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XIII.

Am Tage darauf trafen sie sich wieder, Bianka und Ginstermann.

Sie trafen sich nun beinahe jeden Tag.

Es waren herrliche Sonnentage. Der Vormittag noch frisch von der Kühle der Nacht, der Nachmittag von einer alles durchdringenden Wärme, gerade noch erträglich, der Abend von einer stillstehenden Schwüle, die der Nachtfrische wie ein Block trotzte. Der Himmel wie ein weiches blauflimmerndes Meer, durch das schneeweiße Wolken segelten, langsam, ohne Aufhören, rings um die Erde herum.

Auf den Straßen war es leer, Pflaster und Gebäude warfen die Glut der Sonne verstärkt zurück. Die Menschen gingen ermattet, die Augen zusammengezogen; die Pferde setzten im Halbschlaf ihren müden Trab fort, wunderliche Schattenflecke unter ihren Schritten zerschlagend.

Im Englischen Garten war es schön wie im Paradies. Alles blühte, was noch nicht ausgeblüht hatte, die Wipfel waren von strotzender Fülle, die Wiesen standen am höchsten, bunt wie ein Teppich, übersät von einem Heere Falter und Bienen. Die Hitze tanzte über den Wegen, die hellen Kleider der Frauen und Kinder leuchteten weithin, in der Vorstellung Jauchzen und helle Lieder erweckend.

Bianka und Ginstermann gingen meist vereinsamte Wege. Sie mochten die vielen Leute nicht, die herumtollenden Kinder. Im Schatten der Büsche schritten sie, umsurrt von tausend Insekten, das Schwatzen des Tages in der Ferne. Waren sie müde, so suchten sie eine abgelegene Bank auf, die Ginstermann »Zum schlafenden Brahmanen« getauft hatte.

Nachdem sie sich ausgesprochen hatten über das, was sie Probleme, Fragen, letzte Dinge nannten, drehten sich ihre Gespräche zumeist um ihre persönlichen Erlebnisse und Wünsche.

Je mehr Ginstermann Bianka kennen lernte, um so mehr bewunderte er sie. Sie war so rein, so keusch, wie ein Weib nur sein kann, das Erziehung und Selbstüberwachung vor unreinen Dingen bewahrte. Ihre krankhafte Scheu vermied es, die Motive der menschlichen Handlungen bis an die Wurzeln zu verfolgen.

Alles verklärte sich in ihren Augen, sie trug noch ein Ideal vom Menschen in sich. Die Menschen waren für sie gefallene Engel, die man bemitleiden müsse, nicht Tiere, die sich zum Menschen emporgerungen. Sie hatte noch wenig erlebt, wünschte auch nicht, viel zu erleben, in der Furcht, ihre Unberührtheit und Selbständigkeit zu gefährden. Sie gehörte nicht zur Klasse der Frauen, die mit ihren Eroberungen großtut, sie schien es sogar unangenehm zu empfinden, wenn einer sie tiefer, als die Höflichkeit es erheischt, grüßte, wenn einer sich nach ihr umwendete oder ihr folgte.

Ihr Urteil war schüchtern, anspruchslos, ihre Verwirrung oft kindlich. Sie maßte sich nicht an, wie es Frauenart ist, mit einer Handbewegung das Resultat einer Kulturarbeit abzuurteilen, mit einem Lächeln zu verspotten.

Ginstermann fühlte sich in ihrer Nähe ruhig, gleichsam geborgen. Er vergaß die Kämpfe der letzten Tage, die Jahre, die hinter ihm lagen. Seiner geistigen Überlegenheit war er sich wohl bewußt, ebenso aber auch seiner seelischen Verstümmelung und Zerrissenheit im Gegensatze zu ihrer Harmonie und zielbewußten Energie.

Bianka schenkte ihm Vertrauen, behandelte ihn mit zurückhaltender Herzlichkeit, wie einen Freund, nahezu wie einen Freund. Ihr Benehmen tat ihm wohl. Es gab ihm seinen Glauben zurück, der da und dort wankend geworden war, ein neuer Stolz kam über ihn. Etwas von ihrem Wesen strömte in ihn über, glühte die Schlacke in ihm aus, er wurde rein, indem er Biankas Freundschaft genoß.

Seine Anschauungen festeten sich, nachdem er den Maßstab reguliert hatte, der sich während seiner Einsiedlerzeit verzerrte. Es war wunderbar, zuweilen hatte er Augenblicke, die ihm alle Dinge in momentaner Bewegungslosigkeit zeigten, bis ins Innerste und Geheimste erkennbar. Und es hatte nur dieses kleinen Anstoßes bedurft. Gleichsam wie ein Gefäß eisigen Wassers, das schon die Kristalle birgt, ein unmerkliches Rütteln zur Erstarrung bringt.

Ihr Benehmen war Tag für Tag das gleiche. Sie empfing ihn freundlich, entließ ihn mit einem freundlichen Wort, führte kleine Wortkriege mit ihm in ganz objektivem Tone, lachte und scherzte. Nie, daß sie ihn durch eine Bemerkung, eine Miene von sich gedrängt hätte, nie, daß eine Laune, ein Verletzttun in ihm die Ahnung hätte aufkeimen lassen, daß er Macht über sie besitze.

Er bewegte sich in stets gleichem Abstande um sie. Es war, als habe sie einen Kreis um sich gezogen, den sie im Verkehr mit ihm nie überschritt und nie überschreiten ließ.

Einmal allerdings ereignete sich etwas, das diese seine Anschauung für Minuten ins Wanken brachte.

Sie promenierten im Park, Weg hin, Weg her, als sie einer kleinen schmalen Frau begegneten, die ein niedliches Mädchen in blendend weißem Kleide an der Hand führte. Die kleine, mädchenhafte Frau blickte sie erschrocken, ja entsetzt an mit blauen, blindglänzenden Augen und wandte nicht den Blick von ihnen. Das Mädchen streckte glucksend und lallend die Hände nach Ginstermann aus. Es war die Comptoiristin, die Witwe des Möbelzeichners.

Ginstermann grüßte und ging, von einer Erregung gepackt, weiter. Da fühlte er den Blick Biankas auf sich gerichtet. Sie war totenbleich, und ihre Augen verrieten Schmerz und Angst. Aber nur einen Augenblick, dann beherrschte sie sich. Und als Ginstermann ihr die Geschichte dieses unglücklichen Weibes erzählt hatte, ergriff sie impulsiv seine Hand und sagte: »Verzeihen Sie mir, ich habe Sie in Gedanken beleidigt.« –

In seinen freien Stunden trieb sich Ginstermann ruhelos umher, Bianka vor Augen, in Bianka lebend. Nahte die Zeit ihrer Zusammenkunft heran, so wurde er ruhiger, trennte er sich von ihr, so krochen aus allen Winkeln seiner Wesenheit die alten Gespenster hervor, um ihn zu martern.

Einst war Bianka verhindert zu kommen. Das war ein schlimmer Tag, das war ein schlimmer Tag! Und das Billett, das er am nächsten Morgen erhielt, bedeckte er mit Tränen der Freude.

Aber natürlich, wenn Sie Besuch haben, natürlich! – rief er immerzu aus.

Da war ein Mann, der schlich des Nachts scheu wie ein Verbrecher zu einem Hause da draußen. Wie auf einer Woge von Blüten thronte es. Und er koste die Klinke der Türe. Niemand darf es wissen, niemand!

Da war ein Mann, der saß Nächte durch auf einem Hügel, drei Stunden entfernt von der Stadt. Und dieser Mann sprach: Dort über den Bergen bist Du nun, Geliebte! Meine Gedanken wandern zu dir über die Berge. Meine Seele breitet die Schwingen, siehe, in ihren hohlen Händen ist Blut, Geliebte! Das ist das Blut meines Herzens, Geliebte. Schläfst du? Hast du auf sie gewartet mit der bittren Last? Wachst du, Geliebte? Da, zwischen dir und mir, da ist eine Wiese, dort begegnen wir uns des Nachts und bringen einander Sehnen und Tränen des Tages, Geliebte –

Niemand darf es wissen, niemand!

Da ist ein Mann, der sitzt auf einer einsamen Bank im Park. Ein Vogel flötet im Gebüsch. Und dieser Mann spricht mit jemandem, der nicht da ist. Du hättest es sehen müssen, Beste, sahst du’s mir nicht an den Augen an. O, was fieberte ich, nun ist es vorbei, Beste, nun ist ja alles gut.

Niemand darf es wissen, niemand! –

Zuweilen jedoch überfiel ihn ein Zustand vollkommenster Gleichgültigkeit.

Es kam ihm unsinnig vor, daß er jenes Mädchen im Englischen Garten spazieren führte, daß er sich überhaupt durch sie aus dem Gleichgewichte hatte bringen lassen. Weshalb liebst du sie eigentlich, fragte er sich. Sie ist hübsch, ihre Sprache ist melodisch, ihr Gang ist aristokratisch, das alles hat dich bestochen. Ihre weißen Elfenbeinhände mit. Aber ist sie auch die, die du in ihr anbetest? Ist es nicht das Ideal des Weibes überhaupt, das du dir gebildet hast, was du in ihr anbetest? Sie ist es gar nicht. Deine Liebe gilt ihr gar nicht. Vielleicht einer in Australien, irgendwo. Und das, was du rein an ihr nennst, keusch, was ist das eigentlich? Es ist Indolenz, sonst nichts. Oder was sollte es sonst sein? Mit Fischblut in den Adern hat man es leicht, sich rein zu halten, mein Freund. Und dieses hübsche, elegante Mädchen hat dich bezwungen? Was bist du nun? Du bist zum Objekt geworden, o, Schmach über dich! Groß warst du einst und ein Herrlicher in deiner Einsamkeit. Lache doch über dich, wenn du nicht ehrlich genug bist, um über dich zu weinen. Was war dein Ziel? Herrschen will ich und sie alle zu meinen Füßen wissen. O, mein Held, mein tapfrer, kühner Held! Heil dir! –

So dachte er auch einst, als er neben Bianka ging. Und diese Anschauung gab ihm ein Lachen, ein kurzes höhnisches Lachen. Da zuckte sie zusammen. Er war unglücklich, ihr wehe getan zu haben und maskierte sein Benehmen so gut als es ging. –

Diese Stimmungen waren nur von kurzer Dauer. Dann überfiel ihn wieder jene namenlose Sehnsucht und Qual, die wie lohende Flammen über ihm zusammenschlug und ihn verbrannte.

Er bat sie um etwas Liebe, nur etwas Liebe sollte sie ihm geben, für all seine Glut nur einen kleinen winzigen Tropfen.

Keinen winzigen Tropfen? Keinen winzigen Tropfen?

Es war hart für einen Mann seines Stolzes, so demütig zu lieben!

Wieder und wieder träumte er von einem Glücke, das nie werden würde. Sie lebten in einem Hause abseits der Straße. Er kannte es ganz genau, dieses Haus, das Gärtchen davor, alles. O, in diesem Hause lebten glückliche Leute. Alle nichtssagenden Details, alle harmlosen Kleinigkeiten eines Lebens zu zweien durchlebte er. Er lag des Nachts neben ihr auf dem Lager und koste sachte die Haare der Schlafenden. Er schlich sich fort, um Mohn zu holen, den sie so sehr liebte, und legte ihn ihr auf die Decke, damit sie ihn beim Erwachen finde. Er löste ihr die Schuhe und küßte in Demut ihren Fuß. Er saß mit ihr auf dem Rasen und las vor, was er geschrieben hatte.

So oft es anging, versuchte er Fräulein Scholl zu treffen. Sie hatte dreimal in der Woche Violinstunde, das war sehr günstig. Er wartete auf sie, schwätzte mit ihr, ausschließlich von dem Verlangen beseelt, irgend etwas von Bianka zu hören, einige Worte sprechen zu können über sie, ihren Namen von den Lippen der Freundin zu vernehmen.

Einmal traf er im Hausflur ein Kind, ein Mädchen, schmächtig, zart, mit blonden Haaren und klaren Augen, die denen Biankas glichen.

»Wie heißt Du?« fragte er die Kleine, bemüht, sie für sich zu stimmen.

»Camilla.«

Könntest du nicht Bianka sein, dachte er. Bianka ein Kind und ich ein Kind, und wir beide Gespielen. Unsere Gärten, die stießen zusammen und im Zaun da wäre ein Loch. Wir schlüpften hin und her, zwitscherten zusammen wie Vögelein.

Und dann – und dann – –

Weshalb war das Leben so grausam, so geizig mit seinen Freuden, so karg. All das dachte er, während er bei dem Kinde kniete.

»Nun wollen wir uns etwas kaufen«, sagte er zu ihm und lächelte. »Komm!«

Dieses Kind liebte er. Weil es Biankas klare Augen hatte, Augen ohne Grund, von einer Tiefe, aus der es flüsterte, die alles in sich hineinzog.

Camilla wohnte in seinem Hause, das war gut. Er schmeichelte sich mit Süßigkeiten und Märchen ein bei dem Kinde, so daß es schließlich von selbst auf sein Zimmer kam.

Sie nannte ihn »Onkel Ginster«.

»Ich heiße Henri«, sagte er zu ihr. »Du sollst Henri sagen. Du sollst auch du zu mir sagen, ganz als ob ich ein kleiner Bub wäre.«

»Ari«, sagte sie.

»So sage Heiner. Ich heiße auch Heiner.«

»Heiner, ach ja, Heiner!«

Stundenlang hielt er die Kleine auf dem Schoß, dieses zarte, warme Körperchen an sich schmiegend. Er erzählte immerzu Geschichten.

Das waren ganz einfache, drollige Kindergeschichten, aber für einen, der sie verstand, waren sie mehr, weit mehr.

Er küßte die Kleine. »Du bist ein Dieb!« rief es in ihm. Aber er küßte sie doch. Einmal in der Dämmerung, als er in Träumen versunken war, sprach er vor sich hin, jedes Wort stellte sich von selbst ein: »Beide Hände wollte ich gierig voller Edelsteine halten und alle rieselten sie mir durch die Finger. Du als der schönste bist mir geblieben. Kind, Kind, wenn du wüßtest, wie ich deine Mutter liebte – Kind –«

Da wurde er sich der Worte bewußt, er sprang auf und stellte Camilla hart auf den Boden.

»Bist du böse, Heiner?«

Er lächelte. »Nein, Süße, Heiner ist nicht böse – Heiner ist – Heiner ist – o, geh heute, Schätzlein – morgen, gelt. Heiner ist heute – geh, Schätzlein« – –

Bianka ahnte von all dem nichts. Wie sollte sie auch? In ihrer Nähe war er ruhig, beherrscht. Und gesprochen hatte er noch keine Silbe, woraus sie es hätte entnehmen können.

Er gehörte zur Klasse jener Menschen, die innerlich verbluten und doch lächelnd sagen: ich verspüre nichts.

Er erinnerte sich daran, daß er als Knabe am längsten seinen Finger über eine brennende Kerze gehalten, wenn sie »Spartaner« spielten, oder daß er jeden im »indischen Duell«, wie sie die Austragung ihrer Ehrenhändel nannten, besiegte, weil keiner drei Tropfen glühenden Siegellacks ohne Zucken der Hand ertrug.

Er wußte, er würde schweigen und wenn er sich die Energie an den Gehirnwänden abschaben müßte.

Er hatte nicht das Recht, ihr von seiner Liebe zu reden, weil er nicht mehr rein war.

Diese fortwährenden Seelenkämpfe drückten seinem Gesicht ihre Spuren auf. Er war bleich, um seinen Mund zuckte ein krampfhaft schmerzliches Lächeln. Seine Augen waren größer geworden – so schien es ihm – ein düsteres Feuer brannte auf ihrem Grunde. Sah er sich im Spiegel, so war es ihm, als blicke ihn ein Fremder an, einer, der unheimliche Dinge in seinen Augen hatte.

Die Menschen mit den heißen Herzen, schrieb er in sein Tagebuch, sind nicht gut daran. Alle Menschen wollen sie lieben und von allen Menschen geliebt werden. Wer aber liebt sie?


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