ergriff Fräulein Schuhmacher das Thema wieder, »daß ein Mann wirklich und wahrhaftig als Freund, als Kamerad mit einer Frau lebte? Ich befürchte, nicht oft. Sprechen Sie heute als Weib mit einem Manne, und Sie werden fühlen, daß er Ihnen etwas verbirgt, daß er Ihnen etwas vorenthält von seiner Meinung, irgend etwas, das ich nicht sagen kann, ja, daß er sie gar nicht für ernst nimmt, Ihre Bemerkungen erst ausbaut, zur Höhe führt, und Ihnen dadurch beweist, wie wenig Sie berechtigt sind, sich an so etwas heranzuwagen. Ich empfinde das und bin betrübt deshalb. Und ich glaube, alle Frauen empfinden es. Dieses Lächeln der Überlegenheit hassen wir, weil wir merken, wie berechtigt es ist. Deshalb arbeiten wir, nur deshalb, wir wollen uns eine Gleichstellung mit dem Manne in jeder Hinsicht erringen.«

Dieses Zugeständnis aus dem Munde eines jungen Mädchens zu hören, machte Ginstermann einigermaßen verwundert. Hier war wirklich ein Weib, das den grundlosen Dünkel seines Geschlechts, sich für etwas Höheres zu halten, überwunden hatte.

Fräulein Schuhmacher blickte einem Falter nach, der über die Wiese gaukelte, dann fuhr sie fort: »Und die Gelehrten wollen wissen, daß das Weib nie konkurrenzfähig mit dem Manne werden könne. Welches Weib soll da nicht verzagen?«

O wozu sprechen, dachte Ginstermann. Wozu sprechen? Er war gekommen, lediglich, um neben ihr einherzugehen, das süße Gefühl ihrer Nähe zu empfinden, die Blumen am Wege anzusehen, die Schwalben in der Luft zu verfolgen. Wenn sie nun sprach, so hörte er nicht ihre Worte, nur ihre Stimme. Nie hatte er noch eine solche Stimme gehört. Das koste, ohne kosen zu wollen. Das war wie ein weicher, weicher Arm, der sich um den Nacken schlingt. Ihre Worte waren wie Teppiche, so weich, so sanft. Sie hat Elfenbein in ihrer Stimme, Elfenbein, sagte er jubelnd zu sich, als er das gefunden.

Andererseits aber war er ärgerlich, sich so passiv zu verhalten. Er, der sich nichts Herrlicheres wußte, als ein lebendiges Gespräch, er, der ewige Kampflustige, er, der um sich zu unterhalten, die Stühle seines Zimmer rings um sich stellte und mit ihnen konversierte.

Welch herrlicher Tag doch heute war! Wie? und welche Mühe es gekostet hatte, die Stunden zu vertreiben. Seit fünf Uhr morgens.

Ich werde mich bei ihr bis auf die Knochen blamieren, dachte er, und gleichzeitig, wie er sie neben sich gehen sah, die Harmonie ihrer Seele in den Augen, dem Antlitze, dem Gange, wenn man doch ihre Hand fassen könnte und ihr sagen: Sehen Sie es denn nicht?

Aber wozu das wiederum? Man mußte stets daran denken, daß man Proletarier und sie eine vornehme Dame war. Wozu also?

Sie konnten ihn mit glühenden Zangen zwicken, er würde doch nicht reden. »Vergessen Sie nicht, Fräulein Schuhmacher«, antwortete er ihr, »daß es sich in erster Linie absolut nicht um eine intellektuelle Ausbildung handelt, nicht darum auch, Kunstwerke zu schaffen, sondern um eine Steigerung und eine Verfeinerung der Empfindung. Wo bleiben da ihre famosen Gelehrten?«

Ein Lächeln strahlte aus ihren Augen. »O, ich weiß«, sagte sie, »man müßte ja sonst verzweifeln. Hierin sind unsere Fähigkeiten denen des Mannes gleich. Ja, vielleicht – ja vielleicht ...« Sie brach einen Zweig und roch an den Blättern.

Der Park war nun belebt. Zwischen den Büschen leuchteten die hellen Gewänder der Damen. Wagen und Radfahrer glitten die Straße dahin, als zöge sie ein rascher Strom. Man vernahm Plaudern und Lachen, gedämpft durch das Laub und die warme Luft, bald nah, bald ferne, bald schien es aus der Luft zu kommen, bald aus der Erde.

Ein Reiter überholte sie in flinkem Tempo. Es war Maler Ritt. Er wandte ihnen, indem er den Hut lüftete, sein Gesicht zu und verzog es zu einer indiskret lächelnden Grimasse. Es schien, als sei der Teufel in elegantem Reitdreß, geschniegelt und gebügelt an ihnen vorbeigeritten. Um ihnen seine Geschicklichkeit im Reiten zu zeigen, gab er dem Pferde die Sporen, so daß es unvermittelt in Galopp überging.

Eine Weile sprachen sie von ihm. Fräulein Schuhmacher gestand, wie ganz anders dieser Mann, dessen Bilder sie bewunderte, ja verehrte, in ihrer Vorstellung lebte, bevor sie ihn persönlich kennen lernte.

»Er ist mir sehr unsympathisch,« urteilte sie, »ja er widert mich an. Ich kenne ihn nicht, aber es steht fest, daß ich mich nicht in ihm täusche. Ich glaube nicht, daß er Charakter besitzt. Es gibt so wenig Menschen mit Charakter, finde ich, Frauen wie Männer. Die meisten haben die Seele einer Dirne, bei der es aus- und eingeht.«

Ginstermann dachte nicht mehr an die bunten Falter und Blumen, an die Schwalben da droben, er hörte zu.

»Ich kenne überhaupt nur einen Mann«, fuhr sie fort und blickte Ginstermann an: »Das ist mein Bruder.«

Und sie begann von ihrem Bruder zu erzählen, dessen Vorzüge im hellsten Lichte ihrer abgöttischen Schwesterliebe strahlten. Sie wurde nicht müde, ihn zu loben und schien gar nicht zu bemerken, daß ein Teil dieses Lobes auf sie selbst zurückfiel.

Ginstermann freute sich über diesen Beweis ihres Vertrauens und wußte sie durch Fragen zu veranlassen, fortzufahren. Der Ton, in dem sie seine Verdienste rühmte, war voll von aufrichtigster Verehrung, so daß er, eine kleinliche Eifersucht überwindend, schließlich dahin kam, diesen Beneidenswerten selbst zu verehren und zu lieben.

Nicht nur, daß er sich bis zu dem, was sie Charakter nannte, durchgerungen hatte, da war noch etwas anderes:

»Wenn ich ihm in die Augen sehe«, sagte sie, »so brauche ich nicht in Angst zu sein, seine Vergangenheit darin zu entdecken, dann er hat keine Vergangenheit.«

Das durchfuhr Ginstermann wie ein Stich. Er mußte an die Zeit denken, wo er sich betäubte, um nicht zu verzweifeln.

Seine Fröhlichkeit war wie fortgeblasen. – Er fühlte zwischen sich und dem Mädchen eine Mauer emporwachsen, die sie für alle Zeiten trennen würde.

Er war nahe daran, ihr zu sagen: Sehen Sie her! Sehen Sie mir in die Augen. Graut es Ihnen? O, wenn sie es nicht sehen, so will ich Ihnen sprechen davon, sprechen!

Und doch fand er nicht den Mut dazu, er war zu feige.

Der Himmel verdüsterte sich, und wie ein riesiges Schattenbild zog seine Vergangenheit langsam darüber.

Stumm schritten sie nebeneinander her. Sie mit Gedanken an ihren Bruder, er mit Gedanken an sich beschäftigt. Sie gingen voneinander entfernt.

Im Hintergrunde stampfte die große Maschine, die wippenden Zweige streuten Goldstaub auf den Weg.

Es war Ginstermann als peitschten sie seinen Rücken. – –

Nach einiger Zeit bat Fräulein Schuhmacher Ginstermann, dessen plötzliche Mißstimmung ihr auffallen mußte, ihr einiges über seine Arbeiten zu verraten.

»Es ist ihr gleichgültig, wer ich bin«, dachte dieser bitter, »sie geht nur mit mir, weil die Zeitungen von mir schreiben.«

»Was arbeiten Sie gegenwärtig. Ich interessiere mich dafür, es ist nicht Neugierde.«

Ginstermann blickte sie an und lächelte. Nein, es war nicht Neugierde. Das versöhnte ihn einigermaßen mit sich. Einerseits fühlte er sich in seiner Eitelkeit dadurch geschmeichelt, auf der anderen Seite tat es ihm ordentlich wohl, daß jemand von ihm wissen wollte.

Er fuhr fort zu lächeln und sagte: »O, das ist nicht so einfach zu sagen. Das ist sehr kompliziert alles. Jemandem das auseinandersetzen zu wollen –« Er räusperte sich.

Eine heiße Welle überflutete ihn. Nein, war das nicht sonderbar? Jemand wollte wissen, was er schrieb?

Sollte er ihr die Hände küssen?

Er dachte gar nicht mehr an vorhin. Er dachte nur das eine: Jemand intressiert sich für dich, Freundchen. Das tut einem armen Hunde ordentlich wohl, wenn jemand kommt und mit der Hand über ihn streicht, wie? Haha.

Und er begann zögernd Gedanken und Pläne auszukramen. Seine Hände bebten, er suchte ungeschickt nach den deckenden Ausdrücken, seine Lippen zitterten.

Es war auch das erste Mal, es war auch das erste Mal!

Schamhaftigkeit durchschauerte ihn, während er sie sachte in das Innerste seiner Seele führte und ihr all die Dinge zeigte, die noch keines Menschen Auge erblickt. Da gewahrte er wie reich er war, und Stolz erfüllte ihn.

Anfangs hing er allen Ideen einen Schleier über, der sie verallgemeinerte, dann ließ er, seine letzte Scham überwindend, die Schleier sinken und ließ ihr sein Innerstes nackt sehen, so bitter, so süß, so albern und verrückt es ihr auch erscheinen mochte.

Heiße Blutwellen durchliefen seinen Körper, er zitterte vor Erregung. Sein Antlitz, das er sonst beherrschte oder verstellte, lebte auf, Zug um Zug löste sich und diente zum Ausdruck. Es war, als sei er aus langjährigem Schlafe erwacht.

Er sprach mit leiser, eindringlicher Stimme, durch die Tränen fielen. Seine Seele pulsierte in seinen Worten.

Zum erstenmal vernahm er seine eigene, wirkliche Stimme!

Er nahm dazwischen den Hut ab, strich sich durch die Haare, er blieb stehen und zündete sich mechanisch eine Zigarette an. Oft hielt er den Schritt an und sah dem Mädchen in die Augen, immerzu sprechend. Seine Augen fieberten, er lachte und von all dem wußte er nichts.

Sie gingen denselben Weg immer hin und her. Wohl ein dutzendmal. Wie auf Kommando drehten sie am Ende immer um.

Fluten stiegen in ihm, quollen in ihm, brausten heraus. Er hatte tausend Hoffnungen, tausend Pläne.

»Ich will nicht auf den Trümmern kauern und schluchzen, wie die anderen alle, ich will aufbauen, neu aufbauen! Hier ist euer Weg, hier ist euer Ziel! Wacht auf, wacht auf, um der Menschheit willen! Fort mit Schlaf, fort mit Lüge!«

Er fand nicht Ende, nicht Anfang. Von jedem Gedanken liefen tausend Gänge zu tausend anderen. Alles was unbewußt in ihm geschlummert, brach ans Licht, reiste in dieser Stunde blitzschnell heran. Ein ungeheures Rad mit blitzenden Speichen schwang in ihm, angetrieben von einer unbekannten Kraft.

Eine Blüte fiel herab und blieb auf ihrer Schulter liegen, er nahm sie weg, ohne jeden Gedanken.

Und er baute weiter, immerzu, der Höhe entgegen. Alles, was ihm sonst unfaßbar gewesen, rückte in das Sehfeld seiner Erkenntnis. Mit beiden Händen konnte er wegwerfen, seiner Schätze wurden nicht weniger, es war wie ein Zauber.

Zuweilen fragte er sich zwischen all diesen Strömungen: wie kommt das? Wie ist das möglich? Bin ich sehend geworden? Und weshalb sage ich ihr das, gerade ihr? Weshalb reißt es mich hin, ihr den Fanatiker der Idee zu zeigen, der ich bin, nachdem sie mich jahrelang in Schweigen gehüllt?

Endlich hielt er inne. Seine Worte gehorchten nicht mehr, er brach in nervöses Lachen aus.

Fräulein Schuhmacher faste nach seiner Hand und drückte sie.

Sie gingen still nebeneinander her. Die Gedanken, die er gesprochen, umgaben sie wie eine sie begleitende Atmosphäre.

Sie kamen am Wasserfall vorüber und blieben stehen, das Bild und den toten Rhythmus des Tosens mit halben Sinnen genießend.

Auf einen Felsblock saß eine Dame und zeichnete. Sie hatte eine spitze abgeknickte Feder auf dem Hute und der übergeschlagene Fuß wippte unmerklich auf und ab. Ginstermann bemerkte das, so sonderbar es ihm auch erschien. Und während die Wellen in ihm noch weiterrauschten, dachte er: Hier sitzt immer jemand, der zeichnet, oder jemand der liest, oder einer, der verzweifelt nach einem Verse sucht.

Sie gingen weiter, und Fräulein Schuhmacher sagte nach langem Sinnen: »Wollen Sie mir nicht etwas aus Ihrem Leben erzählen, Herr Ginstermann?«

Das klang wie eine Bitte, die sie schüchtern vortrug und am liebsten wieder zurückgenommen hätte. Eine leise Röte stieg in ihre Wangen, sie beugte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel empor, den ihre Augen hell spiegelten.

»Von meinem Leben?« erwiderte Ginstermann und lachte kurz auf.

»Von Ihren Eltern, Ihren Geschwistern. Haben Sie Geschwister?«

»Ich habe weder Geschwister noch Eltern, Fräulein Schuhmacher.«

Sie blickte ihn an und war erstaunt, daß er heiter lächelte.

»Wie das?«

»Ich war noch nicht achtzehn Jahre, als man mir Urlaub für mein ganzes Leben gab. Ich hatte so etwas wie eine Dummheit begangen.«

Er lachte wieder, ganz vergnügt.

»Ich begreife das nicht.«

»Ich bin glücklich, wenn ich daran denke. Der Haß macht glücklich, Fräulein Schuhmacher.«

Pause.

Dann fuhr Ginstermann ganz von selbst fort:

»Ich komme einen dunklen Weg. Niemand könnte das fassen, selbst wenn man es ihm erzählen könnte. Niemanden kann man es erzählen. Man müßte keine Scham mehr haben. Ich habe das Bewußtsein, daß Tausende in dem schwarzen Sack stecken geblieben und nicht mehr ans Licht gekommen wären. Ich kann Ihnen nichts sagen. Nehmen wir an, ich sollte erzählen, ich schlich mich in die Ställe und stahl den Kühen die Rüben aus den Barren – so könnte ich höchstens sagen: dann und wann hat es mich auch gehungert. – – Hunger und Durst ist das wenigste. Mit dem Stolze eines Königs geboren zu sein und die Demütigung eines Bettlers ertragen zu müssen, ist schon schwerer. Aber bei all der Misere, Sehnsucht nach Glück und Licht und Liebe und all das Ungegorene mit sich schleppen zu müssen, das ist keine Kleinigkeit. Ich kann Ihnen nichts sagen, niemand sagt das. Es ist vorbei und heute lache ich darüber. Sie ahnen ja nicht, was alles an Herrlichem und Leuchtendem auf dem dunklen Sumpfe schwimmt. Im allgemeinen ist auch nichts dahinter. Es ist eine Vergünstigung des Schicksals. Was ist dabei, Tausende erleben dasselbe, es ist keine Tat. Man blickt ein bißchen ins Leben, sieht dem Schicksal etwas bei der Arbeit zu. Man lernt das eher begreifen, was andere später begreifen müssen. Der Mensch ist nichts, wird nichts. Mysterien walten über uns, wir nennen sie Schicksal. Schicksal ist alles. Das Schicksal hockt und lauert. Irgendwo hockt es und lauert.

Einer geht seine Straße und denkt, ich bin gefeit. Er geht sorglos. Andere sieht er fallen, er ist gefeit. Er geht sorglos. Aber hinter dem 121. Kilometerstein hockt sein Schicksal und lauert. Es haut ihn zusammen. – O, der Mensch ist ohnmächtig, das lernt man. Und für diese Ohnmacht möchte er sich rächen und deshalb ist er schlecht. Wir nennen es so. Aber das kümmert das Schicksal nicht.

Es zieht Furchen in den Sand, wie die Kinder, die spielen, und setzt die Menschen hinein: hier mußt du laufen, hier du. Es drückt ihm die Hirnschale ein, es reißt ihm einen Fuß aus. Er krabbelt weiter. Aber da kommt einer daher, dessen Weg den seinen kreuzt, der hat die Kunst gelernt, Hirnschalen zu flicken, Beine einzusetzen. Das nennt man Glück. Aber dieser Wunderdoktor kommt selten. – Und dabei all unsere Sehnsucht, unsere kindische, göttliche Sehnsucht – –! Glauben Sie nicht, daß das alles Unsinn ist, es ist manche Wahrheit darin.«

Er nahm eine neue Zigarette aus dem Etui und sagte lachend:

»Nun will ich Ihnen mal etwas Lustiges erzählen. Einmal war ich Erdarbeiter bei einem Bahnbau im Gebirge. Die Arbeit tat meinem Körper sehr gut, den Feierabend benutzte ich dazu, zu schreiben. Ich setzte mich in den Wald und schrieb. Oft schrieb ich in der Mittagspause, in glühender Sonne, während die anderen auf dem Gesichte lagen und schliefen. Des Nachts schrieb ich in der Baracke, in der über fünfzig Leute schliefen, bei einem Stumpen Licht. Ich mußte mich in acht nehmen, denn sonst setzte es Spott und Prügel. Es waren gute Kerle, trotzdem sie roh waren. Sie litten an Elend. Sie litten auch noch an etwas anderem. Deshalb betranken sie sich, deshalb fluchten sie, sie wußten es aber nicht. Sie hatten ein zottiges, irrsinniges Tier in sich, das immerzu im Kreise ging. Das war ihre Seele, ihre geschändete Seele. Einmal nun erwischten sie mein Buch. Es war ein dickes Notizbuch. Einer, ein dicker, runder Bursche mit dem Gesichte eines Metzgerhundes las es vor. Bei jedem Worte wieherte die Bande. In der Ecke da saß ein Schwindsüchtiger mit herabhängendem Chinesenbart, der machte aus jedem Worte eine Zote. Da kam nun einer im Buche vor, der denselben Vornamen hatte wie einer meiner Kollegen. Das gab Hallo. Und als etwas Abfälliges über ihn gesagt wurde, schrieen alle: Schlage ihn tot! Der, ein bärenhafter Kerl stieg über eine Kiste und schlug mich auf den Kopf, daß ich umfiel. Es war nur Scherz. Die anderen stießen mich herum wie einen Fußball. Natürlich nur Scherz. Schließlich wollten sie mein Buch zerreißen und es mir zum ‚Fressen‘ geben. Aber ein alter Arbeiter stand auf und sagte: Nein! Sonst nichts. Da warfen sie es mir ins Gesicht – ich habe noch heute die Schrammen unter dem Auge – und ich hatte es wieder. – Ist das nicht kostbar? Ich könnte Ihnen eine Menge solcher Geschichten erzählen.«

»Nein, bitte, nein, ich habe an dieser einen genug.«

Ginstermann erwiderte: »Sie haben recht, wozu auch immer schwätzen.«

»Ich höre Sie gerne erzählen, aber so bittere Geschichten machen mir keine Freude. Und von solchen Leuten –«

»Nein, sagen Sie nichts über diese Leute, Sie sollten sie kennen. Später da dichtete ich ihnen Lieder. Revolutionäre, sehnsüchtige. O, Sie hätten sie sehen und hören müssen, wenn sie sangen. Eine Seele waren sie, ein Haß, eine Klage. Es war, um in den Wald zu gehen und zu weinen.«

Er lächelte und fuhr in anderem Tone fort: »Nun habe ich noch eine Geschichte für Sie gefunden. Das war in Ungarn. Ich schrieb da in einem kleinen Bureau. Da lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hatte so gute Augen, daß ich es wagte, sie anzusprechen, als es niemand bemerken konnte. Dann mußte ich fort und sie erlaubte mir an dem und dem Tage an das Gitter ihres Gartens zu kommen, um ihr Adieu zu sagen. Ich kam. Es war bitter kalt. Sie hatte noch zwei Schwestern dabei, die ihr so ähnlich sahen, daß man sie für Abzüge einer gleichen photographischen Platte hätte halten mögen. Sie gab mir die Hand zum Gitter heraus. Dann ging sie zu den Schwestern zurück. Sie standen in einer Reihe auf einem Hügel. Und plötzlich zogen sie etwas aus der Tasche und drei goldene Bälle flogen durch die Luft. Orangen. Sie taten es mit der gleichen Bewegung und riefen dabei ein und dasselbe ungarische Wort. Ich verstand es nicht. Ich habe es auch vergessen und nur, wenn ich sehr heiter bin, so klingt es mir in den Ohren. Dieses ist mein schönstes Erlebnis.«

Fräulein Schuhmacher lächelte. »Es ist schön, so wie Sie es erlebten,« sagte sie. »Vielleicht finden Sie noch eines?«

»Nein, nein. Es ist genug. Wieviel habe ich heute nur gesprochen. Ich sprach in drei Jahren nicht soviel. Tatsache. Und das ist nicht richtig. Wir sollten stumm gehen und lauschen und sehen, sehen und lauschen, und uns über das herrliche Dasein freuen.«

»Finden Sie es so herrlich?«

»O ja, sehr.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nun nicht.«

»Wenn ich Ihnen erklären sollte, weshalb ich das Leben herrlich finde, so müßte ich Ihnen wiederum eine lange Rede halten, und das wollen wir nicht.«

»Ich bitte Sie darum.«

»Schön, wenn Sie es wollen. Nun ich meine, es gibt doch unzählige Freuden und Herrlichkeiten. Da gibt es schon ganz einfache Dinge. Z. B. ich stelle mir rot vor. Rot. Das ist herrlich. Oder ich mache die Augen auf und sehe irgend etwas. Diese Baumgruppe, dieses Kind dort auf dem Wege, eine Fliege. Ist das nicht schön? Man zirpt an eine Saite, und das ist schön. Ich spreche noch gar nicht von Musik, von Kunst! Man kann tausendfältig genießen, wenn man seine Sinne nicht verschließt. Alles wird Erlebnis, das Kleinste. Hier ist es ein schön gesprochenes Wort, da ein kluges Vogelköpfchen, und so fort. Und nun kommen erst die eigentlich seelischen, die aus den Beziehungen von Mensch zu Mensch entstehen. Sie gehen über die Straße – wozu Worte! Und dann ist es der Schmerz, die Sehnsucht, die Arbeit, die Freude und das Erwarten eines besonderen Glückes, ohne das niemand leben würde ...« – –

Der »große Tag« neigte sich seinem Ende zu.

Sie gingen nach Hause, durch die treibende, bunte Menge hindurch, die die Wege überflutete.

Sie sprachen nur noch weniges und hingen ihren Gedanken nach.

Ginstermann hätte gerne noch um ein Viertelstündchen gebeten, aber er befürchtete, ihre Güte zu mißbrauchen.

Auf der Straße zwischen den öden Häusern, inmitten des brutalen Lärmens des Verkehres, verwandelten sie sich beide in andere Menschen, als sie im Park, in der Sonne gewesen.

Fräulein Schuhmacher war wiederum die kühle, vornehme Dame, als die er sie kennen gelernt hatte.

Aber beim Abschiednehmen war sie liebenswürdig und herzlich wie während des Spazierganges.

»Ich werde Ihnen schreiben, wenn ich wieder kommen kann, nicht? Ist es Ihnen angenehm? Adieu, und seien Sie recht fleißig. Auf Wiedersehen!«

Sie schüttelte ihm die Hand und ging.

Ginstermann schritt langsam die Leopoldstraße hinauf, ganz langsam.

Was für einen Monat haben wir, meine Brüder? sagte er.

Wir haben Mai!!


Ginstermann ging nicht sogleich nach Hause.

Er kehrte in den Englischen Garten zurück und schritt langsam, den Hut in der Hand, dieselben Wege, die er mit ihr gegangen.

Die Sonne blitzte hinter der Stadt, die Wipfel der Bäume streckten sich ihrem erlöschenden Lichte entgegen. Dämmerung kam und schob die Leute den Ausgängen zu.

Jene auffallende Sicherheit und Ruhe, die Ginstermann während des Nachmittages erfüllte, fiel in dem Moment, wo er allein war, gleich einer Schleuse, und die Flut seiner Empfindungen ergoß sich mit dreifacher Wucht. Er saß inmitten der Stunden dieses Tages, und jede einzelne breitete ihre Herrlichkeiten vor ihm aus.

Er durchlebte nochmals jede einzelne Minute und das Erlebnis gewann an Schönheit und Tiefe, da seine Phantasie es verklärte und durchleuchtete. Jedes Wort, das Fräulein Schuhmacher gesprochen, klang in ihm wieder, so deutlich und lebendig, als spreche sie neben ihm. Ihre kurze Frage: wie das? wolle ihn nicht mehr verlassen. Sie ging neben ihm her. Schloß er die Augen, so leuchtete ihm ihr Gesicht entgegen, in jedem Ausdruck, den er zu sehen wünschte. Sie wandte ihm sachte die Augen zu, wenn er redete, sie lächelte, wenn er scherzte, sie kräuselte die Stirne, wenn er ein Paradoxon aussprach. Er entdeckte abermals, wie wesenhaft ihre Hände waren, wie schmal und gewölbt ihre rosigen Fingernägel, die kaum merkbare Asymmetrie ihrer Stirne.

Als er den Wiesenweg entlang schritt, den sie während seines Vortrages hin- und hergegangen, fand er Spuren ihrer Schirmspitze. Dies mutete ihn an wie eine reale Hinterlassenschaft.

Hier sagte sie dies und jenes, ein gelber Falter schaukelte über die Wiese, ein roter Sonnenschirm wanderte dort hinter den Büschen. Er wußte jede Einzelheit ganz genau.

Heute war der Tag seiner Wiedergeburt. Er hatte einen Menschen kennen gelernt, er hatte sich einem Menschen zu erkennen gegeben, das war das große Ereignis.

Eines nur war bitter. Jene Erkenntnis, daß ein Abgrund sie trennte.

»Wenn ich ihm in die Augen sehe, so brauche ich nicht zu befürchten, seine Vergangenheit darin zu entdecken, denn er hat keine Vergangenheit.«

Welch unerschütterlich herrlicher Glaube lag in ihrem Tone und welch grausige Abneigung vor dem Menschen, bei dem sie dies zu befürchten hatte.

Ein Schleier war gesunken, und er hatte eine Sekunde ihre Seele gesehen. Mit Furcht und Bangen. –

Müde vom Laufen und Sinnen, steuerte er endlich seiner Wohnung zu.

Durch die Straßen hauchte ein schwüler lautlos böser Wind, Bangen in den Herzen der Menschen erweckend. Die Sterne flackerten wie Kerzen, über die ein Luftzug streicht. Eine dunkle Wolkendecke schob sich über die Residenz, die Erde darunter zu ersticken.

Bei Bildhauer Kapelli war noch Licht.

Ginstermann schob den Kopf zur Türspalte hinein und sagte guten Abend.

Die beiden Leutchen saßen aneinandergeschmiegt auf dem Sofa, eine niedergebrannte Kerze vor sich auf dem Tische.

»Kommen Sie doch herein,« sagten sie mit vom Glücke schwermütiger Stimme.

Er trat ein und saß eine Weile, den Hut im Nacken, bei ihnen und scherzte mit gedämpfter Stimme, obschon kein eigentlicher Grund zum Leisesprechen da war.

Die Augen von Frau Trud erschienen wie blaue Flämmchen, die hinter Gaze brennen.

»Mai, Juni, Juli,« sagte sie, ungewöhnlich lächelnd. Sie sann vor sich hin, dann warf sie den Kopf zurück, damit ihr nicht die Tränen aus den Augen fielen, und lächelte wieder.

Ihr Gesichtchen war verklärt durch mädchenhafte Schamhaftigkeit und das Mysterium, das sich in ihrem Schoße vollzog, durchschauerte ihr ganzes Wesen.

Sie hatte ihren blonden kleinen Kopf, um den goldene Funken sprangen, an den ihres Gatten gelehnt und Kapellis grauer Haarbüschel hing über ihre Schläfe. Ihre Lippen waren rot, wie geschminkt, und Ginstermann fiel es auf, daß sie eine Schleife von genau der gleichen Farbe trug.

Sie atmeten alle beide in gleichen Zügen.

Ginstermann hörte auf zu scherzen und mit der Andacht vor dem Gefühle, das diese beiden Menschen zu einem gewandelt, zog eine schmerzlich-süße Sehnsucht nach einem Zustande in sein Herz, dem er keinen Namen zu geben vermochte.

Er schwieg schließlich ganz und nur sein Mund lächelte noch.

Alle drei sahen sie in die Flamme auf dem Tische, als sähen sie die Bilder ihrer Träume darin.

An den Fenstern knisterte es wie von feinem Sande, den eine Hand dagegen warf.

Ginstermann flüsterte.

»Bianka,« flüsterte er.

Er erschrak und sah auf. Aber die beiden hatten nichts gehört.

Er ging.

Aus dem Zimmer der Malerin von Sacken drang lautes Sprechen und Lachen. Er erkannte Maler Ritts Stimme. Etwas verwundert über die neue sonderbare Freundschaft trat er in sein Zimmer.

Der Wind lag auf dem Boden und sprang an ihm empor, als er die Türe öffnete.

Da begann es in der Ferne zu grollen, und dumpf rollte der Donner über die aufhorchende Stadt.

Ginstermann sagte: »Das ist mein Schicksal!«

Er sagte es mit unterdrücktem Jauchzen in der Stimme.

Er lehnte sich gegen die Türe, den Kopf in den Nacken gebeugt, immer noch das Lächeln von vorhin auf den Lippen.


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